Entscheidungsstichwort (Thema)

Anspruch der Witwe auf Gewährung einer Hinterbliebenenrente

 

Leitsatz (amtlich)

Wird ein an sich statthaftes und rechtzeitig eingelegtes Rechtsmittel gegen ein Urteil nach Ablauf der Rechtsmittelfrist verworfen, so tritt die Rechtskraft des Urteils im Sinne von § 705 ZPO mit der Rechtskraft der Verwerfungsentscheidung ein.

 

Normenkette

ZPO § 705; AVG §§ 42, 41

 

Tenor

Wird ein an sich statthaftes und rechtzeitig eingelegtes Rechtsmittel gegen ein Urteil nach Ablauf der Rechtsmittelfrist verworfen, so tritt die Rechtskraft des Urteils im Sinne von § 705 ZPO mit der Rechtskraft der Verwerfungsentscheidung ein.

 

Gründe

I

Im Ausgangsverfahren ist umstritten, ob der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin) eine Hinterbliebenenrente aus der Rentenversicherung der Angestellten zusteht.

Die Ehe der Klägerin mit dem am 6. September 1973 verstorbenen Versicherten wurde durch Urteil des Landgerichts (LG) Essen vom 20. Juli 1972, insoweit bestätigt durch Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Hamm vom 17. Mai 1973, geschieden; die von der Klägerin innerhalb der Revisionsfrist eingelegte Revision hat der Bundesgerichtshof (BGH) durch Beschluß vom 5. Dezember 1973 (veröffentlicht NJW 1974, 368 = FamRZ 1974, 129) mit der Begründung verworfen, mangels Zulassung findet die Revision nach § 547 Zivilprozeßordnung (ZPO) in der damaligen Fassung vom 19. August 1969 nur statt, insoweit es sich um die Zulässigkeit der Berufung handele; die Klägerin habe weder geltend gemacht noch geltend machen kennen, daß die Berufung des Versicherten nicht zulässig gewesen sei. Auf dem Urteil des OLG ist von der Geschäftsstelle vermerkt, die Rechtskraft sei am 17. Juli 1983 (Ablauf der Revisionsfrist) eingetreten.

Einen Antrag der Klägerin auf Gewährung einer Hinterbliebenenrente nach § 42 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) - sog. Geschiedenenwitwenrente - lehnte die Beklagte und Revisionsbeklagte (Beklagte) ab. Die hiergegen erhobene Klage hatte vor dem Sozialgericht (SG) keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat nach einem entsprechenden Hinweis die Beklagte zur Gewährung einer "normalen" Witwenrente (§ 41 AVG) verurteilt (Urteil vom 5. Februar 1982, veröffentlicht FamRZ 1982, 1037). Es hat seine Entscheidung damit begründet, daß die Klägerin die Witwe des Versicherten sei; da der BGH die Revision erst nach dem Tod des Versicherten verworfen habe, sei das Scheidungsurteil nicht vor diesem Zeitpunkt rechtskräftig und wirksam geworden.

Der 11. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) möchte die Revision der Beklagten zurückweisen, sieht sich daran jedoch durch den Beschluß des I. Senats des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 14. Juli 1971 - I R 127, 154/70 - (BFHE 103, 36 = BStBl II 1971, 805 = JZ 1972, 36) gehindert. In diesem Beschluß habe der BFH rechtserheblich entschieden, daß eine Entscheidung bei Verwerfung des an sich statthaften und fristgerecht eingelegten Rechtsmittels bereits mit dem Ablauf der Rechtsmittelfrist, wenn das Rechtsmittel schon in diesem Zeitpunkt unzulässig gewesen sei, sonst mit dem späteren Eintritt des Zulässigkeitsmangels rechtskräftig werde. Demgegenüber ist der 11. Senat des BSG der Ansicht, daß in solchen Fällen die formelle Rechtskraft eines Urteils erst mit der Rechtskraft der Verwerfungsentscheidung eintrete. Er hat deshalb dem Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmS) die Frage vorgelegt:

Tritt die Rechtskraft eines Urteils i.S. des § 705 ZPO, wenn das an sich statthafte und rechtzeitig eingelegte Rechtsmittel als unzulässig verworfen wird, mit dem Ablauf der Rechtsmittelfrist oder erst mit der Rechtskraft der Verwerfungsentscheidung ein?

