Tenor
Die beabsichtigte Entscheidung des 2. Strafsenats widerspricht der Rechtsprechung des 3. Strafsenats, der an dieser festhält.
Gründe
Rz. 1
Der 2. Strafsenat hat über die Revisionen von zwei Angeklagten zu entscheiden, die vom Landgericht jeweils wegen Diebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei in neunzehn (L.) bzw. achtzehn (E.) Fällen zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden sind. Der 2. Strafsenat hält die Verurteilung auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Wahlfeststellung zwischen Diebstahl und Hehlerei für rechtsfehlerfrei. Er möchte diese Rechtsprechung jedoch aufgeben und beabsichtigt wie folgt zu entscheiden:
- „Die richterrechtlich entwickelte Rechtsfigur der ungleichartigen Wahlfeststellung verstößt gegen Art. 103 Abs. 2 GG.
- Eine wahldeutige Verurteilung wegen (gewerbsmäßigen) Diebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei ist daher unzulässig.”
Rz. 2
Hieran sieht er sich jedoch durch entgegenstehende Rechtsprechung des 3. Strafsenats gehindert (vgl. etwa Senat, Beschlüsse vom 19. Januar 2000 – 3 StR 500/99, BGHR StGB § 260 Wahlfeststellung 1; vom 31. Januar 1996 – 3 StR 563/95, BGHR StGB § 259 Abs. 1 Wahlfeststellung 2). An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest.
Rz. 3
Die Rechtsfigur der ungleichartigen (echten) Wahlfeststellung verstößt nicht gegen Art. 103 Abs. 2 GG (I.). Auch die aus dem Rechtsstaatsgebot folgenden Grundsätze des Schuldprinzips (II.) und der Unschuldsvermutung (III.) sind nicht betroffen.
Rz. 4
I. Die richterrechtlich entwickelte Rechtsfigur der ungleichartigen Wahlfeststellung verletzt Art. 103 Abs. 2 GG nicht.
Rz. 5
1. Diese Rechtsfigur kommt nur in Fällen zur Anwendung, in denen nach Ausschöpfung aller Beweismittel zwar feststeht, dass der Angeklagte gegen einen von mehreren Straftatbeständen verstoßen hat, aber nicht weiter aufklärbar ist, gegen welchen dieser Tatbestände. Der Sache nach handelt es sich bei der Wahlfeststellung damit um eine Entscheidungsregel, die, indem sie vorgibt, wie bei einer solchen Unaufklärbarkeit zu entscheiden ist, grundsätzlich mit dem Zweifelssatz vergleichbar ist. Da sie aber bei Vorliegen ihrer Voraussetzungen – anders als der Grundsatz „in dubio pro reo” – für den Fall der sich gegenseitig ausschließenden Sachverhaltsalternativen nicht zu einer bestimmten Verurteilung oder zum Freispruch gelangt, sondern im Schuldspruch zu einer wahldeutigen Verurteilung bei Festsetzung der für die am wenigsten schwerwiegende Sachverhaltsalternative angemessenen Strafe (vgl. SK-StGB/Wolter [Stand: Oktober 2013], Anh. zu § 55 Rn. 5a), mag die Wahlfeststellung in der Tat in einem Spannungsverhältnis zum Zweifelssatz stehen (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Januar 2014 – 2 StR 495/12, NStZ 2014, 392, 394); dies entspricht – mit Unterschieden im Detail – der überwiegenden Auffassung in der Literatur (vgl. LK/Dannecker, StGB, 12. Aufl., Anh. zu § 1 Rn. 8; SSW-StGB/Satzger, 2. Aufl., § 1 Rn. 71: Durchbrechung des Zweifelssatzes; MüKoStGB/Schmitz, 2. Aufl., Anh. zu § 1 Rn. 12: Einschränkung; SK-StGB/Wolter aaO, Anh. zu § 55 Rn. 5c; ders., GA 2013, 271, 276: Wahlfeststellung variiert den in-dubio-Satz; aA Nüse, GA 1953, 33, 38; Stuckenberg, ZIS 2014, 461, 468: Wahlfeststellung berührt den Zweifelssatz nicht), ändert indes nichts an der Eigenschaft dieses Rechtsinstituts als Entscheidungsregel, durch die die verfahrensrechtliche Frage beantwortet wird, wie mit der genannten Beweissituation umzugehen ist (vgl. Stuckenberg aaO; SK-StGB/Wolter aaO, Anh. zu § 55 Rn. 5a; Günther, Verurteilungen im Strafprozess trotz subsumtionsrelevanter Zweifel, S. 263). Solche prozessualen Regelungen werden von Art. 103 Abs. 2 GG jedoch nicht erfasst (Kudlich in Kudlich/Montiel/Schuhr, Gesetzlichkeit und Strafrecht, 2012, 233, 239 ff.).
