Entscheidungsstichwort (Thema)
Vergewaltigung
Tenor
Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 19. Februar 2001 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat die Angeklagten wegen Vergewaltigung verurteilt, und zwar den Angeklagten K. unter Einbeziehung einer anderweit ausgesprochenen Freiheitsstrafe zur Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und zwei Wochen, den Angeklagten J. zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und vier Monaten. Die Revisionen beider Angeklagter rügen die Verletzung materiellen Rechts; diejenige des Angeklagten J. erhebt darüber hinaus Verfahrensrügen. Die Rechtsmittel haben mit der Sachbeschwerde Erfolg.
Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen lernte die damals 16jährige Zeugin A. Kö. am 17. April 2000 in der S.-Bahn den ihr bis dahin unbekannten Angeklagten K. kennen. Sie hatte an diesem Tage nach der zweiten Unterrichtsstunde ihre Schule verlassen, weil sie innerlich aufgewühlt war und sich deprimiert fühlte. Im Elternhaus hatte es heftige Streitereien gegeben; die Eltern erwogen die Trennung. Die Zeugin befürchtete, in der auf den späteren Vormittag angesetzten Chemiearbeit zu versagen. Die Zeugin und der Angeklagte K. kamen ins Gespräch. K. begleitete sie in der Stuttgarter Innenstadt, wo er wieder und wieder nach ihrer Hand griff; sie duldete schließlich, daß er sie an der Hand führte. Auf Drängen des Angeklagten begleitete die Zeugin A. Kö. diesen schließlich in seine Ludwigsburger Wohnung. Hier wurde der Angeklagte K. immer aufdringlicher. Der jetzt ebenfalls in der Wohnung aufenthältliche Mitangeklagte J. und K. kamen überein, mit A. Kö. auch gegen deren entgegenstehenden Willen den Geschlechtsverkehr durchzuführen. Während J. auf einem Bett die Zeugin festhielt, entkleidete K. diese und führte mit ihr den Geschlechtsverkehr ungeschützt und bis zum Samenerguß durch. Anschließend tauschten die Angeklagten ihre Rollen und es kam zum gewaltsamen Verkehr durch den Angeklagten J.. Zum Schluß zwangen beide Angeklagte ihr Opfer, mit K. den Oralverkehr durchzuführen. Sodann ließen die Angeklagten sie gehen. Abends berichtete die Zeugin einem Schulfreund und Nachbarn sowie auch ihrem Freund am Telefon von dem Vorfall. Sie wollte zunächst nicht zur Polizei gehen, ließ sich schließlich aber von ihrem Freund überreden, Anzeige zu erstatten und erschien tags darauf, am 18. April 2000, in Begleitung ihres Freundes und des Schulfreundes auf dem Polizeirevier.
Die Strafkammer hat die beiden Angeklagten, die die Tat und insbesondere jeglichen Geschlechtsverkehr bestritten haben, auf der Grundlage einer ausführlichen Beweiswürdigung für überführt erachtet. Diese Beweiswürdigung ist indessen nicht frei von Rechtsfehlern. Das Urteil kann deshalb keinen Bestand haben. Auf die Verfahrensrügen der Revision des Angeklagten J. kommt es mithin nicht an.
1. Das Revisionsgericht ist nur eingeschränkt zur Überprüfung einer Beweiswürdigung berufen und in der Lage. Es hat die Entscheidung des Tatrichters grundsätzlich hinzunehmen und sich auf die Prüfung zu beschränken, ob die Urteilsgründe Rechtsfehler enthalten (vgl. § 337 StPO). Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, wenn sie gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. nur BGH NStZ-RR 2000, 171 f.; NStZ 2000, 436 f.; BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 33; Beweiswürdigung 2, 11, 13, 14).
2. Die Beweiswürdigung des Landgerichts steht mit den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft in einem zentralen Punkt nicht in Einklang. Sie läßt einen Erfahrungssatz außer acht, der eine Wahrscheinlichkeitsaussage zuläßt (vgl. Engelhardt in KK 4. Aufl. § 261 Rdn. 46, 48; siehe für andere Fallgestaltungen auch BGHR StPO § 261 Erfahrungssatz 2, 5). Deshalb erweist sich die Würdigung der Strafkammer zugleich als lückenhaft.
