Verfahrensgang
LG Gera (Urteil vom 12.03.2002) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Gera vom 12. März 2002 mit den Feststellungen aufgehoben
- im Schuldspruch mit Ausnahme der Fälle des Anal- und des ersten Vaginalverkehrs (Tatzeiten: Ende August/Anfang September 1998),
- im Rechtsfolgenausspruch mit Ausnahme der Einzelstrafen für die vorbenannten Fälle.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in 143 Fällen in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch von Schutzbefohlenen, davon in 47 Fällen in Tateinheit mit schwerem sexuellen Mißbrauch von Kindern, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von elf Jahren verurteilt und die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Die auf die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat in dem aus der Beschlußformel ersichtlichen Umfang Erfolg.
1. Die Nachprüfung des Urteils hat zu den Fällen des – einzigen – Anal- und des ersten Vaginalverkehrs, die jeweils nach dem 13. Geburtstag der Geschädigten Ende August/Anfang September 1998 gewaltsam und gegen den Willen der Geschädigten durchgeführt wurden, weder im Schuld- noch im Einzelstrafausspruch einen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO).
Zwar hat die Kammer noch eine weitere Tat, nämlich den ersten Oralverkehr, hinreichend konkret im Hinblick auf die Tatbestandsvoraussetzungen des § 177 Abs. 1 Nr. 2 StGB festgestellt (UA S. 8). Noch am Wohnsitz O. … nach dem 14. Geburtstag des Opfers, dem 4. August 1999, und vor dem Umzug im April 2000 wurde dieser Oralverkehr nach den Feststellungen durch Androhen von Schlägen erzwungen. Die Kammer hat diese Tat jedoch dem Schuldspruch offensichtlich nicht zugrundegelegt, weil sie nur den Anal- und Vaginalverkehr ausurteilen wollte (UA S. 29, 31). Damit ist der von der zugelassenen Anklage erfaßte erste Oralverkehr nicht mit abgeurteilt. Der neue Tatrichter hat Gelegenheit, dies nachzuholen.
2. Im übrigen kann die Verurteilung wegen weiterer Vergewaltigungen keinen Bestand haben. Denn in 141 Fällen ist weder eine finale Gewaltanwendung noch eine Drohung im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 2 StGB ausreichend konkretisiert. Soweit die Kammer annimmt, der Angeklagte habe bis zum 14. Geburtstag des Opfers in mindestens weiteren 45 Fällen und nach dem 14. Geburtstag in mindestens 96 Fällen durch Gewalt oder Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben vaginalen Geschlechtsverkehr erzwungen (UA S. 29), tragen die rudimentären Feststellungen die Annahme einer Vergewaltigung nicht.
Die Strafkammer hat für die Fälle bis zum 14. Geburtstag im Anschluß an den ersten, mit Gewalt erzwungenen Vaginalverkehr von August/September 1998 lediglich zusammenfassend festgestellt, daß solche Übergriffe sich dann immer öfter ereigneten. Es sei etwa fünf- bis siebenmal monatlich zum Geschlechtsverkehr gekommen, wenn der Angeklagte Lust auf Sex mit der 13jährigen S., der Tochter seiner Lebensgefährtin, gehabt habe. Das sei gewöhnlich im Kinderzimmer geschehen, wenn keiner da gewesen sei (UA S. 7).
Für die Fälle nach dem 14. Geburtstag bis zum Haftantritt des Angeklagten am 9. April 2001 hat die Kammer nur festgestellt, der Angeklagte habe sein Treiben fortgesetzt und sich zu zwei- bis dreimal in der Woche gesteigert. Phasenweise habe es täglich Geschlechtsverkehr gegeben; manchmal sei S. die ganze Nacht über mißbraucht worden (UA S. 7, 8).
