Tenor
Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.
Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt.
Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem nach den allgemeinen Vorschriften zuständigen Gericht übertragen.
Tatbestand
I.
Rz. 1
Der Beschuldigte befindet sich seit dem 11. Mai 2021 aufgrund Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 4. Mai 2021 (OGs 48/21) ununterbrochen in Untersuchungshaft.
Rz. 2
Gegenstand des auf die Haftgründe der Fluchtgefahr sowie der Schwerkriminalität gestützten Haftbefehls ist der Vorwurf, der Beschuldigte habe sich als Mitglied an der ausländischen terroristischen Vereinigung „Arbeiterpartei Kurdistans” („Partiya Karkeren Kurdistan”, PKK) beteiligt, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet seien, Mord (§ 211 StGB) oder Totschlag (§ 212 StGB) zu begehen, strafbar gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 StGB. Der Beschuldigte soll als hauptamtlicher Kader ab Juli 2018 zunächst das PKK-Gebiet F. … und ab Mitte Juli 2019 bis zu seiner Festnahme das PKK-Gebiet H. geleitet haben.
Entscheidungsgründe
II.
Rz. 3
Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor.
Rz. 4
1. Der Beschuldigte ist der ihm zur Last gelegten Tat dringend verdächtig.
Rz. 5
a) Nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts von folgendem Sachverhalt auszugehen:
Rz. 6
aa) Die PKK wurde 1978 unter anderem von Abdullah Öcalan in der Türkei als Kaderorganisation mit dem Ziel gegründet, einen kurdischen Nationalstaat unter ihrer Führung zu schaffen. Zur Verwirklichung dieses Plans initiierte die PKK verschiedene Organisationen, die mehrfach ihre Bezeichnung wechselten. So besteht seit 2007 – unter dieser Bezeichnung – die „Koma Civakên Kurdistan” („Vereinigte Gemeinschaften Kurdistan”, im Folgenden: KCK), die auf einen staatsähnlichen „konföderalen” Verbund der kurdischen Siedlungsgebiete in der Türkei, in Syrien, im Iran und im Irak zielt und dabei umfangreiche staatliche Attribute beansprucht wie Parlament, Gerichtsbarkeit, Armee und Staatsbürgerschaft.
Rz. 7
Die KCK ist, ebenso wie die PKK, auf die Person Abdullah Öcalan ausgerichtet. Daneben vollzieht sich die Willensbildung innerhalb der Organisation etwa über den „Kongra Gele Kurdistan” (KONGRA GEL – „Volkskongress Kurdistans”) und den KCK-Exekutivrat. Die Führungskader folgen grundsätzlich dieser Willensbildung und setzen die getroffenen Entscheidungen um. Zur Überprüfung haben sie den Kadern der übergeordneten Ebene regelmäßig Bericht über ihre Tätigkeit zu erstatten.
Rz. 8
Fester Bestandteil der Strukturen der PKK/KCK sind auch die „Hêzên Parastina Gel” („Volksverteidigungskräfte”, fortan: HPG), die nach dem Willen der Führung handeln. Sie betrachten im Rahmen der von ihnen vorgenommenen „Selbstverteidigung” einen Guerillakrieg als legitimes Mittel. Die HPG verübten vor allem im Südosten der Türkei mittels Sprengstoff und Waffen Anschläge gegen türkische Soldaten sowie Polizisten, wobei sie eine Vielzahl von ihnen verletzten oder töteten. Die HPG bekannten sich seit der Aufkündigung eines „Waffenstillstands” zum 1. Juni 2004 zu über hundert Anschlägen.
Rz. 9
Das Präsidium des Exekutivrats der KCK erklärte, nachdem Abdullah Öcalan aus der Haft heraus eine Friedensbotschaft verlesen und zu einer gewaltfreien politischen Lösung des Konflikts aufgerufen hatte, ab dem 23. März 2013 eine Feuerpause. In der Folge verübten die HPG zwar deutlich weniger Anschläge, ohne dass damit aber eine Abkehr von der Ausrichtung der Organisation auf die Begehung von Tötungsdelikten verbunden gewesen wäre; vielmehr enthielt die Erklärung bereits den Vorbehalt, dass im Fall von Angriffen von dem „Recht auf Selbstverteidigung” Gebrauch gemacht und Vergeltung geübt werde.
