Entscheidungsstichwort (Thema)
sexueller Missbrauch von Kindern
Verfahrensgang
LG Saarbrücken (Urteil vom 30.09.2010) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 30. September 2010 im Ausspruch über die Anordnung der Sicherungsverwahrung mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Tatbestand
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 46 Fällen und wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in sechs Fällen, davon in vier Fällen jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt. Ferner hat es die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung angeordnet.
Rz. 2
Die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt, hat mit der Sachrüge den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg hinsichtlich des Maßregelausspruchs; im Übrigen ist sie, wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift vom 5. April 2011 zutreffend dargelegt hat, unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
I.
Rz. 3
1. Nach den Feststellungen der Strafkammer kam es im Zeitraum zwischen Januar 2002 und September 2009 in insgesamt 52 Fällen in der Wohnung des Angeklagten, in der seiner Schwester und im Führerhaus des vom Angeklagten gefahrenen Lastkraftwagens zu sexuellen Handlungen unterschiedlicher Intensität zum Nachteil seiner beiden Nichten sowie zum Nachteil von zwei weiteren Mädchen und zwei Jungen aus seinem Bekannten- und Freundeskreis, die im Tatzeitraum zwischen vier und elf Jahre alt waren. Der im Jahr 2002 wegen vergleichbarer Taten zu einer Bewährungsstrafe verurteilte, im damaligen wie im vorliegenden Fall umfassend geständige Angeklagte berührte die Mädchen jeweils oberhalb und unterhalb der Kleidung im Scheidenbereich mit der Hand und dem Mund, wobei eines der Mädchen zusätzlich seinen erigierten Penis anfassen musste. Gegenüber den Jungen kam es zu Manipulationen an deren entblößten Genitalien, die er in einigen Fällen auch in seinen Mund nahm.
Rz. 4
2. Gegen den Angeklagten sei, so das Landgericht, Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit § 66 Abs. 2 StGB a.F. anzuordnen. Er habe über einen Zeitraum von über zehn Jahren hinweg einschlägige Taten nach einem im Kern immer gleichen Muster begangen und dabei das bei den Geschädigten und deren Eltern gewonnene Vertrauen zur Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse ausgenutzt. Bei der Beurteilung des konkreten Rückfallrisikos – das vom Sachverständigen für vergleichbare Fälle mit 50 % angegebene statistische Rückfallrisiko habe keine ausschlaggebende Bedeutung gehabt – seien die Zugehörigkeit der Tatopfer zum Familien- und Freundeskreis des Angeklagten und die Tatsache zu berücksichtigen, dass sich der Angeklagte auch durch eine einschlägige Bewährungsstrafe von der Begehung neuer Taten nicht habe abhalten lassen. Therapiemöglichkeiten mit dem Ziel der Verhaltensänderung habe er nicht wahrgenommen, so dass ein Rückfall in das vorhandene eingeschliffene Verhaltensmuster zu erwarten sei. Im Rahmen des nach § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB a.F. eingeräumten Ermessens sei der Wille des Gesetzgebers zu berücksichtigen, unter Beachtung des ultima-ratio-Charakters der Maßregel einen angemessenen Schutz der Allgemeinheit vor gefährlichen Intensivtätern zu gewährleisten. Dass dem Angeklagten für den Fall einer Therapie nach Einschätzung des Sachverständigen eine günstige Prognose gestellt werden könne, sei unbeachtlich, da für die Gefährlichkeitsprognose der Zeitpunkt der Aburteilung maßgebend sei.
Entscheidungsgründe
II.
Diese Ausführungen begegnen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
Rz. 5
1. Die auf § 66 Abs. 2, 3 Satz 2 StGB a.F. gestützte Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung, deren formelle Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind, liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Tatrichters. Die Urteilsgründe müssen nachvollziehbar erkennen lassen, dass und aus welchen Gründen von der Ermessensbefugnis Gebrauch gemacht wurde (Senatsbeschluss vom 4. Januar 1994 – 4 StR 718/93, BGHR StGB § 66 Abs. 2 Ermessensentscheidung 5 m.w.N.). Dabei müssen erkennbar auch diejenigen Umstände erwogen werden, die gegen die Anordnung der Maßregel sprechen können. Das gilt vor allem für den gesetzgeberischen Zweck der Vorschrift, wonach das Tatgericht die Möglichkeit haben soll, sich ungeachtet der festgestellten Gefährlichkeit des Täters zum Zeitpunkt der Urteilsfällung auf die Verhängung einer Freiheitsstrafe zu beschränken, sofern erwartet werden kann, dass sich dieser die Strafe hinreichend zu Warnung dienen lässt. Damit soll dem Ausnahmecharakter der Vorschrift Rechnung getragen werden, der sich daraus ergibt, dass § 66 Abs. 2 StGB a.F. eine frühere Verurteilung und eine frühere Strafverbüßung nicht voraussetzt. Die Wirkungen eines langjährigen Strafvollzugs sowie die mit dem Fortschreiten des Lebensalters erfahrungsgemäß eintretenden Haltungsänderungen sind deshalb wichtige Kriterien, die nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Rahmen der Ermessensentscheidung regelmäßig zu berücksichtigen sind (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschluss vom 4. August 2009 – 1 StR 300/09, NStZ 2010, 270, 271 f. m.w.N.). Die gilt für § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB a.F. entsprechend (BGH, Beschluss vom 5. April 2011 – 3 StR 12/11).
