Verfahrensgang
LG Berlin (Urteil vom 27.06.2011) |
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 27. Juni 2011 nach § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Hiergegen richtet sich die mit der Sachrüge geführte und auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Revision des Angeklagten. Sie führt zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.
Rz. 2
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts litt der Angeklagte im frühen Pubertätsstadium an depressiven Verstimmungen. Im Alter von 15 Jahren mündeten sie in eine massive Angst vor HIV- bzw. Bakterieninfektionen ein. Aus Sorge, er könne absichtlich angesteckt werden, versuchte er sich in dieser Zeit zu erhängen. 2004 lernte er das Tatopfer K. kennen. Die Zwangssymptomatik verstärkte sich. Der Angeklagte war den ganzen Tag mit Waschen, Duschen, Aufräumen und Desinfizieren beschäftigt, weswegen er kaum mehr aus dem Haus ging. Bemühungen um therapeutische Hilfe schlugen fehl, weil er wegen der befürchteten Infektionsgefahr keine Verkehrsmittel benutzen wollte. Trotz aus der Erkrankung resultierender Partnerschaftsschwierigkeiten wurde im Oktober 2008 eine gemeinsame Tochter geboren. 2009 trennte sich das Paar. Gleichwohl hielt sich der Angeklagte tagsüber und oft auch nachts im Einverständnis mit Frau K. in deren Wohnung auf und kümmerte sich um die gemeinsame Tochter.
Rz. 3
Ende 2009 ging Frau K. eine neue Beziehung ein, die sie vor dem Angeklagten aus Angst vor Streitigkeiten ebenso verheimlichte wie ihre in der zweiten Hälfte des Jahres 2010 gefasste Absicht, mit der gemeinsamen Tochter zum neuen Partner nach Bamberg zu ziehen. Der Angeklagte vermutete jedoch, dass Frau K. einen neuen Partner hatte. Er fürchtete, dass sie ihm seine Tochter wegnehmen würde. Im Spätsommer 2010 kam es deswegen zu einer körperlichen Auseinandersetzung, bei der Frau K. Hämatome erlitt.
Rz. 4
Zwischen Frau K. und dem Angeklagten war vereinbart, den 24. Dezember 2010 gemeinsam zu feiern. Tatsächlich wollte sie aber an diesem Tag mit der Tochter zu ihrem Lebensgefährten fahren. Am 23. Dezember 2010 gegen 15.50 Uhr informierte sie den Angeklagten darüber. Der Angeklagte versuchte, Frau K. umzustimmen, was ihm aber nicht gelang. Mit weinerlicher Stimme bettelte er „Hör auf, hör auf”. Aus einer „Mischung von Enttäuschung, Verzweiflung und Wut auf K., die ihm – zumindest für Weihnachten 2010 – seine Tochter entziehen und was er unter allen Umständen verhindern wollte” (UA S. 6), entnahm er der Küchenschublade ein Messer mit einer Klingenlänge von 20 cm und stach in Tötungsabsicht wiederholt so wuchtig auf sie ein, dass die Klinge beim Aufkommen auf Knochen verbog. Dies geschah in Anwesenheit der Tochter, die weinend „Mama, Papa” rief. Neben zwei Schnittverletzungen am Kopf und am rechten Handgelenk brachte er Frau K. insgesamt acht, zum Teil tiefgehende Stichverletzungen bei. Der aus der Wohnung ins Treppenhaus fliehenden, schon tödlich verletzten Frau versetzte er noch einen heftigen Stich in den Rücken, wo das Messer stecken blieb. Sie verstarb nach wenigen Minuten.
Rz. 5
Der Angeklagte rannte nun durch das Treppenhaus nach unten und rief „Ihr Schweine, rufen Sie Polizei oder Krankenwagen” bzw. „Ihr Schweine, ruft die Polizei”. Dann lief er in einen im Erdgeschoss gelegenen Friseursalon, wo er eine Angestellte mit den Worten „Rufen Sie bitte die 112, den Notarzt, sonst stirbt der mir da oben jetzt” ansprach. Dann lief er zurück in die Wohnung, verschloss die Tür, zog sein blutverschmiertes T-Shirt aus und tröstete die Tochter.
