Verfahrensgang
LG Dortmund (Urteil vom 29.12.2003) |
Tenor
1. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Dortmund vom 29. Dezember 2003 in den Strafaussprüchen aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehenden Revisionen werden verworfen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten K. wegen schweren Raubes in Tateinheit mit Freiheitsberaubung und gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten, den Angeklagten B. wegen schweren Raubes in Tateinheit mit Freiheitsberaubung, gefährlicher Körperverletzung und vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis ebenfalls zu fünf Jahren und sechs Monaten und den Angeklagten G. wegen schweren Raubes in Tateinheit mit Freiheitsberaubung zu fünf Jahren und vier Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Mit ihren Revisionen rügen die Angeklagten die Verletzung sachlichen Rechts; der Angeklagte K. beanstandet zudem das Verfahren.
Die Rechtsmittel führen auf die Sachrügen zur Aufhebung der Strafaussprüche; im übrigen sind sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
Die Begründung, mit welcher die Strafkammer im Rahmen der Strafzumessung das Vorliegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung nach Artikel 6 Abs. 1 Satz 1 MRK verneint hat, begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
Den Urteilsfeststellungen ist folgender Verfahrensgang zu entnehmen:
Die Angeklagten erlangten am 30. Mai 2001, dem Tattag, bzw. am 26./27. Juni 2001 Kenntnis von dem gegen sie in diesem Verfahren erhobenen Tatvorwurf (UA 33/41). Am 25. Oktober 2001 erhob die Staatsanwaltschaft Siegen, bei der das Ermittlungsverfahren damals geführt wurde, wegen gemeinschaftlich begangenen schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung Anklage gegen die drei Angeklagten sowie gegen den gesondert verfolgten Waldemar Ke. zum Landgericht Siegen. Nachdem dieses Landgericht die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen Waldemar Ke. am 14. November 2001 abgelehnt hatte, wurde – ersichtlich nach Rücknahme der Anklage im übrigen – das Verfahren gegen die mittlerweile aus mehrmonatiger Untersuchungshaft entlassenen Angeklagten an die „nunmehr zuständige” Staatsanwaltschaft Dortmund abgegeben. Diese erhob am 7. Januar 2002 wegen des selben Tatvorwurfs Anklage zum Landgericht Dortmund. Am 17. Januar 2002 leitete der Vorsitzende der Strafkammer die Anklage mit den Akten an die Staatsanwaltschaft zurück unter Hinweis auf eine „unzureichende Würdigung des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen”. Am 14. April 2003 erhob die Staatsanwaltschaft in dieser Sache eine neue Anklage zum Landgericht Dortmund, wobei sie die Tatbeteiligung des Angeklagten B. abweichend würdigte, bezüglich der beiden anderen Angeklagten jedoch am ursprünglichen Tatvorwurf festhielt (UA 46/47). Zwischen Rückgabe der Akten an die Staatsanwaltschaft im Januar 2002 und der Einreichung der neuen Anklageschrift im April 2003 sind nach den Darlegungen im Urteil mit Ausnahme der Überarbeitung der Anklageschrift keine das Verfahren fördernden Maßnahmen seitens der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts ergriffen worden (UA 78).
Entgegen der Auffassung des Landgerichts (UA 78/79) stellt die zwischen der Rückgabe der Akten an die Staatsanwaltschaft Dortmund und der Einreichung der neuen Anklageschrift liegende Zeit eine im Sinne des Artikel 6 Abs. 1 Satz 1 MRK bei der Strafzumessung zu Gunsten der Angeklagten zu berücksichtigende unangemessene Verzögerung des Verfahrens dar. Die in diesem Zeitraum ausschließlich erfolgte Überarbeitung der Anklageschrift vermag den Stillstand des Verfahrens für die Dauer von einem Jahr und drei Monaten nicht zu rechtfertigen. Soweit die Strafkammer darauf hinweist, die Staatsanwaltschaft sei während dieses Zeitraums mit der Bearbeitung anderer, insbesondere vordringlicherer Haftsachen befaßt gewesen, verkennt sie, daß nach ständiger Rechtsprechung – unabhängig davon, ob ein Verfahren gegen einen inhaftierten oder einen nicht inhaftierten Angeklagten geführt wird (vgl. BGH NStZ 2003, 384) – lediglich ein vorübergehender Engpaß in der Arbeits- und Verhandlungskapazität der Strafverfolgungsorgane nicht zu einem Verstoß gegen Artikel 6 Abs. 1 Satz 1 MRK führt (vgl. BGH StV 1992, 452; BGH NStZ 1996, 506; EGMR NJW 1984, 2749, 2750). Ein solcher Fall liegt hier ersichtlich nicht vor.
Soweit die Strafkammer darauf abstellt, die vorübergehende Untätigkeit führe jedenfalls im Hinblick auf die wegen der Schwere der Tatvorwürfe insgesamt angemessene Gesamtdauer des Verfahrens nicht zu einem Verstoß gegen Artikel 6 Abs. 1 Satz 1 MRK, läßt sie bei der gebotenen Gesamtwürdigung (vgl. BGH NStZ 2003, 384 m.w.N.) außer acht, daß nach dem im Urteil dargestellten Verfahrensgang die Ermittlungen bereits im Zeitpunkt der Erhebung der ersten Anklage durch die Staatsanwaltschaft Siegen am 25. Oktober 2001 – mithin schon ca. fünf Monate nach Begehung der Tat – abgeschlossen waren. Sie läßt ferner unberücksichtigt, daß auch der Zuständigkeitswechsel der Ermittlungsbehörden zu einer Verfahrensverzögerung führte, die nicht von den Angeklagten zu vertreten war. Hieran gemessen verletzt die festgestellte, allein von den Justizorganen zu vertretende Untätigkeit von jedenfalls einem Jahr und drei Monaten das Recht der Angeklagten auf Verhandlung und Entscheidung des Verfahrens binnen angemessener Frist.
Das Landgericht hat zwar zugunsten der Angeklagten im Rahmen der Strafzumessung berücksichtigt, daß zwischen Tat und erstinstanzlichem Urteil zwei Jahre und sieben Monate verstrichen sind, die Angeklagten sich nach ihrer Haftentlassung im wesentlichen wieder sozial integriert haben und die Angeklagten K. und G. überdies durch Meldeauflagen im Haftverschonungsbeschluß belastet waren. Gleichwohl kann der Senat nicht ausschließen, daß sich die rechtsfehlerhafte Ablehnung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung bei der Strafzumessung zu Lasten der Angeklagten ausgewirkt hat. Der neue Tatrichter wird diesem Umstand durch eine spezielle Strafzumessung Rechnung zu tragen haben, in der das Maß der hierfür zugebilligten Kompensation bestimmt wird (vgl. BGHSt 45, 308, 309).
Da es sich lediglich um einen Wertungsfehler handelt, können die der Strafzumessung zugrunde liegenden, rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen aufrecht erhalten werden. Ergänzende Feststellungen sind, soweit sie den bisherigen Feststellungen nicht zuwider laufen, zulässig.
Unterschriften
Tepperwien, Maatz, Kuckein, Athing, Sost-Scheible
Fundstellen
Haufe-Index 2558071 |
wistra 2005, 34 |
NStZ-RR 2006, 67 |
SVR 2005, 275 |
SVR 2006, 56 |
StraFo 2005, 24 |
www.judicialis.de 2004 |