Rz. 10
Nachdem der „Friedensprozess” im Juli 2015 endgültig zum Erliegen gekommen war, kam es in der Folge zu Gefechten mit den türkischen Streitkräften, die ihrerseits mit massiver militärischer Gewalt vorgingen. In diesen Auseinandersetzungen spielte die „Patriotisch revolutionäre Jugendbewegung” (YDGH – Yurtsever Devrimci Genclik Hareketi), die sich mit den Selbstverteidigungskräften der HPG zusammenschloss, eine bedeutsame Rolle. Parallel dazu nahmen die Anschläge der HPG, bei denen Angehörige der türkischen Sicherheitskräfte, aber auch Zivilisten getötet oder verletzt wurden, wieder erheblich zu.
Rz. 11
Der Schwerpunkt der Strukturen und das eigentliche Aktionsfeld der PKK liegen in den von Kurden bevölkerten Gebieten in der Türkei, in Syrien, im Irak und im Iran. Zahlreiche – regelmäßig nur auf die Unterstützung der politischen und militärischen Auseinandersetzung mit dem türkischen Staat ausgerichtete – Aktivitäten betreibt die PKK indes auch in Deutschland und anderen Ländern Westeuropas. Dazu bediente sie sich bis Juli 2013 der „Civata Demokratîk a Kurdistan” („Kurdische Demokratische Gesellschaft”, im Folgenden: CDK), welche die Direktiven der KCK-Führung umzusetzen hatte und namentlich dazu diente, die in Europa lebenden Kurden zu organisieren. Entsprechend den Vorgaben des 10. CDK-Kongresses vom Mai 2013 zur Neustrukturierung der PKK in Europa benannte sich der europäische Dachverband PKK-naher Vereine „Konföderation der kurdischen Vereine in Europa” (KON-KURD) im Juli 2013 in „Kongress der kurdisch-demokratischen Gesellschaft in Europa” (KCD-E) um. Unter der Bezeichnung KCD-E werden nicht nur die Strukturen des KON-KURD, sondern auch diejenigen der CDK fortgeführt.
Rz. 12
Unterhalb der Führungsebene war und ist Europa in Organisationseinheiten verschiedener Ebenen eingeteilt. In Deutschland gab es seit 2002 die drei Sektoren („saha”) „Süd”, „Mitte” und „Nord”; 2012 wurde der Sektor „Süd” in die Sektoren „Süd 1” und „Süd 2” aufgeteilt. Im Jahr 2016 wurden in den vier Sektoren neun Regionen („eyalet”) mit insgesamt 31 Gebieten („bölge”) gebildet. Jede dieser Organisationseinheiten wird in der Regel von einem durch die Organisation eingesetzten und alimentierten, professionellen Führungskader geleitet. Die Organisationseinheiten stellen der PKK Finanzmittel bereit, rekrutieren Nachwuchs für den Guerillakampf und betreiben Propaganda. Dabei haben sie die Vorgaben der Europaführung umzusetzen und ihr über die Erfüllung ihrer Aufgaben regelmäßig Bericht zu erstatten.
Rz. 13
bb) Der aus der Türkei stammende Beschuldigte leitete ab Juli 2018 zunächst das PKK-Gebiet F. und ab Mitte Juli 2019 das PKK-Gebiet H. … als hauptamtlicher Kader der PKK in Kenntnis ihrer Ziele, Programmatik und Methoden. Dabei war er unter anderem damit befasst, Propagandaveranstaltungen zu organisieren, vereinigungsbezogene Feierlichkeiten vorzubereiten und durchzuführen, sich an organisationsbezogenen Demonstrationen sowie Veranstaltungen auch außerhalb seines jeweiligen Zuständigkeitsbereichs zu beteiligen, sogenannte Spendengelder beizutreiben, an Kadertreffen teilzunehmen, Zusammenkünfte von PKK-Funktionären zu organisieren und zur Verbreitung der PKK-Ideologie Melodien zu komponieren sowie Liedtexte über Abdullah Öcalan zu verfassen. Wegen der Einzelheiten wird auf den Haftbefehl Bezug genommen.
Rz. 14
b) Der dringende Tatverdacht hinsichtlich der außereuropäischen terroristischen Vereinigung PKK und ihrer Teilstrukturen in Deutschland beruht – wie dem Senat aus vielen Verfahren bekannt ist – auf Erkenntnissen der Strafverfolgungsbehörden, insbesondere des Bundeskriminalamts, die sich in zahlreichen Auswerteberichten finden und auf deren Grundlage es bereits vielfach zu Verurteilungen von Kadern der PKK durch verschiedene Oberlandesgerichte gekommen ist, sowie auf öffentlichen Verlautbarungen der Organisation.