Die Kammer hat im Rahmen ihrer Beweiswürdigung nicht verkannt, daß objektive Nachweise des Tatgeschehens fehlen. Sie führt dazu u.a. aus, daß auf dem Leinentuch des Bettes in der Wohnung keine Spuren irgendwelcher Art hätten gefunden werden können, verwundere nicht, da die Wohnung von der Polizei erst zwei Tage nach der Tat betreten worden sei und nicht feststehe, ob noch dasselbe Leinentuch aufgezogen gewesen sei wie am Tattage. Auf der Grundlage einer bei der Zeugin am Tage nach der Tat, dem 18. April 2000, vorgenommenen gynäkologischen Untersuchung führt das Landgericht aus: „Daß auch der DNA-Test …. ohne Ergebnis verlief, war angesichts der Tatsache, daß die hierzu erforderlichen Abstriche bei der Geschädigten erst am 18.04.2000 und bei den Angeklagten gar erst am 19.04.2000 erhoben werden konnten, ebenfalls vonkeinerlei Beweiswert” (Unterstreichung hier). Weiter geht die Beweiswürdigung auf diesen Umstand nicht ein. Aus dem Zusammenhang der Urteilsgründe ergibt sich damit, daß die Abstriche bei der Zeugin keine Samenspuren aufwiesen.
Soweit das Landgericht annimmt, daß diesem Umstand „keinerlei Beweiswert” zukomme, das Fehlen von Samenspuren also die Einlassungen der Angeklagten auch nicht zu stützen vermöge, ist das nicht haltbar. Vielmehr ist ein Nachweis von Spermatozoen bis etwa 24 Stunden nach dem Verkehr zu erwarten, nach anderen Reihenuntersuchungen sogar bis zu 48 Stunden. Er wird für eine Zeitspanne bis zu 72 Stunden für möglich gehalten. Die längsten verzeichneten Nachweiszeiten betrugen für den mikroskopischen Spermiennachweis vier Tage nach dem letzten Verkehr. Phosphataseaktivität wurde bis zu fünf Tagen nach dem letzten Verkehr festgestellt und der immunologische Nachweis von Spermaantigenen gelang sogar bis zu zehn Tagen post coitum. Die veröffentlichten Untersuchungsergebnisse weisen durchaus unterschiedliche Nachweiszeiten aus; das ändert indessen nichts am Grundsatz einer zunächst hohen und dann abnehmenden Nachweiswahrscheinlichkeit. Die sog. Nachweissicherheit ist allerdings von einer Vielzahl variabler Faktoren abhängig. Auch ist das Fehlen von Spuren kein zwingender Beleg dafür, daß ein Verkehr mit Samenerguß in der Scheidenicht stattgefunden habe (vgl. zu den einschlägigen medizinischen Erkenntnissen u.a.: Fregin/Rommeiss/Bernasowski, „Mikroskopische, enzymatische und immunologische Untersuchungen an Vaginalabstrichen – eine Studie zur Zeitabhängigkeit des Nachweises verschiedener Spermabestandteile post coitum”, in: Kriminalistik und forensische Wissenschaften, 1984, S. 160 bis 164; Eisenmenger/Spann/Tröger, „Rechtsmedizinische Befunde nach Sexualdelikten” in: Beiträge zur gerichtlichen Medizin, Bd. XXXV, S. 13 ff.; Pankratz/Eisenmenger/Tutsch-Bauer, in: Beiträge zur gerichtlichen Medizin, Bd. XLIII, S. 218, 220; zu neueren Erkenntnissen in der englischsprachigen Literatur: Keil/Bachus/Tröger, „Evaluation of MHS-5 in detecting seminal fluid in vaginal swabs”, in: Int J Legal Med 1996, 108: 186 – 190; siehe darüber hinaus: Mueller, Gerichtliche Medizin, 2. Aufl. 1975, S. 132; Schwerd, Lehrbuch Rechtsmedizin, 5. Aufl. 1992, S. 30; Forster/Ropohl, Rechtsmedizin, 5. Aufl. 1989, S. 128). Allerdings hat dieser Umstand indizielle Bedeutung zugunsten der Darstellung der Angeklagten. Er ist deshalb in die Beweiswürdigung einzustellen und bei der Gesamtbewertung aller Beweise zu berücksichtigen. Das gilt hier auch eingedenk dessen, daß