Leitsatz (amtlich)
Eröffnet ein Gericht die Möglichkeit der Weiterleitung von Schriftstücken an das zuständige Gericht, so genügt der Anwalt seinen Sorgfaltspflichten bereits dann, wenn er einen fristgebundenen Schriftsatz so rechtzeitig abgibt, dass er einen fristgemäßen Eingang beim zuständigen Gericht mit Sicherheit erwarten darf (im Anschluss an BGH Beschlüsse v. 23.3.2006 - IX ZB 56/05, AnwBl. 2006, 491; v. 12.7.1961 - I ZB 2/61, VersR 1961, 923).
Normenkette
ZPO § 233
Verfahrensgang
OLG Düsseldorf (Beschluss vom 25.10.2016; Aktenzeichen I-24 U 126/16) |
LG Duisburg (Urteil vom 24.06.2016; Aktenzeichen 10 O 188/15) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Kläger wird der Beschluss des 24. Zivilsenats des OLG Düsseldorf vom 25.10.2016 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung - auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens - an das OLG zurückverwiesen.
Wert: 8.556 EUR
Gründe
I.
Rz. 1
Die Rechtsbeschwerde betrifft die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist.
Rz. 2
Die Kläger sind die Vermieter, die Beklagte ist die Mieterin von Gewerberäumen. Die Kläger haben beantragt, die Beklagte zur Zahlung rückständiger Miete und von Reparaturkosten i.H.v. insgesamt 8.555,88 EUR nebst Zinsen sowie zur Freistellung von vorgerichtlichen Anwaltskosten zu verurteilen. Mit den Prozessbevollmächtigten der Kläger am 24.6.2016 zugestelltem Urteil hat das LG die Klage abgewiesen. Hiergegen haben die Kläger fristgerecht Berufung eingelegt. Die Berufungsbegründung ist am 25.8.2016, einem Donnerstag, beim OLG eingegangen.
Rz. 3
Dieses hat darauf hingewiesen, dass die Begründung verspätet eingelegt sei. Hierauf baten die Kläger, die Berufung deshalb nicht zu verwerfen, und teilten mit, eine Kanzleiangestellte ihrer Prozessbevollmächtigten habe den Schriftsatz am 22.8.2016 kurz vor 8.00 Uhr in das beim AG Mülheim an der Ruhr für das OLG eingerichtete Postaustauschfach gelegt. Nach Kenntnis der Prozessbevollmächtigten werde dieses täglich geleert und der Inhalt zum OLG transportiert. Das OLG hat darin einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gesehen, diesen zurückgewiesen und die Berufung verworfen. Hiergegen wenden sich die Kläger mit ihrer Rechtsbeschwerde.
II.
Rz. 4
Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
Rz. 5
1. Sie ist gem. § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft und auch im Übrigen gem. § 574 Abs. 2 ZPO zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (vgl. BGH v. 23.1.2013 - XII ZB 167/11, FamRZ 2013, 1117 Rz. 4 m.w.N.).
Rz. 6
2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Sie führt zur Aufhebung der Beschwerdeentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das OLG.
Rz. 7
a) Dieses hat seine Entscheidung wie folgt begründet:
Rz. 8
Die Berufung sei zu verwerfen, weil sie nicht fristgemäß begründet worden sei. Den Klägern sei auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Eine telefonische Nachfrage der Berichterstatterin beim AG Mülheim an der Ruhr habe ergeben, dass das dortige Gerichtsfach für das OLG zwar täglich vormittags geleert und der Inhalt an das OLG transportiert werde. Den Rechtsanwälten werde aber immer gesagt, dass sie keine Fristsachen einlegen sollten. Ein entsprechender Hinweis befinde sich nach dieser Auskunft auch über den Gerichtspostfächern. Selbst wenn dieser schriftliche Hinweis sich - wie die Kläger geltend machten - lediglich über dem Gerichtspostfach für ein LG und nicht über dem für das OLG befunden haben sollte, schaffe dies nicht den notwendigen Vertrauenstatbestand. Ein Rechtsanwalt dürfe von der Möglichkeit, eine Berufungsschrift bei der Annahmestelle im Gebäude des LG zur Weiterleitung an das OLG abzugeben, nur so lange Gebrauch machen, als er mit Sicherheit noch einen fristgerechten Zugang erwarten könne. Dies sei etwa anzunehmen, wenn der Beamte der Postannahmestelle ihm die Weiterleitung an das OLG noch am selben Tage versichert habe. Entsprechende Umstände, aufgrund derer die Prozessbevollmächtigten hier auf eine rechtzeitige Weiterleitung hätten vertrauen dürfen, seien weder ersichtlich noch vorgetragen. Dies gelte umso mehr im Hinblick auf den schriftlichen Hinweis, der sich zumindest über dem Fach für das LG befunden habe.
