Verfahrensgang
LG Stralsund (Urteil vom 23.08.2011) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Stralsund vom 23. August 2011 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben,
- soweit der Angeklagte im Fall II. 1 der Urteilsgründe wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt worden ist,
- im Ausspruch über die Gesamtstrafe.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in sechs Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt. Die dagegen gerichtete Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt, hat mit einer Verfahrensbeanstandung den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
Rz. 2
1. Die Verurteilung des Angeklagten im Fall II. 1 der Urteilsgründe hat keinen Bestand, weil das Landgericht einen diese Tat betreffenden Beweisantrag auf Einnahme eines Augenscheins unter Verstoß gegen § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO abgelehnt hat.
Rz. 3
a) Dem liegt folgender Verfahrensgang zugrunde:
Rz. 4
Der Angeklagte hat in der Hauptverhandlung den Antrag gestellt, zum Beweis der Tatsache, dass die Geschädigte … D. in der Tatnacht nicht wie von ihr behauptet in sein Zimmer habe gelangen können, die Tatörtlichkeit in Augenschein zu nehmen. Diesen Antrag hat das Landgericht wegen Bedeutungslosigkeit abgelehnt. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Beweistatsache beeinflusse selbst im Falle ihres Erwiesenseins die Entscheidung nicht, weil sie nur mögliche, nicht aber zwingende Schlüsse darauf zulasse, ob der Angeklagte die Geschädigte sexuell missbraucht habe.
Rz. 5
b) Dies hält rechtlicher Prüfung nicht stand.
Rz. 6
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss der Beschluss, mit dem ein Beweisantrag wegen Bedeutungslosigkeit der behaupteten Tatsache abgelehnt wird, die Erwägungen anführen, aus denen der Tatrichter ihr aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen keine Bedeutung für den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch beimisst. Geht es wie hier um die Glaubwürdigkeit einer Zeugin, bedarf es der Begründung, warum die zu beweisende Tatsache das Gericht auch im Falle ihres Nachweises unbeeinflusst ließe. Die Anforderungen an die Begründung entsprechen grundsätzlich den Darlegungserfordernissen bei der Würdigung von durch die Beweisaufnahme gewonnenen Indiztatsachen in den Urteilsgründen (BGH, Beschluss vom 19. Oktober 2006 – 4 StR 251/06, NStZ-RR 2007, 84, 85 mwN).
Rz. 7
Dem genügt der Beschluss des Landgerichts nicht. Er teilt weder mit, dass das Landgericht den von ihm als möglich bezeichneten Schluss nicht ziehen wolle, noch begründet er diese Entscheidung mit konkreten Erwägungen. Die Bedeutungslosigkeit lag nicht auf der Hand (vgl. BGH, Urteil vom 15. Mai 1990 – 5 StR 594/89, BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Bedeutungslosigkeit 12), so dass eine fallbezogene Begründung auch nicht unter diesem Aspekt entbehrlich war.
Rz. 8
c) Auf diesem Verfahrensfehler beruht der Schuldspruch im Fall II. 1 der Urteilsgründe, denn der Senat vermag nicht auszuschließen, dass das Urteil insoweit bei gesetzeskonformer Behandlung des Beweisantrags anders ausgefallen wäre. Der genannte Schuldspruch unterliegt daher samt den zugehörigen Feststellungen (§ 353 Abs. 2 StPO) der Aufhebung. Sie erfasst die Einsatzstrafe sowie die Gesamtstrafe, die beide erneut zugemessen werden müssen.
Rz. 9
2. Im Übrigen ist die Revision des Angeklagten unbegründet. Ergänzend zu der Begründung der Antragsschrift des Generalbundesanwalts bemerkt der Senat:
Rz. 10
a) Die Verfahrensrüge gemäß § 338 Nr. 3 StPO betreffend das Ablehnungsgesuch des Angeklagten vom 26. Juli 2011 ist bereits unzulässig. Sie entspricht nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, die ohne Rücksicht darauf einzuhalten sind, dass über die Begründetheit der Rüge nach Beschwerdegrundsätzen zu entscheiden ist (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 338 Rn. 29 mwN). Der Angeklagte hat den Beschluss des Landgerichts, mit dem es das Befangenheitsgesuch zurückgewiesen hat, nicht vollständig mitgeteilt.
Rz. 11
b) Eine Verletzung des § 241a StPO kann der Angeklagte mit der Revision nicht geltend machen, weil er gegen die Zurückweisung der Frage durch den Vorsitzenden nach § 241a Abs. 3, § 241 Abs. 2 StPO nicht auf Entscheidung der Kammer nach § 238 Abs. 2 StPO angetragen hat (BGH, Beschluss vom 11. November 2004 – 1 StR 424/04, BGHR StPO § 240 Abs. 2 Gelegenheit 2; Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 241a Rn. 7, § 241 Rn. 23).
Rz. 12
3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
Rz. 13
Zwar müssen bei der Überprüfung der Glaubhaftigkeit von Aussagen kindlicher Zeugen auf Realkennzeichen und auf einen Erlebnishintergrund nicht alle denkbaren, sondern nur die im konkreten Fall nach dem Stand der Ermittlungen realistischen Erklärungsmöglichkeiten an Hand von Alternativhypothesen berücksichtigt werden und sind im Urteil allein die wesentlichen Aspekte darzulegen (BGH, Urteil vom 23. August 2007 – 3 StR 301/07, BGHR StPO § 267 Abs. 1 Satz 1 Beweisergebnis 12). Aufgrund der Hinweise in den Urteilsgründen auf einen schweren sexuellen Missbrauch der Geschädigten durch einen Dritten wenige Wochen nach der Tat, aber vor deren Aufdeckung wird der neue Tatrichter indessen Anlass haben, sich unter Zuhilfenahme eines Sachverständigen auch mit der Hypothese einer Übertragung eines Parallelerlebnisses durch die Geschädigte auseinanderzusetzen.
Unterschriften
Becker, Pfister, Schäfer, Mayer, Menges
Fundstellen
Haufe-Index 2968005 |
NStZ-RR 2012, 255 |
NStZ-RR 2012, 5 |
NStZ-RR 2014, 131 |