Verfahrensgang
LG Bielefeld (Entscheidung vom 20.05.2022; Aktenzeichen 2 KLs 7/22) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 20. Mai 2022 mit den Feststellungen aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen und zum Nachtatverhalten aufrechterhalten.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchter besonders schwerer räuberischer Erpressung sowie wegen versuchten Diebstahls zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt, seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet und die Vollstreckung von Strafe und Maßregel zur Bewährung ausgesetzt. Die mit der Sachrüge geführte Revision des Angeklagten erzielt den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
Rz. 2
1. Nach den Feststellungen leidet der Angeklagte seit etwa zehn Jahren an paranoider Schizophrenie. Am 4. August 2021 verließ er das Krankenhaus, in das er sich freiwillig zur Behandlung begeben hatte, und verschaffte sich eine rund 70 Zentimeter lange Eisenstange, die er dazu nutzen wollte, um ein Mobiltelefon an sich zu bringen. Als er der Geschädigten P. begegnete, die ihr Mobiltelefon in der Hand hielt, entschloss er sich, sie zu dessen Herausgabe zu zwingen. In Ausführung dieses Tatentschlusses näherte er sich der Geschädigten und forderte sie mehrfach in aggressivem Ton zur Herausgabe des Mobiltelefons auf. Dabei hielt er die Eisenstange drohend in einer Hand und deutete eine Schlagbewegung in Richtung der Geschädigten an, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen. Diese nahm die Drohung ernst, geriet in Todesangst und floh. Der Angeklagte erkannte nunmehr, dass er nicht in der Lage sein würde, die Geschädigte einzuholen, sah seinen Plan als gescheitert an und entfernte sich (Tat II.1. der Urteilsgründe). Am 9. Oktober 2021 traf der Angeklagte auf die Geschädigte S., die ihr Mobiltelefon in der Hand hielt. Spontan entschloss er sich dazu, das Mobiltelefon an sich zu bringen; er trat dicht an die Geschädigte heran und forderte sie barsch auf, ihm ihr Telefon auszuhändigen. Als sie seiner Aufforderung nicht nachkam, „fixierte“ er die Zeugin mit den Augen, wiederholte mehrfach seine Forderung und versuchte, nach dem Telefon zu greifen. Trotz Eingreifens einer Passantin, die sich zwischen die Geschädigte und den Angeklagten gedrängt hatte, versuchte der Angeklagte weiter, nach dem Telefon zu greifen. Erst als sich der Ehemann der Geschädigten näherte und den Angeklagten laut aufforderte, sich zu entfernen, ließ der Angeklagte von der Geschädigten ab. Er sah seinen Plan nunmehr als gescheitert an und entfernte sich ruhigen Schrittes (Tat II.2. der Urteilsgründe).
Rz. 3
Sachverständig beraten hat die Strafkammer angenommen, dass der Angeklagte unter einer paranoiden Schizophrenie mit unvollständiger Remission sowie einem schizophrenen Residuum leide. Aufgrund dessen sei seine Steuerungsfähigkeit bei Begehung der Taten sicher erheblich im Sinne von § 21 StGB vermindert, aber nicht aufgehoben (§ 20 StGB) gewesen.
Rz. 4
2. Das Urteil hält revisionsgerichtlicher Nachprüfung überwiegend nicht stand. Gegen die Schuldfähigkeitsprüfung bestehen durchgreifende rechtliche Bedenken.
Rz. 5
a) Die Entscheidung, ob die Schuldfähigkeit eines Angeklagten zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, erfordert prinzipiell eine mehrstufige Prüfung (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 3. Dezember 2020 - 4 StR 175/20, NStZ-RR 2021, 41 f.; Beschluss vom 12. März 2013 - 4 StR 42/13, NStZ 2013, 519, 520). Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster muss die psychische Funktionsfähigkeit des Täters bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein. Hierzu ist der Richter für die Tatsachenbewertung auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen. Gleichwohl handelt es sich bei der Frage des Vorliegens eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB bei gesichertem Vorliegen eines psychiatrischen Befunds und bei der Prüfung einer aufgehobenen oder erheblich beeinträchtigten Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit um Rechtsfragen. Deren Beurteilung erfordert konkretisierende und widerspruchsfreie Darlegungen dazu, in welcher Weise sich die festgestellte Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 25. Mai 2022 - 2 StR 257/21, NStZ-RR 2022, 271; Beschluss vom 23. Juni 2021 - 4 StR 81/21 Rn. 8; Beschluss vom 7. April 2020 - 4 StR 48/20 Rn. 7; Beschluss vom 12. Mai 2020 - 2 StR 533/19, StV 2021, 239, 240; Urteil vom 30. März 2017 - 4 StR 463/16, NStZ-RR 2017, 165, 166). Beurteilungsgrundlage ist das konkrete Tatgeschehen, wobei neben der Art und Weise der Tatausführung auch die Vorgeschichte, der Anlass der Tat, die Motivlage und das Verhalten nach der Tat von Bedeutung sein können (vgl. BGH, Beschluss vom 7. April 2020 - 4 StR 48/20 Rn. 7 mwN). Folgt das Tatgericht einem Sachverständigen, muss es dessen wesentliche Anknüpfungstatsachen und Darlegungen in den schriftlichen Urteilsgründen so wiedergeben, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 17. Juni 2014 - 4 StR 171/14, NStZ-RR 2014, 305).
Rz. 6
b) Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil in mehrfacher Hinsicht nicht gerecht.