Rz. 9
b) Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Mit der Begründung des OLG kann den Klägern die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht versagt werden. Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass das OLG die Anforderungen an die anwaltliche Sorgfaltspflicht überspannt hat.
Rz. 10
aa) Zutreffend ist allerdings der Ausgangspunkt des OLG, dass ein Rechtsanwalt von der Möglichkeit, einen fristgebundenen Schriftsatz bei der Annahmestelle eines Gerichts zur Weiterleitung an das zuständige Gericht abzugeben, so lange Gebrauch machen kann, als er mit Sicherheit noch einen fristgerechten Eingang erwarten darf. Gibt er den Schriftsatz am letzten Tag der Frist ab, so liegt ein Sorgfaltsverstoß vor, wenn er sich nicht durch ausdrückliches Befragen vergewissert, dass der Eingang beim zuständigen Gericht noch am gleichen Tag erfolgen wird (BGH Beschlüsse v. 23.3.2006 - IX ZB 56/05, AnwBl. 2006, 491, 492 m.w.N.; v. 12.7.1961 - I ZB 2/61, VersR 1961, 923, 924). Ein Anwalt, der eine Rechtsmittelbegründungsfrist bis zum letzten Tag ausschöpft, hat nämlich wegen des damit erfahrungsgemäß verbundenen Risikos eine erhöhte Sorgfalt aufzuwenden, um die Einhaltung der Frist sicherzustellen (BGH Beschl. v. 16.11.2016 - VII ZB 35/14, ZfBR 2017, 144 Rz. 12). Wird der Schriftsatz allerdings - wie hier - mehrere Tage vor Ablauf der Frist abgegeben, bestehen diese erhöhten Anforderungen nicht. Eröffnet ein Gericht die Möglichkeit der Weiterleitung von Schriftstücken an das zuständige Gericht, so genügt der Anwalt daher seinen Sorgfaltspflichten bereits dann, wenn er einen fristgebundenen Schriftsatz so rechtzeitig abgibt, dass er einen fristgemäßen Eingang beim zuständigen Gericht mit Sicherheit erwarten darf (vgl. BGH Beschlüsse v. 23.3.2006 - IX ZB 56/05, AnwBl. 2006, 491, 492 m.w.N.; v. 12.7.1961 - I ZB 2/61, VersR 1961, 923, 924).
Rz. 11
Insoweit kann sich der Anwalt zwar - anders als bei einem Versand mit der Deutschen Post AG oder anderen Briefbeförderungsunternehmen (vgl. hierzu BGH v. 23.1.2008 - XII ZB 155/07, VersR 2009, 1096 Rz. 8 f. m.w.N.) - nicht darauf verlassen, dass eine für den Normalfall festgelegte Beförderungszeit eingehalten wird. Denn bei der Weiterleitung durch die Justiz besteht keine auf die Einhaltung der Beförderungszeit für den Normalfall ausgerichtete Organisationsstruktur, auf die der Anwalt vertrauen darf. Vielmehr muss er berücksichtigen, dass die mit der Postübermittlung beauftragten Wachtmeister durch vorrangige dienstliche Tätigkeiten oder andere Umstände vorübergehend verhindert sein können, so dass eine gewisse Verzögerung mit höherer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist als bei einem auf die Briefbeförderung spezialisierten Unternehmen (vgl. Senatsbeschluss v. 19.9.2012 - XII ZB 221/12 - juris Rz. 11). Andererseits muss der Anwalt aber auch nicht mit einer außergewöhnlich langen Verzögerung der Versendung rechnen (vgl. BGH v. 23.5.2012 - XII ZB 375/11, FamRZ 2012, 1205 Rz. 26 f.).
Rz. 12
bb) Gemessen hieran hätte das OLG nicht von einem den Klägern nach § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnenden Verschulden ihrer Prozessbevollmächtigten ausgehen dürfen. Mangels abweichender tatrichterlicher Feststellungen ist das klägerische Vorbringen rechtsbeschwerderechtlich als wahr zu unterstellen. Danach lag eine außergewöhnliche Verzögerung des Postaustauschs vor. Dabei ist - anders als die Rechtsbeschwerdeerwiderung meint - auch der bis zum 10.10.2016 mehrfach ergänzte Vortrag der Kläger vollständig zu berücksichtigen. Da die Kläger am 13.9.2016 Kenntnis von der Fristversäumung erhielten, endete die Monatsfrist für den Antrag auf Wiedereinsetzung in die Berufungsbegründungsfrist nach § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO erst am 13.10.2016.