Der GmS hat Stellungnahmen der obersten Gerichtshöfe des Bundes, des Generalbundesanwalts beim BGH (GBA), des Oberbundesanwalts beim Bundesverwaltungsgericht - BVerwG - (OBA), des Bundesdisziplinaranwalts und des Bundeswehrdisziplinaranwalts erbeten und den Beteiligten des Ausgangsverfahrens Gelegenheit zur Äußerung gegeben.

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) und das BVerwG haben mitgeteilt, daß sie über die streitige Rechtsfrage bisher nicht entschieden hätten und daß damit zusammenhängende Rechtsfragen nicht zur Entscheidung anstünden. Die anderen obersten Gerichtshöfe haben auf ihre bisherige Rechtsprechung verwiesen; der IV. Senat des BFH hat zusätzlich mitgeteilt, daß ihm die streitige Rechtsfrage noch nicht zur Entscheidung vorgelegen habe, er aber die Ansicht des I. Senats des BFH teile. Der GBA hält die Ansicht des BSG für zutreffend. Der OBA, der Bundesdisziplinaranwalt und der Bundeswehrdisziplinaranwalt haben Äußerungen zur Sache nicht abgegeben. Die Klägerin und die Beklagte haben auf ihr Vorbringen im Ausgangsverfahren verwiesen und ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.

II

Die Vorlage ist nach § 2 Abs. 1 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (RsprEinhG) in der sich aus dem Entscheidungssatz ergebenden Fassung zulässig.

Der Zulässigkeit der Vortrage steht nicht entgegen, daß der I. Senat des BFH über die Wirksamkeit einer Klagerücknahme nach § 72 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO) zu entscheiden hatte, während es bei der vom 11. Senat des BSG zu treffenden Entscheidung darüber, ob die Voraussetzungen des § 41 AVG erfüllt sind, darauf ankommt, wann ein mit der Revision angefochtenes Scheidungsurteil rechtskräftig geworden ist. In beiden Fällen hängt die Entscheidung von der Beantwortung derselben Rechtsfrage, nämlich der des Eintritts der formellen Rechtskraft, ab. Diese Frage ist für die Bereiche der FGO und der ZPO in gleicher Weise zu beantworten.

Eine Divergenz besteht allerdings nur insofern, als nach Ansicht des 11. Senats des BSG die Rechtskraft einer fristgerecht mit einem an sich zulässigen Rechtsmittel angefochtenen Entscheidung stets erst mit der Rechtskraft der Verwerfungsentscheidung eintritt. Denn der I. Senat des BFH hat offengelassen, ob der Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft auch dann mit dem Ablauf der Rechtsmittelfrist zusammenfällt, wenn sich der Zulässigkeitsmangel erst später ergeben hat. Die Vorlagefrage, in der diese vom BFH erwogene Differenzierung nicht getroffen wird, war daher entsprechend zu begrenzen.

Der 11. Senat des BSG brauchte auch nicht im Hinblick auf das Urteil des 8. Senats des BSG vom 19. Mai 1978 (BSGE 46, 187) nach § 2 Abs. 2 RsprEinhG statt des GmS den Großen Senat des BSG anzurufen. Denn wenn auch in diesem Urteil unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BFH ausgeführt ist, daß ein mit einer später verworfenen Nichtzulassungsbeschwerde angegriffenes Urteil mit dem Ablauf der Revisionsfrist rechtskräftig geworden sei, so gehören diese Ausführungen doch nicht zu den tragenden Gründen der getroffenen Entscheidung; darauf, ob das Berufungsurteil erst nach dem Ablauf der Revisionsfrist rechtskräftig geworden war, kam es im damaligen Verfahren nicht an.