Rz. 6
Ob die ungleichartige Wahlfeststellung daneben auch Elemente enthält, die dem materiellen Strafrecht zuzuordnen sind, kann offen bleiben. Weder wird dadurch die Reichweite der in Art. 103 Abs. 2 GG enthaltenen Gewährleistung verändert, noch wird durch eine solche Zuordnung dessen Anwendungsbereich ohne weiteres eröffnet (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. Mai 1994 – 2 BvR 746/94, NStZ 1994, 480 zur Ruhensregelung des § 78b Abs. 4 StGB). Für die Anwendbarkeit von Art. 103 Abs. 2 GG ist alleine entscheidend, ob die ungleichartige Wahlfeststellung strafbarkeitsbegründend wirkt oder in ihrer Konsequenz dazu führt, dass Art und Maß der Strafe nicht mehr vom Gesetzgeber vorgegeben sind (zum Gewährleistungsgehalt des Art. 103 Abs. 2 GG im Einzelnen vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2011 – 2 BvR 2500/09 u.a., NStZ 2012, 496, 503); dies ist nicht der Fall.
Rz. 7
2. Das Rechtsinstitut der ungleichartigen Wahlfeststellung wirkt nicht strafbarkeitsbegründend und berührt damit nicht den Grundsatz „nullum crimen sine lege”. Es bestimmt nicht die Voraussetzungen, unter denen das Verhalten des Angeklagten als strafbar zu qualifizieren ist. Diese folgen aus den alternativ in Betracht kommenden Straftatbeständen. Die Rechtsfigur regelt alleine – in den Fällen der ungleichartigen ebenso wie in denen der gleichartigen Wahlfeststellung – wie dem zweifelsfrei strafbaren Verhalten des Angeklagten eine Rechtsfolge gegeben werden soll. Betroffen ist nicht das „Ob” der Strafbarkeit, sondern das „Wie” der Schuldspruchfassung und Rechtsfolgenbestimmung (vgl. SK-StGB/Wolter aaO, Anh. zu § 55 Rn. 5a). Der Zweck des Gesetzlichkeitsprinzips, für den Angeklagten seine Bestrafung vorhersehbar zu halten (BVerfG, Urteil vom 20. März 2002 – 2 BvR 794/95, BVerfGE 105, 135, 153), wird nicht tangiert. Vielmehr muss der Täter im Tatzeitpunkt damit rechnen, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden (so auch Freund in Festschrift Wolter, 2013, 35, 36).
Rz. 8
Grundlage der Bestrafung des Angeklagten ist in den Fällen der ungleichartigen Wahlfeststellung insbesondere keine ungeschriebene dritte Norm, die übereinstimmende Unrechtselemente der beiden nicht unzweifelhaft zur Anwendung gelangenden Strafgesetze in sich vereinigen würde (so aber Endruweit, Die Wahlfeststellung und die Problematik der Überzeugungsbildung, der Identitätsbestimmung, der Urteilssyllogistik sowie der sozialen und personalen Gleichwertigkeit von Straftaten, 1973, 269 f. unter Berufung auf v. Bar, GA 15 [1867] 569, 574; Freund aaO, 49; dagegen überzeugend Stuckenberg aaO, 469 f.). Nach der logischen Struktur der Wahlfeststellung wird gerade nicht eindeutig wegen einer „zwischen” den gesetzlichen Tatbeständen liegenden Handlung verurteilt. Vielmehr muss in jeder in Betracht kommenden Sachverhaltsvariante jeweils ein Straftatbestand vollständig erfüllt sein. Nur in diesem Fall ist ein alternativ zu fassender Schuldspruch zulässig.
Rz. 9
Dass der vom Gericht zu treffende Schuldspruch stets bestimmt sein müsse, lässt sich Art. 103 Abs. 2 GG zudem nicht entnehmen (so auch NK-StGB-Frister, 4. Aufl., Nachbemerkungen zu § 2 Rn. 77; SK-StPO/Velten, 4. Aufl., § 261 Rn. 103; KMR-Stuckenberg [Stand: August 2013], § 261 Rn. 149; SK-StGB/Wolter aaO, Anh. zu § 55 Rn. 5b; ders., GA 2013, 271, 274 ff.).
Rz. 10
Aus dem Umstand, dass eine Verurteilung im Falle der ungleichartigen Wahlfeststellung nach den richterrechtlich entwickelten Grundsätzen nur zulässig ist, wenn die in Betracht kommenden Straftatbestände rechtsethisch und psychologisch vergleichbar sind, ergibt sich nichts anderes. Diese Anwendungsvoraussetzung wirkt nicht strafbarkeitsbegründend, sondern schränkt den Anwendungsbereich der Rechtsfigur, die gemessen an Art. 103 Abs. 2 GG auch unbeschränkt zulässig wäre (KMR-Stuckenberg aaO), lediglich ein.