Rz. 6
2. Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Das Landgericht hat die schon allein mit dem Vollzug der verhängten langjährigen Freiheitsstrafe verbundenen Auswirkungen auf den jetzt 45 Jahre alten Angeklagten bei der Ausübung seines Ermessens rechtsfehlerhaft unerörtert gelassen. Die Erwägung, dass der Angeklagte in der Vergangenheit die Gelegenheit zur therapeutischen Aufarbeitung seiner Problematik ungenutzt gelassen hat, ein Umstand, den die Strafkammer als Beleg für seine fortbestehende Gefährlichkeit anführt, der indes nach dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe auch die Ermessensausübung beeinflusst haben kann, erweist sich in diesem Zusammenhang als nicht tragfähig. Die Strafkammer hat sich damit nicht nur den Blick auf mögliche, mit dem fortschreitenden Lebensalter einhergehende Verhaltensänderungen beim Angeklagten verstellt, sondern auch darauf, dass sich nunmehr durch den erstmaligen Vollzug einer längeren Freiheitsstrafe die Möglichkeit einer langfristigen Therapie bietet. Gerade im Hinblick auf den erwähnten Ausnahmecharakter der §§ 66 Abs. 2, Abs. 3 Satz 2 StGB a.F. wäre dies vor dem Hintergrund der vom Sachverständigen gestellten positiven Therapieprognose als ein wesentlicher, im vorliegenden Fall gegen die Anordnung der Maßregel sprechender Gesichtspunkt eingehend zu erörtern gewesen. Diese Erörterung wird die zu neuer Entscheidung berufene Strafkammer mit sachverständiger Hilfe nachzuholen haben.
III.
Für die erneute Verhandlung und Entscheidung weist der Senat auf Folgendes hin:
Rz. 7
1. § 66 StGB ist vom Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 4. Mai 2011 (2 BVR 2365/09 u.a.) für mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG unvereinbar erklärt worden. Daher ist § 66 StGB bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, längstens bis zum 31. Mai 2013, nur nach Maßgabe der vom Bundesverfassungsgericht erlassenen Weitergeltungsanordnung anzuwenden. Die weitere Anwendung des § 66 StGB in der Übergangszeit hat nach Maßgabe der Nummer III. 1. in Verbindung mit Nummer II. 1. b) des Tenors des angeführten Urteils zu erfolgen; für diesen Fall fordert das Bundesverfassungsgericht gemäß C. III. 2. a) der Gründe (Rn. 172) eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die Anforderungen an die Gefahrprognose und die gefährdeten Rechtsgüter. In der Regel wird der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur unter der Voraussetzung gewahrt sein, dass eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist.
Rz. 8
2. Nach diesem Maßstab wird die neu zur Entscheidung berufene Strafkammer die Voraussetzungen des § 66 StGB zu prüfen und – soweit es eine Anordnung nach § 66 Abs. 2 oder Abs. 3 Satz 2 StGB erwägt – auch das dem Tatrichter dort eingeräumte Ermessen auszuüben haben. Angesichts des vom Sachverständigen als „moderat bis hoch” eingeschätzten und damit der mittleren Risikokategorie zuzuordnenden Rückfallrisikos bei vier von zwölf möglichen Punkten in der Risikoeinstufung nach dem sog. Static 99 – Verfahren (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 30. März 2010 – 3 StR 69/10, StV 2010, 484) wird dies einer besonders sorgfältigen Begründung bedürfen.
Unterschriften
Ernemann, Franke, Mutzbauer, Bender, Quentin
Fundstellen