Verfahrensgang
LG München I (Urteil vom 21.01.2008) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München I vom 21. Januar 2008 mit den Feststellungen aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen aufrechterhalten.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Gründe
Rz. 1
1. Das Landgericht hat den 1941 geborenen Angeklagten vom Vorwurf des Verstoßes gegen Weisungen während der Führungsaufsicht (§ 145a StGB) in zwei Fällen wegen krankheitsbedingt fehlender Einsichtsfähigkeit freigesprochen, jedoch seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge den aus dem Tenor ersichtlichen Erfolg.
Rz. 2
2. Nach den Feststellungen verurteilte das Landgericht München I den im Übrigen unbestraften Angeklagten im Jahr 2001 wegen zweier Fälle des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer vierjährigen Gesamtfreiheitsstrafe. Dem lag zugrunde, dass der Angeklagte am 4. und 31. Mai 2000 im Rahmen des von ihm ausgeübten Fahrdienstes mit dem Finger für dieses schmerzhaft in die Scheide eines siebenjährigen, körperlich behinderten und retardierten Mädchens eingedrungen war und es bei der zweiten Tat zudem erfolglos aufgefordert hatte, den Oralverkehr auszuüben.
Rz. 3
Nach vollständiger Verbüßung der Strafe trat die unbefristete Führungsaufsicht ein. Durch Beschluss der zuständigen Strafvollstreckungskammer wurde der Angeklagte u.a. angewiesen, „Kontakte mit minderjährigen Kindern zu unterlassen … sowie Orte, an denen sich erfahrungsgemäß Kinder aufhalten (z.B. Spiel- und Sportplätze, Schwimmbäder, Schul- und Kindergartenbereiche) zu meiden”. Dieser ihm unter Hinweis auf die Strafbarkeit eines Verstoßes bekannt gegebenen Weisung zuwider begab sich der Angeklagte am 28. und 30. Juli 2006 jeweils zu einem Spielplatz. Dort bot er im ersten Fall einem siebenjährigen Mädchen einen Kaugummi an, im zweiten Fall sprach er einen siebenjährigen Jungen mit „Hallo” an. Beide Kinder liefen daraufhin sofort ängstlich davon. Sie waren von ihren Eltern angewiesen worden, dem Angeklagten, dessen Vorstrafe im Wohnviertel bekannt war, aus dem Weg zu gehen.
Rz. 4
Der Angeklagte leidet – „sehr wahrscheinlich … seit der Straftat im Jahre 2000” – an einer Demenz bei Morbus Pick (ICD 10 F 02.0). Die beim Angeklagten bereits chronifizierte, nicht heilbare Krankheit führt über die Beeinträchtigung emotionaler Impulse und des Sozialverhaltens, Persönlichkeitsveränderungen, Sprach- und Gedächtnisstörungen und das Vollbild der Demenz mit Muskelversteifung, Pflegebedürftigkeit und Inkontinenz schließlich nach durchschnittlich sechs bis acht Jahren zum Tod. Infolge der Erkrankung ist die Fähigkeit, das Unrecht verbotenen Tuns einzusehen, vergleichbar derjenigen bei Kleinkindern. Daher konnte der Angeklagte sein Verhalten gegenüber den Kindern nicht als untersagte Kontaktaufnahmen erkennen.
Rz. 5
Als Reaktion auf die beiden Taten wurde der Angeklagte im August 2006 nach dem bayerischen Unterbringungsgesetz in das I.-Klinikum eingewiesen. Dort befindet er sich aufgrund des (nicht rechtskräftigen) Beschlusses des Amtsgerichts München – Vormundschaftsgericht – längstens bis 13. Dezember 2009. In der Klinik hat der Angeklagte wenigstens fünfmal versucht, ebenfalls erkrankte Patientinnen zu küssen, am Nacken und an den Beinen zu streicheln sowie mit ihnen Händchen zu halten. Seit 18. Dezember 2006 steht er unter Betreuung u.a. für den Bereich der Gesundheitsfürsorge. Seit Ende 2007 nimmt der Angeklagte – ohne insoweit einsichtig zu sein – das sexualdämpfende Medikament „Androcur”, das auch als Depot verabreicht werden kann.
Rz. 6
3. Danach hat das Landgericht die Demenz bei Morbus Pick zutreffend als krankhafte seelische Störung (§ 20 StGB) angesehen und den Angeklagten von den strafrechtlichen Vorwürfen freigesprochen. Dagegen ermöglichen die zum Tatgeschehen getroffenen Feststellungen keine abschließende Überprüfung der im Rahmen des § 63 StGB vorgenommenen Gefährlichkeitsprognose.
Rz. 7
a) Zwar hat der Angeklagte durch sein Verhalten gegen Weisungen i.S.d. § 145a StGB verstoßen. Nicht jede derartige Zuwiderhandlung vermag aber die Annahme zukünftiger Gefährlichkeit zu begründen, welche für die außerordentlich beschwerende Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus Voraussetzung ist. Auch mit Blick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 62 StGB) wird etwa die Nichterfüllung der Weisung, sich zu bestimmten Zeiten bei der Aufsichtsstelle oder einem Bewährungshelfer zu melden (§ 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 StGB), grundsätzlich nicht geeignet sein, eine zukünftige Gefährlichkeit für die Allgemeinheit zu prognostizieren.
Rz. 8
b) Ob es sich bei den vom Angeklagten gezeigten Verhaltensweisen um solche lediglich formalen Gehorsamsverstöße gehandelt hat, lässt sich anhand der knappen Darstellung in den Urteilsgründen nicht abschließend beurteilen. Insbesondere bleibt offen, mit welcher Motivation der Angeklagte sich an die beiden Kinder gewandt hat. Zwar mag unter Berücksichtigung der Vorstrafe und dem in der Klinik gegenüber Mitpatientinnen gezeigten Verhalten die Annahme nicht fern liegen, dass er zu ihnen in näheren, möglicherweise sexuellen Kontakt kommen wollte. Das Landgericht hat aber eine derartige – sich auch nicht von selbst verstehende – sexuelle Intention nicht festgestellt. Diese lässt sich auch dem Urteil insgesamt nicht zweifelsfrei entnehmen. Deshalb bedarf die Sache neuer Verhandlung.
Rz. 9
4. Die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen werden durch den Rechtsfehler nicht berührt und können daher bestehen bleiben. Ergänzende, hierzu nicht in Widerspruch stehende Feststellungen sind zulässig.
Rz. 10
5. Das neue Tatgericht wird Gelegenheit haben, bei seiner Gefährlichkeitsprognose – und ggf. bei der Frage, ob die Vollstreckung einer erneut angeordneten Unterbringung des Angeklagten im psychiatrischen Krankenhaus zur Bewährung ausgesetzt werden kann – insbesondere zu berücksichtigen, welchen Verlauf die Erkrankung des bald 67 Jahre alten Angeklagten genommen hat, ob und für voraussichtlich welchen Zeitraum dieser weiterhin auf landesgesetzlicher Grundlage untergebracht ist (vgl. BGH NStZ 2007, 465), ob und in welcher Ausgestaltung das Betreuungsverhältnis fortbesteht sowie ob und mit welcher Wirkung die sexualdämpfende Medikation fortgesetzt wird.
Unterschriften
Nack, Wahl, Boetticher, Elf, Sander
Fundstellen
Haufe-Index 2564200 |
NStZ-RR 2008, 277 |
NStZ-RR 2009, 163 |