Leitsatz (amtlich)
Ein Kraftfahrer darf grundsätzlich nicht darauf vertrauen, daß ein Kind anhalten wird, wenn es mit einem Fahrrad auf die Fahrbahn zufährt und nicht eindeutig erkennen läßt, daß es rechtzeitig abbremsen werde.
Normenkette
StVO § 3 Abs. 2a
Verfahrensgang
OLG Oldenburg (Oldenburg) (Urteil vom 24.04.1996) |
LG Osnabrück |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 3. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 24. April 1996 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als der Klägerin Ansprüche auf Ersatz weiterer 25 % des materiellen Zukunftsschadens sowie auf Ersatz des gegenwärtigen und künftigen immateriellen Schadens unter Berücksichtigung eines Mithaftungsanteils der Klägerin von 50 % aberkannt worden sind.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die damals 10jährige Klägerin erlitt schwere Verletzungen, als sie am 28. August 1992 gegen 13.30 Uhr außerhalb geschlossener Ortschaft in P. von dem Beklagten zu 1) mit einem Lkw, dessen Halter die Beklagte zu 2) und dessen Haftpflichtversicherer die Beklagte zu 3) ist, angefahren wurde. Die Klägerin befand sich mit 21 Mitschülerinnen und Mitschülern auf einer Klassenfahrt mit Fahrrädern. Auf der Rückfahrt hatten sich kurz vor dem Ziel – dem Schulgebäude – zwei Gruppen gebildet, eine vordere in Begleitung des Lehrers M. und eine hintere, die die Studentin H. beaufsichtigte. Zwischen diesen beiden Gruppen fuhr die Klägerin mit zwei Mitschülerinnen auf dem Radweg neben der Ru.-Straße auf die Kreuzung Ru.-Straße/Rh.-Straße zu. Im Unterschied zu ihren beiden Mitschülerinnen hielt die Klägerin vor der Rh.-Straße, auf der der Verkehr vorfahrtberechtigt ist, nicht an, sondern fuhr in die durch Fahrbahnmarkierungen mit unterbrochenen Linien auf der Rh.-Straße gekennzeichnete Furt ein, in die der Radweg der Ru.-Straße einmündet. Dort wurde sie von dem – aus ihrer Blickrichtung von links kommenden – Lkw erfaßt, obwohl der Beklagte zu 1) noch ein Bremsmanöver eingeleitet und das Fahrzeug etwas nach links gezogen hatte.
Der Kreuzungsbereich ist übersichtlich ausgebaut und gewährte sowohl der Klägerin als auch dem Beklagten zu 1) uneingeschränkt freie Sicht. Für den Beklagten zu 1) waren, als er an die Kreuzung heranfuhr, sowohl die vordere Gruppe der Fahrtteilnehmer, die die Kreuzung bereits überquert hatte, als auch die hintere Gruppe außer Sichtweite; nur die Klägerin und ihre beiden Mitschülerinnen waren für ihn erkennbar. Die Geschwindigkeit des Lkw betrug im Zeitpunkt der Reaktion des Beklagten zu 1) etwa 63 km/h; die zulässige Höchstgeschwindigkeit beträgt an der Unfallstelle 70 km/h.
Die Klägerin hat geltend gemacht, der Beklagte zu 1) habe den Unfall schuldhaft verursacht; er hätte seine Geschwindigkeit deutlich reduzieren und jederzeit bremsbereit sein müssen, als er bereits aus größerer Entfernung erkannt habe, daß sie keine Anstalten gemacht habe, vor der Rh.-Straße anzuhalten. Die Klägerin hat – vorbehaltlich eines Anspruchsübergangs auf Sozialversicherungsträger oder Dritte – die Feststellung der gesamtschuldnerischen Verpflichtung der Beklagten zum Ersatz von 70 % ihres unfallbedingten materiellen Schadens, die Verurteilung der Beklagten zu 1) und 3) als Gesamtschuldner zur Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes unter Berücksichtigung eines Mithaftungsanteils von 30 % sowie die Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zu 1) und 3) zum Ersatz weiterer unfallbedingter immaterieller Schäden begehrt.