Rz. 15
Die Handlungen des Beschuldigten, der sich zur Sache nicht eingelassen hat, ergeben sich im Wesentlichen aus der Auswertung überwachter Telekommunikation, eines beim Beschuldigten und eines weiteren – in einem anderen Ermittlungsverfahren – sichergestellten Mobiltelefons sowie eines von ihm genutzten E-Mail-Postfaches, aus Observationserkenntnissen des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg nebst polizeilichen Videoaufnahmen, aus – mittels GPS-Tracker – übermittelten Standortdaten und aus Erkenntnissen einer Fahrzeuginnenraumüberwachung. Wegen der Einzelheiten wird auf den Haftbefehl Bezug genommen.
Rz. 16
c) In rechtlicher Hinsicht folgt daraus, dass sich der Beschuldigte mit hoher Wahrscheinlichkeit wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland strafbar gemacht hat (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 StGB). Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hat die Ermächtigung zur Verfolgung unter anderem der jeweiligen Verantwortlichen für die in Deutschland bestehenden Gebiete der PKK erteilt.
Rz. 17
2. Es bestehen der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO sowie – auch bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO (s. BGH, Beschluss vom 24. Januar 2019 – AK 57/18, juris Rn. 30 ff.) – derjenige der Schwerkriminalität.
Rz. 18
Der Beschuldigte hat im Falle seiner Verurteilung mit einer erheblichen Freiheitsstrafe zu rechnen. Dem mithin gegebenen Fluchtanreiz stehen keine hinreichenden fluchthindernden Umstände entgegen. So verfügt der unverheiratete Beschuldigte, der in einer Gemeinschaftsunterkunft gemeldet ist, nicht über inländische familiäre Bindungen von Gewicht. Einer legalen beruflichen Tätigkeit geht er nicht nach. Als mutmaßliches Mitglied der PKK, das in verantwortlicher Position tätig war, kann er mit hoher Wahrscheinlichkeit auf deren Strukturen einschließlich konspirativer Kommunikationsformen zurückgreifen, um unterzutauchen. Auch die vom Beschuldigten gegenüber der Ausländerbehörde in B. geäußerten Schulter- und Nackenbeschwerden senken das Risiko einer Flucht nicht entscheidend ab. Hierbei fällt insbesondere ins Gewicht, dass er bereits seit vielen Jahren mit derartigen Beschwerden lebt und seinen Alltag bestreiten konnte.
Rz. 19
Vor diesem Hintergrund ist insgesamt zu erwarten, dass er sich, sollte er in Freiheit gelangen, dem weiteren Strafverfahren durch Flucht entziehen wird. Dieser Gefahr kann durch andere fluchthemmende Maßnahmen nicht genügend begegnet werden, weshalb der Zweck der Untersuchungshaft auch nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen im Sinne des § 116 StPO erreicht werden kann.
Rz. 20
3. Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 StPO) sind gegeben. Die besondere Schwierigkeit und der Umfang der Ermittlungen haben ein Urteil noch nicht zugelassen und rechtfertigen die Haftfortdauer.
Rz. 21
Auf dem am 11. Mai 2021 sichergestellten Mobiltelefon des Beschuldigten sind über 300 Anrufe, mehr als 500.000 Dateien und Medien, über 3.000 Kontakte, 11.000 Nachrichten sowie 4.000 Web-Einträge festgestellt worden. Da sämtliche Dokumente, Text- und Sprachnachrichten in kurdischer und türkischer Sprache verfasst waren, war die Hinzuziehung eines Dolmetschers erforderlich. Die Auswertung dieser sehr umfangreichen Daten ist sodann vom 4. August bis 14. Oktober 2021 vorgenommen worden. Daneben hat das Landeskriminalamt Baden-Württemberg am 5. Oktober 2021 der Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart die Übersetzung einzelner schriftlicher Asservate übersandt, die aufgrund ihrer Bedeutung für das Verfahren nochmals gesondert übersetzt worden sind. Die Ermittlungsakten sind zeitnah am 18. Oktober 2021 durch das Landeskriminalamt der Generalstaatsanwaltschaft vorgelegt worden. Am 21. Oktober 2021 haben die Verteidiger Akteneinsicht in die nunmehr vorliegende Ermittlungsakte im Umfang von 27 Stehordnern erhalten. Die Generalstaatsanwaltschaft hat mitgeteilt, dass in Kürze Anklage erhoben wird.
Rz. 22
Insgesamt ist danach – entgegen der im Verteidigerschriftsatz vom 5. November 2021 vertretenen Ansicht – das Verfahren ausreichend gefördert worden.
Rz. 23
4. Schließlich steht die Untersuchungshaft nach Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten einerseits sowie dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit andererseits derzeit nicht zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe außer Verhältnis (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).
Unterschriften
Schäfer, Berg, Voigt
Fundstellen
Dokument-Index HI14970299 |