Ergänzend hat die Kammer noch ausgeführt, der Angeklagte habe die Geschädigte zu den Handlungen gebracht, indem er ihr Prügel angedroht und sie auch verprügelt habe (UA S. 10). Bei den „Vaginalverkehren” lasse sich das jeweils wirkende Maß der Gewalt sowie die Dauer der Taten nicht mehr zuordnen (UA S. 34).
3. Das hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Auch bei Serienstraftaten müssen die Tatbestandsmerkmale des § 177 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 StGB der finalen Gewaltanwendung oder der Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben für jede Tat konkret und individualisiert festgestellt werden (BGHSt 42, 107, 111; BGH StV 2001, 450). Wegen der erfahrungsgemäß nicht gleichen Handlungsabläufe beim Einsatz des Nötigungsmittels bedarf es dazu näherer Feststellungen. Allerdings dürfen bei einer Vielzahl von sexuellen Übergriffen an die Individualisierbarkeit der einzelnen Taten im Urteil keine überspannten Anforderungen gestellt werden. Aber eine unzureichende Konkretisierung darf auch nicht dazu führen, daß der Angeklagte in seinen Verteidigungsmöglichkeiten beschränkt wird (BGHR StGB § 176 Serienstraftaten 7, 8).
Die Bezugnahme auf den ersten mit Gewalt erzwungenen Vaginalverkehr und die allgemeine Feststellung, der Angeklagte habe Prügel angedroht oder auch verprügelt, reicht bei dem Gewalt und Drohung bestreitenden Angeklagten nicht aus, um in weiteren nur mathematisch aufgelisteten Fällen die Tatbestandsvoraussetzungen des Verbrechens der Vergewaltigung zu belegen, zumal der Angeklagte nach den Urteilsgründen Schläge und andere Gewaltformen auch zu anderen Zwecken einsetzte. Danach wurde S. schon vor den ersten sexuellen Kontakten etwa einmal im Monat vom Angeklagten geschlagen, später auch aus Eifersucht (vgl. UA S. 10). Ferner werden Fesselungen ans Ehebett festgestellt, die ausschließlich der Züchtigung dienten und in keiner erkennbaren finalen Verknüpfung zu sexuellen Handlungen standen (UA S. 11). Andererseits versuchte der Angeklagte, S. auch durch Geschenke zu Wohlverhalten zu bringen.
Soweit das Landgericht als eine aus seiner Sicht aus der Serie herausragende Tat einen Vorfall nach der Jugendweihe festgestellt hat, bei dem der Angeklagte auf dem betrunkenen Opfer „rumpollte”, hat der Angeklagte jedenfalls keinen Widerstand der Geschädigten überwunden. Ebenso stellt das Landgericht weder Gewalt noch Drohung mit Gewalt fest, wenn es zum letzten sexuellen Übergriff am Wochenende vor der Inhaftierung des Angeklagten ausführt, die Zeugin habe sich im Bett auf den Bauch legen müssen, während der Angeklagte sich selbst befriedigt und „auf sie gespritzt” habe. Auch beim letzten Oralverkehr, der allerdings nicht Grundlage des Schuldspruchs ist, setzte der Angeklagte nach den Feststellungen kein Nötigungsmittel im Sinne des § 177 Abs. 1 StGB ein. Er zwang das Mädchen dazu, indem er ihr androhte, daß sie sonst nicht mit auf eine Klassenfahrt gedurft hätte. Bei dieser Sachlage kann nicht ausgeschlossen werden, daß der Angeklagte in einzelnen oder sogar der Mehrzahl der Fälle das Mädchen zwar sexuell mißbraucht, hierzu aber keine Gewalt oder zumindest eine konkludente Drohung mit Gewalt als Nötigungsmittel eingesetzt hat.
Diese Mängel führen zur Aufhebung des Urteils im Schuld- und Einzelstrafausspruch in 141 Fällen und im Ausspruch über die Gesamtstrafe sowie die Anordnung der Sicherungsverwahrung.
Unterschriften
Rissing-van Saan, Detter, Otten, Rothfuß, Elf
Fundstellen