Das Landgericht hat entschieden, daß die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet seien, der Klägerin vorbehaltlich eines Anspruchsübergangs auf Sozialversicherungsträger oder Dritte 25 % ihres unfallbedingten materiellen Zukunftsschadens zu ersetzen; weiter hat es die Beklagten zu 1) und 3) als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin unter Berücksichtigung eines Mithaftungsanteils von 75 % ein Schmerzensgeld zu zahlen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen und auf die Berufung der Beklagten unter Abweisung der weitergehenden Klage festgestellt, daß die Beklagten vorbehaltlich eines Anspruchsübergangs als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin 25 % ihres unfallbedingten zukünftigen materiellen Schadens zu ersetzen.
Mit der Revision verfolgt die Klägerin die Klageansprüche weiter, wobei sie von einem Mitverursachungsbeitrag von 50 % ausgeht.
Entscheidungsgründe
I.
Nach Auffassung des Berufungsgerichts haften die Beklagten der Klägerin nur nach §§ 7 und 18 StVG. Den Beklagten zu 2) und 3) sei es nicht gelungen, den Unabwendbarkeitsbeweis nach § 7 Abs. 2 StVG zu erbringen, und der Beklagte zu 1) habe die gesetzliche Verschuldensvermutung aus § 18 Abs. 1 Satz 2 StVG nicht zu widerlegen vermocht. Nach den Aussagen der Zeugen H.B. und K. sei die Klägerin ohne Verminderung ihrer Geschwindigkeit an die Kreuzung herangefahren, so daß der Beklagte zu 1) nicht habe sicher sein können, daß sich die Klägerin an die Vorfahrtregelung im Kreuzungsbereich halten werde. Auf der anderen Seite habe die Klägerin aber nicht ein unfallursächliches Verschulden des Beklagten zu 1) bewiesen, so daß eine Verschuldenshaftung der Beklagten zu 1) und 3) aus §§ 823 ff. BGB zu verneinen sei. Nach den Aussagen der Zeugen V. und G.B. habe der Beklagte zu 1) davon ausgehen können, daß die Klägerin seinen Lkw gesehen habe und ihm die Vorfahrt gewähren werde; auch die Zeugin K. habe geglaubt, daß die Klägerin ihren Kopf in Richtung des herannahenden Lkw gewandt habe. Danach sei für den Beklagten zu 1) eine Unfallsituation erst in dem Augenblick entstanden, als die Klägerin erneut und kräftig in die Pedale getreten habe; in diesem Augenblick habe er aber auch situationsgerecht reagiert. Daß es sich bei der Klägerin um ein Kind gehandelt habe, habe ihn nicht von vornherein zu einer Verringerung der Geschwindigkeit veranlassen müssen. Auch gegenüber Kindern gelte der Vertrauensgrundsatz, der von dem Kraftfahrer nur dann besondere Vorkehrungen zur Abwendung der Gefahr verlange, wenn das Verhalten der Kinder Auffälligkeiten zeige, die zu einer Gefährdung führen könnten. Eine solche Situation habe im Streitfall aber erst bestanden, als die Klägerin nicht vor der Kreuzung angehalten habe, sondern weitergefahren sei; in diesem Augenblick sei der Unfall trotz situationsgerechter Reaktion nicht mehr zu vermeiden gewesen. Aus der Sicht des Beklagten zu 1) habe sich eine Gefährdungssituation nicht schon daraus ergeben, daß auf der Rh.-Straße eine Furt eingezeichnet sei, in die der Fahrradweg der Ru.-Straße münde; diese Furt stelle keinen Fußgängerüberweg dar, und Kinder im Alter der Klägerin wüßten genau, daß ihnen allenfalls ein „Zebrastreifen” den Vorrang einräumen könne.
Die Klägerin müsse ihrem Anspruch auf Ersatz ihres materiellen Schadens nach § 254 BGB ihr eigenes Fehlverhalten haftungsmindernd entgegenhalten lassen; außerdem wirke sich nach den zum gestörten Gesamtschuldnerausgleich entwickelten Rechtsgrundsätzen der Verursachungsbeitrag des Lehrers M., der seine Aufsichtspflicht verletzt habe, für die Beklagten haftungsmindernd aus. Unter Berücksichtigung der Betriebsgefahr des Lkw, die erheblich sei und das Unfallgeschehen und dessen Folgen nachhaltig geprägt habe, erscheine ein Haftungsanteil der Beklagten in Höhe von 25 % des zukünftigen materiellen Schadens gerechtfertigt.
II.
