Verfahrensgang
LG Bückeburg (Urteil vom 04.06.2020; Aktenzeichen 406 Js 10159/19 4 KLs 5/20 20 Ss 15/20) |
Tenor
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Bückeburg vom 4. Juni 2020 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit von der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus und von der Anordnung des Vorbehalts der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung abgesehen worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch Schutzbefohlener in fünf Fällen, wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in fünf Fällen, davon in drei Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, und wegen Herstellung kinderpornographischer Schriften zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und neun Monaten verurteilt. Mit ihrer hierauf beschränkten Revision beanstandet die Staatsanwaltschaft, dass das Landgericht von einer Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) und von der Anordnung des Vorbehalts der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (§ 66a StGB) abgesehen hat. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg.
Rz. 2
1. Das Landgericht hat im Wesentlichen festgestellt:
Rz. 3
Der zuvor unbestrafte, zu den Tatzeiten 42 Jahre alte Angeklagte lernte Anfang des Jahres 2014 seine spätere Lebensgefährtin L. C. kennen, die ihre im November 2006 geborene Tochter F. und ihren im April 2010 geborenen Sohn M. in die Beziehung einbrachte. Jedenfalls seit Mai 2018 wohnte er mit ihr und den Kindern zusammen. Zwischen April und Oktober 2019 verübte er an F. und M. C. im Zuge von insgesamt zehn Taten (schweren) sexuellen Missbrauch von Kindern. Unter anderem veranlasste er diese, an ihm den Oralverkehr zu vollziehen, vollzog an F. den Geschlechtsverkehr und animierte die Kinder zum gegenseitigen Geschlechtsverkehr. Außerdem stellte er von F. kinderpornographische Bilder her.
Rz. 4
Außerhalb der abgeurteilten Taten hat das Landgericht weitere Sexualstraftaten des Angeklagten zum Nachteil der Kinder festgestellt:
Rz. 5
Im April 2014 kam die damals 7-jährige F. ins „elterliche” Schlafzimmer, als L. C. am Angeklagten den Oralverkehr vollzog. Hierzu von ihrer Mutter angehalten, übte auch F. am Angeklagten Oralverkehr aus. Anfang Mai 2014 animierte L. C. den Angeklagten bei einem mit diesem durchgeführten Geschlechtsverkehr, der im Bett schlafenden F. an die Scheide zu greifen. Während eines gemeinsamen Urlaubs im April 2019 hielten sich der Angeklagte, L. C. und die beiden Kinder in einem Hotelzimmer auf. L. C. initiierte ein „Familienknutschen” mit gegenseitigem Masturbieren zwischen ihr und F., Oralverkehr des M. am Angeklagten sowie Geschlechtsverkehr des Angeklagten mit L. C. vor den Kindern. Im Zeitraum vom 24. April bis 3. Oktober 2019 kam es zwischen dem Angeklagten und F. in mindestens 52 Fällen zum Oralverkehr, davon in wenigstens drei Fällen zusätzlich zum Geschlechtsverkehr.
Rz. 6
2. Dem psychiatrischen Sachverständigen folgend hat das Landgericht angenommen, der Angeklagte habe bei allen Taten wegen einer Pädophilie sicher im Zustand verminderter Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) gehandelt. Dessen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) und in der Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB) sowie die Anordnung eines Vorbehalts der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (§ 66a StGB) hat es gleichwohl abgelehnt. Entgegen dem Gutachten des Sachverständigen hat es die Auffassung vertreten, dass es an der Allgemeingefährlichkeit des Angeklagten fehle. Dieser sei bislang unbestraft. Von besonderer Bedeutung sei ferner, dass die Mutter den sexuellen Missbrauch ihrer Kinder gefördert und dem Angeklagten damit eine Art „Freibrief” erteilt habe. Es sei wenig wahrscheinlich, dass sich Derartiges wiederhole. Zudem habe der Angeklagte Reue und Therapiebereitschaft erkennen lassen. Im Ergebnis bestünden erhebliche Zweifel, ob er „auch nach einem langjährig verbüßten Strafvollzug” weitere Missbrauchstaten zum Nachteil von Kindern begehen werde.