Die Entscheidung im Ausgangsverfahren hängt auch von der Beantwortung der Vorlagefrage ab. Ist das Urteil des OLG erst mit der Rechtskraft des Verwerfungsbeschlusses rechtskräftig geworden, so ist die Ehe erst durch den Tod des Versicherten aufgelöst worden; die Klägerin hat dann nach § 41 AVG Anspruch auf Witwenrente, so daß die Revision der Beklagten zurückzuweisen ist. Ist die Ehe dagegen schon früher aufgelöst worden, so war die Klägerin z.Zt. des Todes des Versicherten dessen frühere Ehefrau; es bedarf dann einer Zurück-Verweisung an die Tatsacheninstanz zur Prüfung der weiteren Voraussetzungen des § 42 AVG, zu denen das LSG keine Feststellungen getroffen hat.

In der Sache ist der GmS zu dem Ergebnis gelangt, daß bei Verwerfung eines an sich statthaften und rechtzeitig eingelegten Rechtsmittels die Rechtskraft eines Urteils i.S. des § 705 ZPO erst mit der Rechtskraft der Verwerfungsentscheidung eintritt. Dabei ist unter einem an sich statthaften Rechtsmittel ein solches zu verstehen, das ohne Rücksicht auf besondere Zulässigkeitsvoraussetzungen gegeben ist; in § 554a Abs. 1 Satz 1 ZPO wird dieser Begriff offensichtlich in einem anderen Sinne gebraucht.

Den Vorschriften der ZPO ist eine unmittelbare Antwort auf die gestellte Frage nicht zu entnehmen. Nach § 705 Satz 1 ZPO tritt die Rechtskraft vor Ablauf der für die Einlegung des zulässigen Rechtsmittels oder des zulässigen Einspruchs bestimmten Frist nicht ein. Damit ist der Eintritt der Rechtskraft auch dort bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist hinausgeschoben, wo ein Rechtsmittel zwar an sich gegeben, seine Zulässigkeit aber an im konkreten Falle fehlende besondere Voraussetzungen wie etwa eine Zulassung oder die Erreichung einer Rechtsmittelsumme geknüpft ist (BGHZ 4, 294). Das deutet darauf hin, daß nach der Vorstellung des Gesetzgebers die Rechtskraft nicht eintreten soll, solange nicht das Verfahren durch ungenutztes Verstreichen der Rechtsmittelfrist, Rechtsmittelverzichte oder eine nicht mehr anfechtbare Entscheidung Über ein an sich gegebenes Rechtsmittel zum Abschluß gekommen ist. In die gleiche Richtung mag auch die Vorschrift des § 705 Satz 2 ZPO weisen, wonach der Eintritt der Rechtskraft durch die Einlegung des Rechtsmittels gehemmt wird, ohne daß dabei freilich über den Zeitpunkt des Rechtskrafteintritts ausdrücklich etwas gesagt ist. Ob aus diesen und anderen Vorschriften des 8. Buches der ZPO, insbesondere der des § 706 Abs. 2 Satz 1 ZPO, sowie dem § 19 EGZPO bereits mit hinreichender Sicherheit gefolgert werden kann, daß die Rechtskraft eines mit einem an sich zulässigen und fristgerecht eingelegten Rechtsmittel angefochtenen Urteils erst mit der Rechtskraft der Verwerfungsentscheidung eintritt, kann indessen dahinstehen, weil sich aus neueren, weitgehend wörtlich übereinstimmenden Regelungen außerhalb der ZPO ergibt, daß der Gesetzgeber von einer Anschauung ausgegangen ist, die dieser Beantwortung der Vorlagefrage entspricht.