Diese Erwägungen halten einer Überprüfung nicht stand.
1. Nach Auffassung des Senats haften die Beklagten zu 1) und 3) der Klägerin auch aus dem Gesichtspunkt des Verschuldens nach §§ 823 ff. BGB.
Die Sorgfaltsanforderungen, denen der Beklagte zu 1) in seinem Fahrverhalten genügen mußte, bestimmen sich nach § 3 Abs. 2 a StVO. Als Zehnjährige war die Klägerin noch ein Kind im Sinne dieser Vorschrift (vgl. OLG Bamberg, Urteil vom 31. März 1992 – 5 U 48/91 – mit NA-Beschluß des Senats vom 26. Januar 1993 – VI ZR 130/92 – MZV 1993, 268 f.; OLG Hamburg, Urteil vom 3. Januar 1989 – 7 U 39/88 – mit NA-Beschluß des Senats vom 10. Oktober 1989 – VI ZR 41/88 – VersR 1990, 985 f.). Nach § 3 Abs. 2 a StVO muß sich ein Fahrzeugführer (u.a.) gegenüber Kindern insbesondere durch Verminderung seiner Fahrgeschwindigkeit und durch Breinebereitschaft so verhalten, daß eine Gefährdung dieser Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Das verlangt von dem Fahrzeugführer das Äußerste an Sorgfalt (vgl. Senatsurteil vom 19. April 1994 – VI ZR 219/93 – VersR 1994, 739 m.w.N.). Allerdings gilt auch gegenüber Kindern der Vertrauensgrundsatz. Danach muß der Fahrer besondere Vorkehrungen für seine Fahrweise nur dann treffen, wenn das Verhalten der Kinder oder die Situation, in der sie sich befinden, Auffälligkeiten zeigt, die zu einer Gefährdung führen können (vgl. Senatsurteil vom 21. Dezember 1993 – VI ZR 246/92 – VersR 1994, 326 m.w.N.).
Nach Auffassung des Senats ergibt die Würdigung des Fahrverhaltens des Beklagten zu 1), daß er auch unter Berücksichtigung des Vertrauensgrundsatzes den Sorgfaltsanforderungen des § 3 Abs. 2 a StVO nicht gerecht geworden ist. Dies gilt auch dann, wenn der Senat seiner Beurteilung die Verkehrssituation zugrunde legt, die sich aus den Aussagen der Zeugen V., G.B. und K. ergibt. Danach hat die Klägerin bei Annäherung an den Kreuzungsbereich zwar ihre Fahrt verlangsamt und auf den bevorrechtigten Verkehr geschaut. Dennoch konnte sich der Beklagte zu 1) nicht sicher sein, daß sie rechtzeitig anhalten werde, zumal sie auf einem Radweg fuhr, der in eine auf der Fahrbahn der Rh.-Straße gezeichnete Furt einmündete. Eine solche Furt kann, wie das Landgericht zutreffend ausführt, bei verkehrsungewandten Personen und insbesondere bei Kindern die Vorstellung erzeugen, sie hätten Vorfahrt. Für den Beklagten zu 1) bestand damit eine unklare Verkehrssituation, in der er verpflichtet war, seine Geschwindigkeit zu reduzieren, bis er sicher sein konnte, daß die Klägerin rechtzeitig anhalten werde. Solange das Verhalten der Klägerin noch unklar war, durfte er nach § 3 Abs. 2 a StVO nur mit einer Geschwindigkeit fahren, die es ihm ermöglichte, sein Fahrzeug vor der Klägerin noch anzuhalten oder ihr auszuweichen. In dieser Situation der Unklarheit bestand für ihn kein Vertrauensschutz.
Dies bedeutet, daß der Beklagte zu 1) und die Beklagte zu 3) neben ihrer Einstandspflicht aus der Gefährdungshaftung auch nach §§ 823 ff. BGB, § 3 PflVG – vorbehaltlich einer Anspruchsreduzierung wegen Mitverschuldens (vgl. hierzu nachfolgend unter 3.) – für die Unfallfolgen aufkommen müssen.