Rz. 7
aa) Zwar kann den Urteilsgründen unter Berücksichtigung ihres Zusammenhangs noch entnommen werden, dass der Angeklagte seit rund zehn Jahren an paranoider Schizophrenie erkrankt ist und unter akustischen Halluzinationen leidet, die sich trotz langjähriger neuroleptischer Behandlung nicht vollständig zurückgebildet haben. Der Schluss von dieser knappen, aber noch tragfähig belegten medizinischen Diagnose zu der Folgerung, dass das Eingangsmerkmal einer krankhaften seelischen Störung gegeben sei, ist nachvollziehbar und daher von Rechts wegen nicht zu beanstanden. Soweit das Landgericht aber - dem Sachverständigen folgend - angenommen hat, dass der Angeklagte an einem schizophrenen Residualzustand mit verminderter Aktivität, Affektverflachung und verminderter sozialer Leistungsfähigkeit leide, ist diese medizinische Diagnose in den Urteilsgründen nicht nachvollziehbar dargelegt; die Ausführungen sind auf die Wiedergabe der medizinischen Diagnose beschränkt und lassen eine Wiedergabe der wesentlichen Anknüpfungstatsachen, auf deren Grundlage der Sachverständige diese Folgerung gezogen hat, vermissen.
Rz. 8
bb) Soweit das Landgericht ohne nähere Begründung der Auffassung des Sachverständigen gefolgt ist, dass die mit erheblichen Affekt- und Antriebsstörungen verbundenen krankhaften seelischen Störungen zu einer erheblichen Einschränkung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten führten, weil die „Desaktualisierungsfähigkeit für Impulse und Emotionen […] in einem solchen Ausmaß eingeschränkt“ gewesen sei, dass der Angeklagte „seine Handlungen nicht mehr von vernünftigen Erwägungen und Überlegungen abhängig“ habe machen können, fehlt es an nachvollziehbaren, auf die verfahrensgegenständlichen Taten bezogenen Erwägungen. Gleiches gilt für den in den Urteilsgründen wiedergegebenen, allgemein gehaltenen Hinweis des Sachverständigen auf die „labilisierende Wirkung der Störung auf die motivationale Steuerungsfähigkeit, also auf die Fähigkeit, normwidrige Handlungsimpulse zu hemmen und verschiedene Handlungsentwürfe gegeneinander rational abzuwägen“. Die in den Urteilsgründen wiedergegebenen Ausführungen des Sachverständigen zur Frage der Auswirkung des Störungsbilds auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten verbleiben im Allgemeinen. Es fehlt an den erforderlichen konkretisierenden Darlegungen, wie sich die Störung des Angeklagten in den beiden Tatsituationen auf seine Handlungsmöglichkeiten ausgewirkt hat.
Rz. 9
cc) Weiterhin sind die Erwägungen dazu, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zwar krankheitsbedingt erheblich eingeschränkt, aber nicht aufgehoben gewesen ist, nicht nachvollziehbar. Vielmehr legt die vom Landgericht gewählte Formulierung, der Angeklagte, der sich in den Besitz eines - weiteren - Mobiltelefons bringen wollte, sei krankheitsbedingt nicht mehr in der Lage gewesen, seine Handlungen „von vernünftigen Erwägungen und Überlegungen abhängig“ zu machen, eine Aufhebung der Steuerungsfähigkeit nahe. Der in diesem Zusammenhang erfolgte Hinweis auf die erhaltene „Reagibilität“ des Angeklagten auf Außenreize in den Tatsituationen greift möglicherweise zu kurz. Denn Steuerungsfähigkeit bedeutet die Fähigkeit, entsprechend der vorhandenen Unrechtseinsicht zu handeln; es geht dabei um Hemmungsvermögen, Willenssteuerung und Entscheidungssteuerung, nicht aber um exekutive Handlungskontrolle. Entscheidend kommt es auf die motivationale Steuerungsfähigkeit an, also auf die Fähigkeit, das eigene Handeln auch bei starken Wünschen und Bedürfnissen normgerecht zu kontrollieren und die Ausführung normwidriger Motivationen zu hemmen (vgl. BGH, Beschluss vom 30. September 2021 - 5 StR 325/21, NStZ-RR 2022, 7, 8 mwN). Deshalb ist bei einer paranoiden Schizophrenie ebenso wie bei schweren Persönlichkeitsstörungen ein zielgerichtetes und überlegtes (Nach-) Tatverhalten für die Beurteilung der Steuerungsfähigkeit von eher geringer Aussagekraft. Auch insoweit hätte es näherer Darlegungen bedurft, dass die motivationale Steuerungsfähigkeit des Angeklagten jedenfalls nicht aufgehoben war.
Rz. 10
3. Die Rechtsfehler führen zur Aufhebung des Straf- und des Maßregelausspruchs. Auf die vom Generalbundesanwalt zutreffend aufgezeigten Darlegungsmängel bei der angestellten Gefährlichkeitsprognose kommt es daher nicht mehr entscheidungserheblich an.
Rz. 11
Der Senat hebt auch die möglicherweise von der Frage der Schuldfähigkeit berührten Feststellungen zur subjektiven Tatseite auf, um dem neu zur Entscheidung berufenen Tatgericht eine in sich stimmige und widerspruchsfreie Entscheidung zu ermöglichen. Die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen einschließlich des jeweiligen Nachtatverhaltens sowie zu seinem Verhalten am 23. Oktober 2021 (vgl. II.3. der Urteilsgründe) sind rechtsfehlerfrei getroffen und können daher bestehen bleiben.
Quentin |
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Bartel |
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Sturm |
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Maatsch |
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Weinland |
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Fundstellen
Haufe-Index 15547233 |
NStZ-RR 2023, 72 |
StV 2023, 223 |