Leitsatz (amtlich)
Zur Verwertbarkeit eines Sachverständigengutachtens über die Notwendigkeit der Betreuung, welches im Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung bereits rund ein Jahr zurückliegt.
Normenkette
FamFG §§ 26, 280, 293
Verfahrensgang
LG Bielefeld (Beschluss vom 06.04.2016; Aktenzeichen 23 T 145/16) |
AG Gütersloh (Beschluss vom 07.12.2015; Aktenzeichen 5 XVII 599/14 C) |
Tenor
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 23. Zivilkammer des LG Bielefeld vom 6.4.2016 wird zurückgewiesen.
Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtsgebührenfrei.
Beschwerdewert: 5.000 EUR
Gründe
I.
Rz. 1
Auf Anregung der Betreuungsbehörde hat das AG ein Gutachten über die Notwendigkeit einer Betreuung für die 58-jährige Betroffene eingeholt, welches am 9.12.2014 erstattet und am 24.1.2015 ergänzt worden ist. Nach Anhörung der Betroffenen und weiterer Beteiligter hat das AG durch Beschluss vom 7.12.2015 eine Betreuung für die Aufgabenkreise der Aufenthaltsbestimmung, Behördenangelegenheiten, Empfangnahme und Öffnen von Post, Gesundheitsfürsorge, Vermögensangelegenheiten und Wohnungsangelegenheiten eingerichtet und die Beteiligte zu 1) als Berufsbetreuerin bestimmt. Das LG hat die Beschwerde der Betroffenen zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich ihre Rechtsbeschwerde.
II.
Rz. 2
Die Rechtsbeschwerde ist nicht begründet.
Rz. 3
1. Das LG hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt: Nach dem eingeholten Sachverständigengutachten leide die Betroffene an einer paranoiden Psychose mit Verfolgungswahn, aufgrund derer ihre Einsichts- und Steuerungsfähigkeit aufgehoben und sie in den vom AG angeordneten Aufgabenkreisen nicht in der Lage sei, ihren Willen frei zu bestimmen. Sie sei nicht in der Lage, interessengerechte Entscheidungen zu fällen, und bedürfe daher der Unterstützung im Rahmen einer gesetzlichen Betreuung. Es seien die Behandlung ihrer Erkrankung - ggf. in einem stationären Rahmen - sicherzustellen, Schulden zu regulieren und die notwendigen Behördenangelegenheiten zu regeln, um den Bezug von Leistungen der Grundsicherung weiter zu gewährleisten. Ebenso bedürfe es der Bearbeitung der Post durch die Betreuerin, da diese bei der Betroffenen meist unbearbeitet liegen geblieben sei. Auch hinsichtlich der Wohnsituation bedürfe die Betroffene der Unterstützung, da sie zur Verwahrlosung neige und deshalb erst vor kurzem ihre Wohnung verloren habe.
Rz. 4
2. Dies hält einer rechtlichen Nachprüfung stand.
Rz. 5
a) Ohne Erfolg rügt die Rechtsbeschwerde, das eingeholte Sachverständigengutachten habe schon deshalb nicht (mehr) verwertet werden dürfen, weil seine Erstattung im Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung bereits annähernd ein Jahr zurücklag und auf einer körperlichen Untersuchung beruht, die mehr als ein Jahr vor dieser Entscheidung stattgefunden hat.
Rz. 6
Gemäß § 26 FamFG hat das Gericht von Amts wegen die zur Feststellung der entscheidungserheblichen Tatsachen erforderlichen Ermittlungen durchzuführen. Vor der Bestellung eines Betreuers oder der Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts hat eine förmliche Beweisaufnahme durch Einholung eines Gutachtens über die Notwendigkeit der Maßnahme stattzufinden (§ 280 Abs. 1 Satz 1 FamFG). Außerdem hat das Gericht den Betroffenen vor der Bestellung eines Betreuers oder der Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von dem Betroffenen zu verschaffen (§ 278 Abs. 1 Satz 1 und 2 FamFG).