2. Die Klägerin hat die Beklagte zu 2) nur auf Ersatz ihrer materiellen Unfallschäden und nicht auf Schmerzensgeld in Anspruch genommen. Muß die Beklagte zu 2) für solche Schäden auch bereits nach § 7 Abs. 1 StVG aufkommen, so ist dennoch wegen der Haftungsbegrenzung aus § 12 StVG einerseits und der Schwere der Unfallverletzungen der Klägerin andererseits nicht auszuschließen, daß auch für den Ersatz der materiellen Schäden eine Haftung der Beklagten zu 2) aus § 831 BGB praktische Bedeutung gewinnen kann.
Das Berufungsgericht hat sich im Unterschied zum Landgericht mit diesem Haftungsgrund, der gemäß § 3 PflVG auch gegenüber der Beklagten zu 3) zum Tragen kommen kann, nicht auseinandergesetzt. Dies wird unter Ausschöpfung des Prozeßstoffs nachzuholen sein. Dabei wird das Berufungsgericht insbesondere die vom Landgericht verneinte Frage zu erörtern haben, ob der Entlastungsbeweis gemäß § 831 Abs. 1 Satz 2 BGB erbracht ist. Hierzu weist der Senat darauf hin, daß an den Beweis einer ausreichenden Überwachung eines angestellten Kraftfahrers im Interesse der Verkehrssicherheit strenge Anforderungen zu stellen sind. Der Arbeitgeber hat den Fahrer grundsätzlich auch bei der Ausführung der Fahrten, d.h. in seiner Fahrweise, zu überwachen; hierzu kann es geboten sein, daß er Kontrollfahrten vornimmt, die Fahrweise des Verrichtungsgehilfen also aus einem anderen Fahrzeug beobachtet (vgl. Senatsurteil vom 15. November 1983 – VI ZR 57/82 – VersR 1984, 67).
3. Das Berufungsgericht ist davon ausgegangen, daß der Lehrer M. seine Aufsichtspflicht verletzt hat und diese Pflichtverletzung für den Unfall mitursächlich ist. Es hat sich aber einer Entscheidung über die Gewichtung dieses Ursachenbeitrags enthalten. Dasselbe gilt für den Mitverursachungsbeitrag der Klägerin. Ohne eine Bestimmung der Haftungsquoten ist aber, wie die Revision zu Recht geltend macht, die Entscheidung des Berufungsgerichts nicht nachvollziehbar. Das Berufungsgericht wird nunmehr unter Berücksichtigung der Verschuldenshaftung der Beklagten die Haftungsanteile der Beteiligten zu bestimmen haben. Hierzu bemerkt der Senat:
Die Beklagten zu 1) und 2) – und mit ihnen die Beklagte zu 3) nach § 3 PflVG – bilden gegenüber der Klägerin eine Haftungseinheit (vgl. Senatsurteile vom 5. Oktober 1982 – VI ZR 72/80 – VersR 1983, 131, 132 und vom 13. Dezember 1994 – VI ZR 283/93 – VersR 1995, 427, 428). Ferner hat der Lehrer M. gegenüber der Klägerin den Haftungstatbestand des § 823 Abs. 1 BGB verwirklicht. Außerdem trifft die Klägerin selbst an dem Unfall ein Mitverschulden. Dies bedeutet, daß zunächst diese drei Unfallbeiträge nach den in BGHZ 30, 203, 211 zur Einzel- und Gesamtabwägung entwickelten Grundsätzen zu bestimmen sind. Da der Lehrer M. im Verhältnis zur Klägerin nach dem hier noch anwendbaren § 637 Abs. 4 RVO von der Haftung freigestellt ist, ist sodann – wie das Berufungsgericht zutreffend ausführt – nach den zum gestörten Gesamtschuldverhältnis entwickelten Rechtsgrundsätzen (vgl. Senatsurteil vom 23. Januar 1990 – VI ZR 209/89 – VersR 1990, 387 m.w.N.) der auf M. entfallende Haftungsanteil aus der Haftung der Beklagten auszugrenzen. Damit beschränken sich die Schadensersatzansprüche der Klägerin gegen die Beklagten auf den Haftungsanteil, der bei einer Gesamtschau auf die eine Haftungseinheit bildenden Beklagten entfällt.
Unterschriften
Groß, Dr. Lepa, Bischoff, Dr. v. Gerlach, Dr. Greiner
Fundstellen
Haufe-Index 1127387 |
NJW 1997, 2756 |
NVwZ 1997, 1247 |
Nachschlagewerk BGH |
JA 1998, 95 |
MDR 1997, 827 |
VRS 1998, 33 |