die Angaben der Zeugin A. Kö. zur Frage des Samenergusses in der Scheide unbestimmt waren (vgl. UA S. 22). Das Landgericht hat sich den Blick auf die bezeichneten medizinischen Erkenntnisse verstellt, indem es diesem Gesichtspunkt „keinerlei Beweiswert” beigemessen hat. Da es zur Begründung für diese Sicht ausdrücklich auf den zeitlichen Abstand zwischen der Tat und dem tags darauf erfolgten Abstrich bei der Zeugin abgestellt hat, vermag der Senat auch nicht ohne weiteres davon auszugehen, daß es sich bei der Formulierung der Kammer um ein bloßes Vergreifen im Ausdruck handeln könnte. Ebensowenig kann der Senat ausschließen, daß eine Beweiswürdigung, die diesen Umstand bewertet und – naheliegenderweise unter näherer Aufklärung der die Nachweissicherheit beeinflussenden sogenannten variablen Rahmenfaktoren und unter sachverständiger Beratung – in die Gesamtwürdigung aller Beweise miteinbezogen hätte, zu einem anderen, etwa Zweifel begründenden Ergebnis geführt hätte. Das gilt zudem vor dem Hintergrund zweier weiterer Mängel der Beweiswürdigung:
3. Die Strafkammer erachtet es bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Aussage der Zeugin A. Kö. als Zeichen kritischen und differenzierten Umgangs mit Erinnerungslücken, daß sie bekundet habe, „nicht zu wissen”, ob der Samenerguß des Angeklagten K. in oder außerhalb der Scheide erfolgt sei und dies bezüglich des Angeklagten J. „nicht mehr genau” wisse (UA S. 22). Diese Bewertung hätte es im Blick auf die fehlenden Spuren erfordert zu erörtern, ob und gegebenenfalls wie die Zeugin sich zu dieser Frage etwa im Ermittlungsverfahren erklärt hatte, ob es hierzu etwa eine abweichende Aussage gab oder ob insoweit Aussagekontinuität anzunehmen gewesen wäre.
4. Die Strafkammer hat festgestellt, die Zeugin habe – während sie mit dem Angeklagten K., zum Teil an dessen Hand, unterwegs war – ihrem Freund mittels eines Mobiltelefons eine Textnachricht (SMS) des Inhalts übermittelt, sie sei mit einem Afrikaner unterwegs und befinde sich in einer unangenehmen Situation (UA S. 8). Dies wie auch eine weitere SMS-Botschaft (UA S. 9) habe sie „blind auf dem in ihrer Tasche befindlichen Handy” an ihren Freund „getippt”, so daß K. dies nicht bemerkt habe. Der Freund der Zeugin hat den Erhalt der SMS-Nachricht als Zeuge bestätigt. Es versteht sich indessen gleichwohl auch für einen im Umgang mit einem Mobiltelefon und dem Versenden von SMS-Nachrichten in hohem Maße geübten, fingerfertigen Nutzer nicht von selbst, daß ein solches „blindes” Schreiben und Versenden einer Mitteilung über ein in einer Tasche befindliches „Handy” möglich ist. Die entsprechende Feststellung hätte der Darlegung der Voraussetzungen bedurft, unter denen die Zeugin A. Kö. dies konnte; die Aussage der Zeugin hierzu wäre zu würdigen gewesen.
5. Nach allem bedarf die Sache neuer Verhandlung und Entscheidung. Der Generalbundesanwalt hat in seiner Antragsschrift zu Recht auf die Vorschrift des § 80 Abs. 3 JGG hingewiesen, die die Strafkammer außer acht gelassen hat, soweit der Angeklagte J. von der Entscheidung über die Auslagen der Nebenklägerin betroffen ist. Der neue Tatrichter wird auch zu erwägen haben, ob die Hinzuziehung eines Sachverständigen zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Zeugin A. Kö. hilfreich sein kann.
Unterschriften
Schäfer, Nack, Schluckebier, Kolz, Schaal
Fundstellen
Haufe-Index 651557 |
NStZ-RR 2002, 39 |
StV 2002, 521 |