Verfahrensgang
LG Deggendorf (Urteil vom 04.03.2011) |
Tenor
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Deggendorf vom 4. März 2011 wird als unbegründet verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die den Nebenklägerinnen im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes, sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit sexueller Nötigung, und wegen Nötigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Dagegen richtet sich die Revision des Angeklagten mit der Sachrüge und einer Verfahrensrüge; die Schriftsätze der Verteidigung vom 22. und 24. August 2011 haben dem Senat bei der Beratung vorgelegen. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.
Rz. 2
Die sachlich-rechtliche Nachprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO). Ohne Erfolg bleibt auch die Beanstandung, das Landgericht habe gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz (vgl. § 250 StPO) verstoßen, weil es Bild-Ton-Aufnahmen von Zeugenvernehmungen verwertet habe, die allein aufgrund einer Verfügung des Strafkammervorsitzenden, aber ohne gerichtlichen Beschluss, gemäß § 255a Abs. 2 Satz 1 StPO vorgeführt worden seien.
Rz. 3
1. Der Verfahrensrüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde: Von der ermittlungsrichterlichen Vernehmung mehrerer kindlicher Zeugen waren gemäß § 58a Abs. 1, § 168e StPO Bild-Ton-Aufzeichnungen angefertigt worden. Der Angeklagte und sein Verteidiger hatten an den Vernehmungen mitgewirkt. In der Hauptverhandlung erhoben der Angeklagte, der Verteidiger, die Staatsanwältin und der Nebenklagevertreter gegen die Einführung dieser Bild-Ton-Aufzeichnungen in die Hauptverhandlung durch Vorführung keine Einwände. Die Vorführung (§ 255a Abs. 2 Satz 1 StPO) erfolgte dann auf die Verfügung des Vorsitzenden gemäß § 238 Abs. 1 StPO hin; ein Gerichtsbeschluss hierzu wurde weder beantragt noch getroffen. Eine ergänzende Vernehmung der Zeugen, deren ermittlungsrichterliche Vernehmung abgespielt worden war, fand nicht statt.
Rz. 4
2. Die Rüge ist jedenfalls unbegründet, weil die Verwertung der in der Hauptverhandlung abgespielten Videoaufzeichnungen der ermittlungsrichterlichen Vernehmungen zulässig war. Für die Vorführung der Aufzeichnungen war gemäß § 255a Abs. 2 Satz 1 StPO kein förmlicher Gerichtsbeschluss erforderlich; es genügte die Anordnung des Vorsitzenden im Rahmen seiner Verhandlungsleitung nach § 238 Abs. 1 StPO.
Rz. 5
a) Eine ausdrückliche Regelung, in den Fällen des § 255a Abs. 2 StPO die Vorführung von Bild-Ton-Aufnahmen von der Anordnung durch Gerichtsbeschluss abhängig zu machen, enthält die Strafprozessordnung nicht. Vielmehr fehlt es in § 255a Abs. 2 StPO im Unterschied zu § 255a Abs. 1 StPO gerade an einer Verweisung auf die Vorschrift des § 251 Abs. 4 StPO, die für die Verlesung von Vernehmungsniederschriften eine Anordnung durch Gerichtsbeschluss verlangt. Für ein Redaktionsversehen des Gesetzgebers bestehen keine Anhaltspunkte. Es verbleibt deshalb bei dem allgemeinen Grundsatz, dass Anordnungen zur Beweiserhebung grundsätzlich der Vorsitzende im Rahmen seiner Verhandlungsleitung nach § 238 Abs. 1 StPO trifft, sofern das Gesetz nicht ausnahmsweise dem Gericht die Entscheidung auferlegt, was bei § 255a Abs. 2 StPO nicht der Fall ist (zutr. Mosbacher in LR-StPO, 26. Aufl., § 255a Rn. 17; gl.A. Berg in Graf, StPO, § 255a Rn. 14; Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 255a Rn. 11; Schlothauer, StV 1999, 47, 49; a.A. Diemer in LK, § 255a StPO Rn. 14; offen gelassen in BGH, Urteil vom 12. Februar 2004 – 3 StR 185/03, BGHSt 49, 72, 74).