Rz. 13
Bei Zugrundelegung dieses Vortrags - Einlegung des Schriftsatzes am Morgen des 22.8.2016 bei Kenntnis davon, dass das Fach täglich am Vormittag geleert und der Inhalt an das OLG transportiert wird - durften die Prozessbevollmächtigten der Kläger darauf vertrauen, dass der Schriftsatz noch vor dem Ende der am 24.8.2016 ablaufenden Begründungsfrist beim OLG eingehen würde. Denn so standen insgesamt drei Arbeitstage zur Verfügung, an denen die Post vom AG zum OLG transportiert wird und an denen noch ein fristgemäßer Eingang des Schriftsatzes möglich gewesen wäre. Unter Berücksichtigung des in diesem Fall vorliegenden regelmäßig täglichen Postaustauschs ist der Eingang beim OLG am 25.8.2016 so außergewöhnlich verzögert erfolgt, dass die Prozessbevollmächtigten der Kläger damit nicht rechnen mussten.
Rz. 14
Dem steht auch nicht der schriftliche Hinweis entgegen, dass in das Gerichtsfach keine Fristsachen eingelegt werden sollen. Selbst wenn er sich auch auf das für das OLG bestimmte Austauschfach bezogen haben sollte, so wäre er nicht dahingehend zu verstehen, dass die Zustellung dieser Post verzögert erfolgt. Vielmehr wäre das als Hinweis darauf zu verstehen, dass mit der Einlegung in das Fach die Frist noch nicht gewahrt ist, weil es sich um keine gemeinsame Postannahmestelle handelt (vgl. BGH v. 23.1.2008 - XII ZB 155/07, VersR 2009, 1096 Rz. 12).
Rz. 15
3. Die angefochtene Entscheidung ist mithin aufzuheben und die Sache ist zur erneuten Entscheidung an das OLG zurückzuverweisen, weil sie nicht zur Endentscheidung reif ist (§ 577 Abs. 4 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 ZPO).
Rz. 16
Dem Senat ist eine eigene Entscheidung auch über das Wiedereinsetzungsgesuch verwehrt. Denn das OLG hat - von seinem Rechtsstandpunkt aus konsequent - offen gelassen, inwieweit es den Vortrag der Kläger für glaubhaft erachtet. Die hier noch nachzuholende Beweiswürdigung obliegt aber grundsätzlich dem Tatrichter (BGH Beschl. v. 27.9.2016 - XI ZB 12/14, WM 2016, 2170 Rz. 12). Zwar entscheidet der BGH in der Rechtsbeschwerde über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aus Gründen der Prozessökonomie selbst, soweit ihre Voraussetzungen nach Aktenlage ohne Weiteres vorliegen (BGH, Urt. v. 4.11.1981 - IVb ZR 625/80, FamRZ 1982, 255, 256). Das ist hier aber nicht der Fall, weil derzeit zumindest das Vorbringen zur Einlegung der Berufungsbegründung in das Gerichtspostfach nicht durch eidesstattliche Versicherung oder auf andere Weise glaubhaft gemacht ist. Die von den Klägern insoweit angebotene Zeugenaussage ist kein präsentes Beweismittel und daher nach § 294 Abs. 2 ZPO nicht zur Glaubhaftmachung geeignet. Die Nachholung der Glaubhaftmachung kann aber gem. § 236 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 ZPO noch während des laufenden Verfahrens über den Wiedereinsetzungsantrag erfolgen (BGH Beschlüsse v. 26.4.2016 - VI ZB 4/16, MDR 2016, 1223 Rz. 14; v. 22.6.2004 - VI ZB 14/04, NJW 2004, 3491, 3492).
Rz. 17
Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 577 Abs. 6 Satz 3 ZPO).
Fundstellen
Haufe-Index 10671495 |
BB 2017, 961 |
NJW 2017, 8 |
FamRZ 2017, 1068 |
FuR 2017, 381 |
NJW-RR 2017, 687 |
FA 2017, 178 |
JurBüro 2017, 615 |
ZAP 2017, 569 |
AnwBl 2017, 1005 |
JZ 2017, 386 |
MDR 2017, 722 |
FamRB 2017, 260 |
RENOpraxis 2017, 140 |
Mitt. 2017, 428 |