Rz. 7
Die Würdigung der so erhobenen Tatsachen und Beweise ist grundsätzlich Sache des Tatrichters. Dem Rechtsbeschwerdegericht obliegt lediglich die Kontrolle auf Rechtsfehler, insb. die Prüfung, ob die Tatsachengerichte alle maßgeblichen Gesichtspunkte in Betracht gezogen haben und die Würdigung auf einer ausreichenden Sachaufklärung beruht (BGH, Beschl. v. 18.3.2015 - XII ZB 370/14, FamRZ 2015, 844 Rz. 15 m.w.N.). Zu den nur eingeschränkt überprüfbaren Fragen der Beweiswürdigung gehört auch die Beurteilung, ob eine schon länger zurückliegende Beweisaufnahme noch verwertbar ist.
Rz. 8
aa) Eine starre Frist, binnen derer ein eingeholtes Sachverständigengutachten noch verwertet werden kann, kennt das Gesetz nicht. Der zu verwertende Beweis muss jedoch dazu geeignet sein, Feststellungen über eine im Zeitpunkt der Entscheidung bestehende Betreuungsbedürftigkeit zu treffen. Dazu ist eine bereits ein Jahr zurückliegende Beweisaufnahme nach § 280 FamFG nicht generell ungeeignet. Sie kann eine noch hinreichende Tatsachengrundlage für die Entscheidung über die Einrichtung der Betreuung bieten, wenn ein Krankheitsbild festgestellt worden ist, das eine Besserung langfristig nicht erwarten lässt, das Gutachten deshalb von einer voraussichtlich langfristigen Notwendigkeit der Maßnahme ausgeht und in der Zeit nach der Begutachtung auch keine greifbaren Anhaltspunkte für eine Veränderung der tatsächlichen Umstände erkennbar oder vorgebracht worden sind.
Rz. 9
bb) Einschränkungen bei der Verwertbarkeit des Gutachtens ergeben sich auch nicht aus dem Rechtsgedanken des § 293 Abs. 2 Nr. 1 FamFG. Darin ist für den Fall einer Erweiterung des Aufgabenkreises des Betreuers und die Erweiterung des Kreises der einwilligungsbedürftigen Willenserklärungen geregelt, dass es einer persönlichen Anhörung nach § 278 Abs. 1 FamFG sowie der Einholung eines Gutachtens oder ärztlichen Zeugnisses (§§ 280 und 281 FamFG) nur dann nicht bedarf, wenn diese Verfahrenshandlungen nicht länger als sechs Monate zurückliegen. Zu Unrecht zieht die Rechtsbeschwerde aus dieser Vorschrift den Schluss, dass auch bei der erstmaligen Einrichtung der Betreuung die persönliche Anhörung sowie die Einholung des Gutachtens nicht länger als sechs Monate zurückliegen dürften.
Rz. 10
§ 293 Abs. 2 Nr. 1 FamFG regelt das Verfahren in Fällen, in denen eine Betreuung bereits angeordnet worden ist und sich der Betreuungsbedarf nachträglich erweitert. Dabei muss das Gericht aus der vorangegangenen Tatsachenerhebung hinreichende Kenntnisse zum Zustand des Betroffenen erhalten haben, die auch zur Grundlage der Erweiterungsentscheidung gemacht werden können (BT-Drucks. 13/7158, 40). Erweitert das Gericht im Nachhinein den Aufgabenkreis, geht es selbst von einer veränderten Gesamtsituation aus. Insoweit legt das Gesetz fest, dass einzelne veränderte Umstände unter Rückgriff auf im Übrigen beizubehaltende Erkenntnisse nur dann zu einer veränderten Entscheidung führen können, wenn die früheren Erkenntnisse nicht länger als sechs Monate zurückliegen und deshalb auch im Hinblick auf einen partiell veränderten Sachstand noch eine ausreichende Entscheidungsgrundlage bieten. Anders liegt es bei der erstmaligen Anordnung einer Betreuung, wenn sich alle Tatsachenerhebungen - sei es zeitlich gestreckt - in ein letztlich geschlossenes Gesamtbild fügen, das die Anordnung einer Betreuung als erforderlich erscheinen lässt.
Rz. 11
b) Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).
Fundstellen
FamRZ 2016, 2091 |
FGPrax 2017, 24 |
BtPrax 2017, 42 |
JZ 2017, 15 |
MDR 2017, 93 |
FF 2016, 509 |