Verfahrensgang
LG Braunschweig (Urteil vom 22.06.2010) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten M. wird das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 22. Juni 2010 gemäß § 349 Abs. 4 StPO, soweit es ihn betrifft, mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Insoweit wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die Revision des Angeklagten R. gegen das genannte Urteil wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
Der Angeklagte R. hat die Kosten seines Rechtsmittels und die dadurch dem Nebenkläger entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat die – nach dem Eröffnungsbeschluss auch unter dem Verdacht des versuchten Totschlags stehenden – Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung schuldig gesprochen und R. zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten sowie M. zu einer solchen von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt, deren Vollstreckung die Schwurgerichtskammer jeweils zur Bewährung ausgesetzt hat. Die Revision des Angeklagten R. erweist sich letztlich als unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
Rz. 2
1. Näherer Betrachtung bedürfen die von beiden Angeklagten erhobenen Verfahrensrügen, ihnen sei nicht erneut das letzte Wort erteilt worden (§ 258 Abs. 2 zweiter Halbsatz, Abs. 3 StPO). Die vom Angeklagten M. erhobene Rüge hat Erfolg. Den Rügen liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
Rz. 3
Am 8. Verhandlungstag, dem 14. Juni 2010, erteilte die Schwurgerichtskammer nach Beratung folgenden Hinweis: „Für den Fall, dass die beiden Angeklagten sich dahingehend teilweise geständig einlassen, dass sie nach Beendigung der Notwehrlage, welche nach dem gegen sie gerichteten Angriff durch G. zunächst gegeben war, in Kenntnis der Beendigung der Notwehrlage, als G. wehrlos am Boden lag, diesen noch massiv körperlich attackiert haben, indem sie beide noch mehrfach gegen Gesichts- und Kopfbereich des G. getreten haben, würde die Kammer gegen beide Angeklagte im Höchstmaß eine Freiheitsstrafe verhängen, die noch zur Bewährung ausgesetzt werden könnte. (…) Die Kammer schlägt deshalb eine Verständigung mit dem Inhalt vor, dass bei einem derartigen glaubhaften Geständnis der Angeklagten ein Strafrahmen von bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe zugesagt wird, und zwar unter Berücksichtigung der verbüßten Untersuchungshaft mit einer Strafaussetzung zur Bewährung und dass die bisher gestellten Beweisanträge/Anregungen als zurückgenommen gelten.”
Rz. 4
Der Angeklagte R. ließ sich in diesem Sinne nach weiterer Beweisaufnahme geständig ein, nicht aber der Angeklagte M.. Beide Angeklagte und ihre Verteidiger hielten die gestellten Beweisanträge nur für den Fall aufrecht, dass eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung erfolgen würde. Der Angeklagte R., sein Verteidiger, die Vertreterin der Staatsanwaltschaft und die Nebenklagevertreterin stimmten dem Verständigungsvorschlag des Gerichts zu.
Rz. 5
Die Vertreterin der Staatsanwaltschaft und die Nebenklagevertreterin beantragten, bezüglich beider Angeklagter wegen gefährlicher Körperverletzung auf eine zur Bewährung auszusetzende Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten zu erkennen und die Haftbefehle aufzuheben. Dem schloss sich der Verteidiger des Angeklagten R. für seinen Mandanten an. Der Verteidiger des Angeklagten M. beantragte, seinen Mandanten freizusprechen, und stellte für den Fall einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung einen weiteren Beweisantrag. Die Angeklagten hatten sodann das letzte Wort.
Rz. 6
Im Anschluss daran verkündete die Schwurgerichtskammer einen Beschluss, mit welchem der Haftbefehl des Amtsgerichts Braunschweig vom 28. August 2009 bezüglich des Angeklagten R. ohne Begründung aufgehoben wurde. Nach verfügter Unterbrechung der Hauptverhandlung verkündete die Schwurgerichtskammer am 22. Juni 2010 ihr Urteil.
Rz. 7
2. Das Landgericht war bei dieser Prozesslage grundsätzlich gehalten, den Angeklagten das letzte Wort erneut zu erteilen. Die, wenngleich begründungslose, Aufhebung des gegen den Angeklagten R. ergangenen Haftbefehls stellt einen schlüssigen Wiedereintritt in die Verhandlung dar. Der Beschluss steht in innerem Zusammenhang mit der noch anstehenden gerichtlichen Entscheidung (vgl. BGH StV 1992, 551, 552).
Rz. 8
a) Der verkündete Beschluss stellt, da er zwischen den Angeklagten differenziert, nicht nur eine Bestätigung und einen teilweisen Vollzug der getroffenen Verständigung bereits vor der – auf später anberaumten – Urteilsverkündung dar. Bezüglich des Angeklagten R. mag der Bestätigung im Blick auf die gemäß § 257c Abs. 4 Satz 4 StPO im Grundsatz bestehende Bindung des Gerichts an die Verständigung sogar gar keine selbständige verfahrensrechtliche Bedeutung zukommen. Bei diesem voll geständigen Angeklagten schließt der Senat jedenfalls aus, dass sich der Schuldspruch und auch die drei Monate unter den übereinstimmenden Anträgen von Staatsanwalt und Verteidiger festgesetzte Strafe auf einer nicht nochmals gewährten Gelegenheit zu einem letzten Wort beruhen kann (vgl. BGHR StPO § 258 Abs. 3 Wiedereintritt 8).
Rz. 9
b) Anderes gilt für den Inhalt des verkündeten Beschlusses betreffend den Angeklagten M.. Nicht anders als bei belastenden Haftentscheidungen (vgl. BGHR StPO § 258 Abs. 3 Wiedereintritt 8 m.w.N.; BGH StV 2001, 438) oder bekanntgegebenen Erwägungen des Gerichts, die eine Verurteilung voraussetzen oder nahelegen (vgl. BGHR StPO § 258 Abs. 3 Wiedereintritt 3; BGH NStZ 1986, 470; BGH StV 1992, 551, 552), hat das Landgericht durch nicht sofortige Bescheidung des Antrags der Staatsanwaltschaft auf Haftbefehlsaufhebung im Gegensatz zum Mitangeklagten schlüssig das Fortbestehen eines dringenden Tatverdachts gegen diesen einen Freispruch erstrebenden Angeklagten zum Ausdruck gebracht. Der Angeklagte war durch die Haftentscheidung selbst zwar nicht unmittelbar betroffen (vgl. BGHR StPO § 258 Abs. 3 Wiedereintritt 8). Indes ließ sich dem Beschluss des Landgerichts für ihn entnehmen, dass das Gericht – bei offener Beweislage – das Geständnis des Mitangeklagten zu seinem Nachteil verwerten und ihn zu einer zu vollstreckenden Freiheitsstrafe verurteilen könnte, weshalb ihm unter diesen Aspekten die Gelegenheit zu geben war, hierzu abschließend nochmals Entlastendes vorzubringen. Eine solche Prozesslage erfordert nach § 258 StPO die Möglichkeit, dass sich ein Angeklagter vor der Urteilsverkündung zum Verfahrensgegenstand äußern können muss (vgl. BGH NStZ 1986, 470).
Unterschriften
Basdorf, Raum, Brause, Schneider, Bellay
Fundstellen
Haufe-Index 2593489 |
wistra 2011, 118 |
NStZ-RR 2013, 101 |
AO-StB 2011, 276 |
StV 2011, 339 |