Rz. 11
3. Die ungleichartige Wahlfeststellung verstößt nicht gegen das aus Art. 103 Abs. 2 GG folgende Gebot „nulla poena sine lege”. Art und Maß der Strafe bleiben vom parlamentarischen Gesetzgeber vorgegeben, da der Angeklagte auf der Grundlage kodifizierter Straftatbestände bestraft wird.
Rz. 12
Den Strafzumessungsvorgang begleiten auch keine mit Art. 103 Abs. 2 GG nicht zu vereinbarenden Ungenauigkeiten. Die Strafe ist dem Gesetz zu entnehmen, das im konkreten Fall die mildeste Strafe zulässt. Der Tatrichter hat hierbei die jeweils in Betracht kommenden Strafen zu vergleichen und für sämtliche in Betracht kommenden Sachverhaltskonstellationen zu prüfen, auf welche Strafe jeweils zu erkennen wäre, wenn die eine oder die andere strafbare Handlung nachgewiesen wäre (BGH, Urteile vom 29. Oktober 1958 – 2 StR 375/58, BGHSt 13, 70, 72; vom 15. Mai 1973 – 4 StR 172/73, BGHSt 25, 182, 186; LR/Sander, StPO, 26. Aufl., § 261 Rn. 165; LK/Dannecker aaO, Anh. zu § 1 Rn. 160; SK-StGB/Wolter aaO, Anh. zu § 55 Rn. 46; Fischer, StGB, 61. Aufl., § 1 Rn. 47). Grundlage der Bestrafung ist – wie dargelegt – weder eine ungeschriebene dritte Norm noch eine auf verschiedenen Sachverhalten gründende, per Saldo festgestellte Schuld des Angeklagten, sondern der Schuldumfang, wie er sich aus der gleichermaßen eine Strafnorm ausfüllende und den Angeklagten am meisten begünstigenden Sachverhaltsvariante ergibt (vgl. auch Wolter GA 2013, 271, 276). Dass die Strafe dabei hinter dem wahren Schuldumfang des Angeklagten zurückbleiben kann, ist keine Eigenheit der ungleichartigen Wahlfeststellung, sondern eine aus der Anwendung des Zweifelssatzes folgende Konsequenz (s. auch Stuckenberg aaO, 470 f.).
Rz. 13
II. Die Rechtsfigur der ungleichartigen Wahlfeststellung ist weiter mit dem aus Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Schuldprinzip vereinbar.
Rz. 14
Der Schuldgrundsatz bindet die Rechtsprechung insoweit, als die Bestrafung auf einem Schuldvorwurf gründen muss sowie Strafe und Schuld in angemessenem Verhältnis stehen müssen. Bezüglich letzterer Konkretisierung stellt das Schuldprinzip eine spezielle Ausprägung des Übermaßverbotes dar (BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 2007 – 2 BvR 1050/07, wistra 2008, 179 mwN). Dass dem Angeklagten ein Schuldvorwurf zu machen ist, steht in den Fällen einer – ungleichartigen wie gleichartigen – wahldeutigen Verurteilung fest. Soweit sich aus den verschiedenen Sachverhaltsvarianten differenzierende Schuldgehalte ergeben, ist das Schuldprinzip nur in seinem Übermaßverbot betroffen. Dieses ist dadurch gewahrt, das die Strafe stets auf der dem Angeklagten günstigsten Sachverhaltsvariante gründen muss.
Rz. 15
III. Auch die aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende, grundgesetzlich gewährleistete Unschuldsvermutung (zu deren Gewährleistungsgehalt vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Januar 2008 – 2 BvR 1975/06, juris Rn. 9 mwN) ist durch die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur unechten Wahlfeststellung nicht betroffen. Eine Verurteilung ist in den Fällen der ungleichartigen Wahlfeststellung erst nach Ausschöpfung aller in Betracht kommenden Beweismittel möglich, wobei der Tatrichter überzeugt sein muss, dass in jeder denkbaren Sachverhaltsvariante ein strafbares Handeln des Angeklagten vorgelegen haben muss. Die Frage, welche Rechtsfolgen sich hieraus ergeben, betrifft den Grundsatz der Unschuldsvermutung nicht.
Unterschriften
Becker, Pfister, Mayer, Gericke, Spaniol
Fundstellen
Haufe-Index 7490901 |
NStZ-RR 2015, 39 |
RÜ 2015, 97 |
LL 2015, 296 |