Rz. 6
Gegen 16.10 Uhr trafen Polizeibeamte ein. Der Angeklagte öffnete ihnen mit unbekleidetem Oberkörper und dem Kind auf dem Arm die Wohnungstür. Er übergab auf Aufforderung die Tochter und ließ sich widerstandslos festnehmen. Nach der Festnahme machte er einen apathischen Eindruck. Er saß mit angezogenen Beinen auf einem Stuhl, um nicht mit den Füßen den schmutzigen Boden berühren zu müssen. Die Polizeibeamten zogen deshalb eine Fachärztin für Psychiatrie hinzu, die in ihrer vorläufigen Bewertung eine Zwangserkrankung diagnostizierte und zur vorläufigen Auffassung gelangte, dass möglicherweise die Schuldfähigkeit ausgeschlossen gewesen sei.
Rz. 7
2. Die Schwurgerichtskammer ist davon ausgegangen, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten aufgrund einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung im Sinne des § 20 StGB erheblich vermindert gewesen sei (§ 21 StGB). Der Defektzustand sei ausgelöst worden, weil der Angeklagte mit dem zumindest länger währenden Verlust seiner Tochter konfrontiert worden und über die gebrochene Vereinbarung enttäuscht gewesen sei. Begünstigt worden sei der Affektdurchbruch durch seine krankheitsbedingte Instabilität. „Über die durch seine Zwangserkrankung, die rechtlich unter dem Terminus der anderen seelischen Abartigkeit zu subsumieren” sei, „konstellierte persönliche und charakterliche Instabilität hinaus” sei „diese psychische Deformation” jedoch „in keiner Weise begründend”; sie habe „daher für die Frage tatbezogener Gründe für §§ 20/21 StGB keine weitere Bedeutung” (UA S. 11). Eine Aufhebung der Schuldfähigkeit hat das Landgericht im Hinblick auf von ihr angenommenes situationsgerechtes Verhalten des Angeklagten vor, während und nach der Tat ausgeschlossen.
Rz. 8
3. Die Beschränkung der Revision auf den Rechtsfolgenausspruch ist unwirksam, weil der Schuldspruch und der Rechtsfolgenausspruch hier so miteinander verknüpft sind, dass eine getrennte Überprüfung der Rechtsfolgenentscheidung nicht möglich ist, ohne dass der nicht angefochtene Schuldspruch mitberührt wird. Denn das Urteil enthält keine rechtsfehlerfreie Begründung für die Annahme einer erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit des Angeklagten; auf der Grundlage des angefochtenen Urteils lässt sich nicht völlig ausschließen, dass der Angeklagte zur Tatzeit schuldunfähig war (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Januar 2001 – 2 StR 500/00, BGHSt 46, 257, 259).
Rz. 9
4. Die Schuldfähigkeitsprüfung des Landgerichts hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
Rz. 10
a) Rechtsfehlerhaft beschränkt sich das sachverständig beratene Landgericht auf die bloße Mitteilung einer – überdies nicht näher bestimmten und in ihren Auswirkungen nicht im Einzelnen beschriebenen – Zwangserkrankung des Angeklagten, deren Einordnung unter das Merkmal der (schweren) anderen seelischen Abartigkeit und einer gleichwohl anzunehmenden weitgehenden Irrelevanz des Defekts für die Schuldfähigkeit. Die Grundlagen, an die diese Schlussfolgerungen des Gutachters und – dem folgend – die Schwurgerichtskammer anknüpfen, sind damit nicht in einer für die revisionsgerichtliche Überprüfung ausreichenden Weise dargetan. Dies gilt umso mehr, als das Zusammenwirken mehrerer Beeinträchtigungen stets eine besonders sorgfältige Gesamtwürdigung ihrer Auswirkungen auf das seelische Gefüge des Täters erfordert (vgl. BGH, Urteil vom 6. März 1986 – 4 StR 40/86, BGHSt 34, 22, 26; Beschluss vom 9. April 1991 – 4 StR 120/91, BGHR StGB § 20 Ursachen, mehrere 2). Daran fehlt es im angefochtenen Urteil völlig.