Nach den §§ 132 Abs. 3 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), 160a Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG), 115 Abs. 3 Satz 1 FGO, 72a Abs. 1 Satz 1 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG), 220 Abs. 1 Satz 1 Bundesgesetz zur Entschädigung der Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (BEG) kann die Nichtzulassung der Revision, nach § 74 Abs. 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) die Nichtzulassung der Rechtsbeschwerde selbständig durch Beschwerde, in den Fällen des § 220 Abs. 1 BEG durch sofortige Beschwerde, in den Fällen des § 74 Abs. 1 GWB durch Nichtzulassungsbeschwerde, angefochten werden. Für diese im wesentlichen einheitlich ausgestalteten Rechtsmittel hat sich in der Praxis allgemein die Bezeichnung Nichtzulassungsbeschwerde durchgesetzt. Nach den einschlägigen Vorschriften der verschiedenen Verfahrensordnungen hemmt die Einlegung der Beschwerde die Rechtskraft und hat damit aufschiebende Wirkung (vgl. § 160a Abs. 3 SGG, § 132 Abs. 4 VwGO, § 115 Abs. 4 FGO, § 72a Abs. 4 Satz 1 ArbGG, § 220 Abs. 2 BEG). Wird der Nichtzulassungsbeschwerde nicht stattgegeben, so wird nach den §§ 132 Abs. 5 Satz 3 VwGO, 115 Abs. 5 Satz 3 FGO, 160a Abs. 4 Satz 4 SGG mit der Ablehnung, nach den §§ 74 Abs. 5 Satz 1 GWB, 220 Abs. 3 BEG, 72 a Abs. 5 Satz 6 ArbGG mit der Zustellung der ablehnenden Entscheidung die angegriffene Entscheidung rechtskräftig.

Gerade die letztgenannten Regelungen Über den Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft sind für die Beantwortung der Vorlagefrage bedeutsam. Die einzelnen Verfahrensordnungen bestimmen bei Ablehnung der Zulassung den Zeitpunkt der Rechtskraft derjenigen Entscheidung, deren Anfechtung durch die Nichtzulassungsbeschwerde ermöglicht werden soll, nach einem einheitlichen Merkmal. Dabei unterscheiden die Gesetze nicht, ob die Nichtzulassungsbeschwerde - z.B. mangels Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung - unzulässig oder - z.B. wegen Fehlens des Zulassungsgrundes - unbegründet ist. Dieser rechtspolitischen Entscheidung des Gesetzgebers kommt eine über den jeweiligen Regelungszusammenhang hinausgehende Tragweite zu. Die Vorschriften zeigen, daß es in der Tendenz des Gesetzgebers liegt, die Rechtskraft einer Entscheidung im Interesse der Rechtssicherheit von einem einheitlichen, leicht bestimmbaren zeitlichen Bezugsmerkmal abhängig zu machen. Dies aber steht im Gegensatz zum Beschluß in BFHE 103, 42. Denn in dessen Konsequenz würde es liegen, den Zeitpunkt der Rechtskraft eines Urteils auch bei erfolgloser Nichtzulassungsbeschwerde unterschiedlich festzulegen, je nachdem, ob die Nichtzulassungsbeschwerde unzulässig oder unbegründet war. Außerdem müßte bei folgerichtiger Weiterführung des Gedankens des BFH bei unzulässiger Nichtzulassungsbeschwerde zusätzlich noch danach unterschieden werden, auf welchem Ereignis die Unzulässigkeit jeweils beruhte. Angesichts der Regelungen Über die Nichtzulassungsbeschwerde besteht für derartige Differenzierungen kein zwingender Grund.

Das Verfahren ist kostenfrei; außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten (§ 17 RsprEinhG).

 

Unterschriften

Pfeiffer

Wannagat

Sendler

Kissel

Klein

Dr. Buss

Meßmer

Woerner

Dr. Zimmer

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1456484

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