Rz. 6
Die von der Revision aufgeworfene Frage, ob sich die Annahme, der Gesetzgeber habe in den Fällen des § 255a Abs. 2 StPO bewusst auf einen Gerichtsbeschluss verzichten wollen, anhand der Gesetzesmaterialien belegen lässt, ist angesichts des Gesetzeswortlauts, der weder selbst einen Gerichtsbeschluss verlangt noch eine Verweisung auf § 251 Abs. 4 StPO enthält, ohne Bedeutung, da sich den Gesetzesmaterialien umgekehrt auch nicht entnehmen lässt, dass der Gesetzgeber bei Einführung der Vorschrift des § 255a Abs. 2 StPO das Erfordernis eines Gerichtsbeschlusses normieren wollte.
Rz. 7
b) Eine analoge Anwendung des § 251 Abs. 4 StPO auf Fälle des § 255a Abs. 2 Satz 1 StPO aus rechtssystematischen Gründen ist nicht geboten. Sie folgt – entgegen der Auffassung der Revision – auch nicht aus den Prozessmaximen des deutschen Strafprozesses. Zwar ersetzt die Vorführung einer Bild-Ton-Aufzeichnung nach § 255a Abs. 2 StPO ebenso wie die Verlesung einer Vernehmungsniederschrift nach § 251 StPO die persönliche Vernehmung. Durch die Regelung des § 255a Abs. 2 StPO sollte aber gerade den Zeugen bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, insbesondere wenn es sich um kindliche Zeugen handelt, im Regelfall die nochmalige persönliche Vernehmung in der Hauptverhandlung erspart werden (vgl. BT-Drucks. 13/4983 S. 4, 8; BGH, Beschluss vom 12. Februar 2004 – 1 StR 566/03 mwN, BGHSt 49, 68). Diese Zwecksetzung stellt einen ausreichenden Rechtfertigungsgrund für die unterschiedlichen Formerfordernisse an die Anordnung der Vorführung einer aufgezeichneten Zeugenvernehmung in den Fällen des § 255a Abs. 1 und Abs. 2 StPO dar (a.A. Diemer in KK-StPO, 6. Aufl., § 255a Rn. 14). Der Umstand, dass § 255a Abs. 2 StPO auch für Zeugen gilt, die keine Opferzeugen sind, ändert daran nichts.
Rz. 8
c) Durch die vom Vorsitzenden angeordnete Vorführung der aufgezeichneten Zeugenvernehmungen ist hier auch das „Konfrontationsrecht” nach Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK, wonach eine angeklagte Person das Recht hat, Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen, nicht verletzt worden. Denn § 255a Abs. 2 Satz 1 StPO erlaubt die Ersetzung der Vernehmung eines Zeugen durch die Vorführung der Bild-Ton-Aufzeichnung seiner früheren richterlichen Vernehmung ausdrücklich nur dann, wenn der Angeklagte und sein Verteidiger Gelegenheit hatten, an dieser mitzuwirken. Dies war hier der Fall. Sie hätten zudem – etwa im Hinblick auf das zum Zeitpunkt der ermittlungsrichterlichen Vernehmungen noch nicht vorliegende aussagepsychologische Gutachten über die kindliche Zeugin … A. – gemäß § 255a Abs. 2 Satz 2 StPO eine ergänzende Vernehmung der Zeugen beantragen können, um Fragen zu stellen, die bisher noch nicht gestellt werden konnten (vgl. OLG Karlsruhe, StraFo 2010, 71). Die Revision hat nicht behauptet, dass solche Anträge gestellt worden seien. Dass die gerichtliche Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) eine solche ergänzende Zeugenvernehmung geboten hätte (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 12. Februar 2004 – 1 StR 566/03 mwN, BGHSt 49, 68), behauptet die Revision ebenfalls nicht.
Unterschriften
Nack, Wahl, Elf, RiBGH Dr. Graf ist urlaubsabwesend und deshalb an der Unterschrift gehindert. Nack, Jäger
Fundstellen
Haufe-Index 2749176 |
NJW 2011, 3382 |
NJW 2011, 8 |
NStZ 2011, 712 |
NJW-Spezial 2011, 664 |
StRR 2011, 430 |
StV 2012, 451 |
StraFo 2011, 396 |