Rz. 11
Dass die Zwangsstörung des Angeklagten ohne maßgebenden Einfluss auf dessen Steuerungsfähigkeit geblieben ist, versteht sich hier auch nicht etwa von selbst. Eine durch die Krankheit bedingte „Instabilität” erachtet das Landgericht als den Impulsdurchbruch begünstigenden Umstand. Darüber hinaus konnte der Angeklagte nach den Feststellungen seit längerer Zeit kaum noch die Wohnung verlassen und kümmerte sich hauptsächlich um die gemeinsame Tochter. Vor diesem Hintergrund liegt nahe, dass die schon naturgegebene Angst um den Verlust der Tochter krankheitsbedingt ein noch erheblich stärkeres Gewicht gewann. Dafür könnte auch sprechen, dass es schon im Vorfeld der Tat in demselben Zusammenhang zu körperlichen Auseinandersetzungen mit der Geschädigten gekommen war.
Rz. 12
b) Ferner erscheinen einige der durch das Landgericht gegen eine völlige Aufhebung der Schuldfähigkeit angeführten Indizien allenfalls von eingeschränktem Gewicht. Das gilt etwa für das Holen des Messers aus der Küchenschublade und – schon angesichts der Vielzahl und Wucht sowie der nicht durch Sicherungstendenzen geprägten Fortführung der Tat im Treppenhaus – für das Stechen in empfindliche Körperregionen. Entsprechend liegt es bei der Rückkehr zum Kind und dem Ausziehen des blutverschmierten T-Shirts. Soweit das Landgericht schließlich maßgebend Äußerungen des Angeklagten („Ihr Schweine”, „sonst stirbt der mir da jetzt”) im Sinne einer Ablenkung von seiner Täterschaft bzw. von der Identität des Opfers interpretiert hat, vermag dies nicht ohne weiteres einzuleuchten. Angesichts der Beweislage und des sonstigen Verhaltens des Angeklagten, das ersichtlich nicht auf eine Verdeckung seiner Tat ausgerichtet war, erscheinen die genannten Äußerungen auf der Basis der Urteilsgründe, die eine etwaige Einlassung des Angeklagten zu diesem Punkt nicht mitteilen, vielmehr ohne Sinn.
Rz. 13
c) Der neu entscheidende Tatrichter wird die erforderliche eingehende Würdigung nachzuholen haben und sich auch mit der Frage zu befassen haben, ob die Voraussetzungen des § 63 StGB gegeben sind. Dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, stünde einer Anordnung der Maßregel nicht entgegen (§ 358 Abs. 2 Satz 3 StPO).
Rz. 14
d) Der Senat hebt die Feststellungen insgesamt auf, um dem neuen Tatrichter eine stimmige Gesamtbewertung zu ermöglichen.
Rz. 15
5. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
Rz. 16
a) Das Landgericht hat dem Angeklagten bei der Prüfung eines minder schweren Falles nach der 2. Alternative des § 213 StGB und der Strafzumessung im engeren Sinn angelastet, die Tat sei aus objektiv nichtigem Anlass und vor den Augen der Tochter begangen worden. Dies begegnet durchgreifenden Bedenken. Abgesehen davon, dass der dem Angeklagten drohende Verlust seiner Tochter unter den hier gegebenen Umständen kaum als nichtiger Anlass bewertet werden kann, wäre ein Missverhältnis zwischen Anlass und Tat gerade Kennzeichen von Affekttaten (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Juli 2011 – 5 StR 246/11) und dürfte daher bei der Strafzumessung allenfalls nach dem Maß der verminderten Schuld herangezogen werden (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Oktober 2002 – 5 StR 365/02, NStZ-RR 2003, 104, 105; st. Rspr.). Entsprechendes gilt für den Gesichtspunkt der Tatbegehung im Beisein der Tochter.
Rz. 17
b) Fälle wie der Vorliegende sind für Verfahrensabsprachen nach § 257c StPO nicht geeignet (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Juni 2011 – 5 StR 226/11, StraFo 2011, 355).
Unterschriften
Raum, Brause, Schaal, König, Bellay
Fundstellen
Haufe-Index 2910761 |
NStZ-RR 2012, 140 |