Entscheidungsstichwort (Thema)
sexueller Mißbrauch eines Kindes
Tenor
Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Chemnitz vom 27. November 1998 werden mit der Maßgabe verworfen, daß der Angeklagte des sexuellen Mißbrauchs eines Kindes in zwei Fällen schuldig ist.
Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft und die dadurch dem Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen; der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
– Von Rechts wegen –
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern sowie schweren sexuellen Mißbrauchs von Kindern zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Vom Vorwurf weiterer sexueller Mißbrauchshandlungen hat es ihn aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten führen zur Berichtigung des Schuldspruchs dahingehend, daß der Angeklagte des sexuellen Mißbrauchs eines Kindes in zwei Fällen schuldig ist; im übrigen sind die Rechtsmittel unbegründet.
I. Nach den Feststellungen legte sich der Angeklagte an einem nicht mehr konkretisierbaren Tag ca. zwei Wochen nach dem 9. Februar 1995 zu D, der damals 13-jährigen Tochter seiner Lebensgefährtin ins Bett; er berührte das Mädchen an der unbedeckten Brust und dem Geschlechtsteil (Fall II. 1.). Maximal drei Wochen nach diesem Vorfall legte er sich erneut neben D und forderte sie auf, sich auszuziehen. Der Angeklagte berührte das Mädchen sodann erneut an der Brust und dem Geschlechtsteil und führte anschließend mit einem Kondom den Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguß durch (Fall II. 2.). Daniela wurde dabei entjungfert. Bereits 1989 war das Mädchen sexuell mißbraucht worden. Das Landgericht hat wegen der ersten Tat eine Einzelfreiheitsstrafe von acht Monaten und wegen der zweiten Tat eine Einzelfreiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten als tat- und schuldangemessen angesehen.
Vom Vorwurf weiterer Mißbrauchstaten hat der Tatrichter den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen, weil er sich nicht in der Lage sah, die dem Angeklagten zur Last gelegten Taten konkret festzustellen.
II. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten ist der Schuldspruch zu berichtigen; im übrigen bleiben die Rechtsmittel erfolglos.
1. Der Schuldspruch begegnet im wesentlichen keinen Bedenken.
a) Die Annahme des Landgerichts, die Geschädigte sei dem Angeklagten nicht im Sinne des § 174 StGB anvertraut gewesen, läßt Rechtsfehler nicht erkennen. Insoweit ist die Beweiswürdigung des Tatrichters nicht zu beanstanden. Zu Recht hat er die Verurteilung des Angeklagten wegen tateinheitlich begangenen Mißbrauchs von Schutzbefohlenen (§ 174 StGB) abgelehnt. Der Tatbestand des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB setzt voraus, daß zwischen Tatopfer und Täter ein Verhältnis besteht, kraft dessen eine Person unter 16 Jahren dem Täter zur Erziehung, zur Ausbildung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut ist. D und ihre Mutter lebten zwar in häuslicher Gemeinschaft mit dem Angeklagten. Eine solche Gemeinschaft begründet aber für sich noch kein Obhutsverhältnis im Sinne des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Voraussetzung ist vielmehr, daß ein Verhältnis besteht, kraft dessen einer Person das Recht und die Pflicht obliegen, die Lebensführung des Jugendlichen und damit dessen geistigsittliche Entwicklung zu überwachen und zu leiten (BGHR StGB § 174 Abs. 1 Obhutsverhältnis 1). Eine ausdrückliche Übertragung der Erziehungsgewalt auf den Angeklagten – der nach seinen Angaben gegenüber D keine Entscheidungen traf – konnte das Landgericht nicht feststellen. Daß die Geschädigte den Angeklagten „nicht als Vater ansah”, durfte das Landgericht ebenfalls als einen gegen ein Obhutsverhältnis sprechenden Umstand werten.
b) Revisionsrechtlich ebenfalls nicht zu beanstanden ist der Umstand, daß sich der Tatrichter nicht davon hat überzeugen können, der Angeklagte habe bei den festgestellten Taten Gewalt oder Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben eingesetzt. Das Landgericht hat nicht auszuschließen vermocht, daß die Angaben des Mädchens in der Hauptverhandlung, der Angeklagte „habe sie an den Armen festgehalten, damit sie sich nicht wehren könne, und habe gedroht, ihr ‚eine zu klatschen’”, auf der Angst, „man könne ihr nicht glauben, und auf Schuldgefühlen beruhten”. Dies ist auch unter Berücksichtigung der wiederholt geäußerten Angst der Zeugin, „ihre Mutter könne ihr nicht glauben” (UA S. 8, 11), und ihrer Bekundung in der Hauptverhandlung, „sie habe die Handlungen des Angeklagten hingenommen”, eine mögliche und nachvollziehbare Schlußfolgerung. Sie ist deshalb vom Revisionsgericht hinzunehmen.
c) Das Landgericht hat das Vorliegen eines minder schweren Falles in beiden Fällen rechtsfehlerfrei verneint. Bei der gebotenen konkreten Betrachtungsweise (BGH bei Miebach NStZ 1998, 130) war deshalb im Fall II. 2. § 176 Abs. 3 StGB a. F. (Strafrahmen ein Jahr bis zehn Jahre Freiheitsstrafe) und nicht – wie vom Landgericht angenommen – § 176a Abs. 1 StGB in der Fassung des Sechsten Strafrechtsreformgesetzes (6. StrRG) (Strafrahmen ein Jahr bis 15 Jahre Freiheitsstrafe) das mildere Gesetz im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB. Der Senat ändert deshalb den Schuldspruch im Fall II. 2. der Urteilsgründe dahingehend, daß der Angeklagte des sexuellen Mißbrauchs eines Kindes (§ 176 Abs. 3 StGB a. F.) schuldig ist.
2. Der Strafausspruch hält rechtlicher Nachprüfung noch stand.
a) Die Strafzumessung ist grundsätzlich Sache des Tatrichters. Es ist seine Aufgabe, auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den er in der Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des Täters gewonnen hat, die wesentlichen entlastenden und belastenden Umstände festzustellen, sie zu bewerten und hierbei gegeneinander abzuwägen. Ein Eingriff des Revisionsgerichts in diese Einzelakte der Strafzumessung ist in der Regel nur möglich, wenn die Zumessungserwägungen in sich fehlerhaft sind, wenn das Tatgericht gegen rechtlich anerkannte Strafzwecke verstößt oder wenn sich die verhängte Strafe von ihrer Bestimmung, gerechter Schuldausgleich zu sein, so weit nach oben oder nach unten inhaltlich löst, daß ein grobes Mißverhältnis von Schuld und Strafe offenkundig ist (st. Rspr.; vgl. BGHR StGB § 46 Abs. 1 Beurteilungsrahmen 1, 6 m.w.N.).
b) Die Bestrafung – insbesondere die im Fall II. 2. ausgesprochene Einzelstrafe – ist allerdings sehr milde. Sie löst sich jedoch noch nicht von ihrer Bestimmung als gerechter Schuldausgleich. Sie ist deshalb vom Revisionsgericht hinzunehmen. Im Hinblick auf die Revision des Angeklagten schließt der Senat andererseits aus, daß der Tatrichter – der sich zudem an der (identischen) Mindeststrafe orientiert hat –, wenn er die Strafe im Fall II. 2. nicht dem Strafrahmen des § 176a Abs. 1 StGB n. F. sondern zutreffend dem des § 176 Abs. 3 StGB a. F. entnommen hätte, eine noch mildere Einzelstrafe und damit auch eine für den Angeklagten günstigere Gesamtstrafe ausgesprochen hätte.
Es ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, daß das Landgericht ungeachtet seiner milden Bewertung im Rahmen der Strafzumessung gleichwohl angesichts der festgestellten Tatumstände bei dem nicht geständigen Angeklagten das Vorliegen besonderer Umstände im Sinne des § 56 Abs. 2 StGB verneint hat. Diese Wertung liegt innerhalb des dem Tatrichter zustehenden Beurteilungsspielraums und ist vom Revisionsgericht hinzunehmen (vgl. BGHR StGB § 56 Abs. 2 Gesamtwürdigung 4; Umstände, besondere 3).
3. Der Freispruch des Angeklagten hält rechtlicher Nachprüfung stand.
Der Senat besorgt nicht, daß das Landgericht die Anforderungen, die an die richterliche Überzeugungsbildung von der Schuld des Angeklagten zu stellen sind, im Rahmen der Beweiswürdigung überspannt hat. Den – hinsichtlich des Freispruchs zwar äußerst knappen – Urteilsausführungen läßt sich noch entnehmen, daß sich der Tatrichter nicht in der Lage sah, sich zumindest vom Vorliegen einer Mindestzahl konkreter, zeitlich hinreichend einzuordnender Einzeltaten zu überzeugen.
Unterschriften
Harms, Häger, Basdorf, Tepperwien, Gerhardt
Fundstellen