Rz. 7
3. Die zur Nichtanordnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus vom Landgericht angestellte Gefahrenprognose (§ 63 Satz 1 StGB) hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
Rz. 8
a) Zwar ist das Tatgericht nicht gehindert, vom Gutachten eines vernommenen Sachverständigen abzuweichen, weil dieses stets nur Grundlage der richterlichen Überzeugungsbildung sein kann (st. Rspr., vgl. etwa BGH, Urteil vom 12. Dezember 2018 – 5 StR 385/18, StV 2019, 226 Rn. 14). Will es aber eine Frage, für deren Beurteilung es sachverständige Hilfe in Anspruch genommen hat, im Widerspruch zum Gutachten beantworten, muss es die Gründe hierfür in einer Weise erörtern, die dem Revisionsgericht die Nachprüfung ermöglicht, ob es das Gutachten zutreffend gewürdigt und aus ihm rechtlich zulässige Schlüsse gezogen hat. Hierzu bedarf es einer erschöpfenden Auseinandersetzung mit den Darlegungen des Sachverständigen, insbesondere auch zu den Gesichtspunkten, auf die das Gericht seine abweichende Auffassung stützt (vgl. BGH, Urteil vom 7. Juni 2017 – 1 StR 628/16; Beschluss vom 18. Oktober 2017 – 3 StR 368/17).
Rz. 9
Eine solche lässt das Urteil vermissen. Den Urteilsgründen ist lediglich zu entnehmen, dass nach Auffassung des psychiatrischen Sachverständigen angesichts der Pädophilie und der langfristig devianten Sexualentwicklung des Angeklagten die prognostisch ungünstigen Elemente überwögen, so dass sich ein mittelhohes „Redelikt-Risiko” für ähnliche Taten ergebe. Einzelheiten werden nicht mitgeteilt. Damit ist dem Senat eine revisionsgerichtliche Überprüfung verschlossen. Eine detaillierte Darlegung der Beurteilung des Sachverständigen sowie eine Auseinandersetzung mit dessen Äußerungen wären hier um so mehr notwendig gewesen, als das Landgericht im Rahmen der Schuldfähigkeitsprüfung der Einschätzung des Sachverständigen beigetreten ist, es müsse damit gerechnet werden, dass der Angeklagte außerhalb des Justizvollzugs wieder von paraphilen Impulsen überflutet werde, die zu Straftaten führten, weil eine soziosexuell befriedigende Ausagierung devianter Impulse unverändert nicht gelinge (UA S. 50).
Rz. 10
b) Darüber hinaus lassen die Ausführungen des Landgerichts besorgen, dass es sich maßgebend auch von der Erwartung hat leiten lassen, der mehrjährige Strafvollzug werde den Angeklagten so sehr beeindrucken, dass er nicht mehr einschlägig straffällig werde. Für die Gefahrenprognose ist jedoch grundsätzlich der Zeitpunkt des Urteils ausschlaggebend, wohingegen nur mögliche positive Entwicklungen in der Zukunft außer Betracht zu bleiben haben (st. Rspr., vgl. etwa BGH, Urteil vom 23. Januar 2018 – 5 StR 488/17 Rn. 19 mwN; MüKo StGB/van Gemmeren, 4. Aufl., § 63 Rn. 61).
Rz. 11
4. Auch die Nichtanordnung des Vorbehalts der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (§ 66a StGB) hat keinen Bestand. Dies gilt schon deswegen, weil das Landgericht nicht erkennbar geprüft hat, ob das Vorliegen eines Hangs sowie der Gefährlichkeit des Angeklagten zumindest wahrscheinlich ist (§ 66a Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 66 Abs. 1 Nr. 4 StGB). Vielmehr hat es insoweit nur kursorisch auf die aus den angeführten Gründen überdies rechtsfehlerhaften Darlegungen betreffend eine nicht bestehende Allgemeingefährlichkeit des Angeklagten verwiesen und sich mit dem Merkmal des Hangs zur Begehung weiter erheblicher Straftaten gar nicht befasst.
Rz. 12
5. Der Strafausspruch kann bestehen bleiben. Der Senat schließt aus, dass die Einzelstrafen sowie die Gesamtstrafe niedriger ausgefallen wären, wenn das Landgericht eine der in Rede stehenden Maßregeln angeordnet hätte.
Rz. 13
6. Der Senat hebt zugleich – insoweit zugunsten des Angeklagten (§ 301 StPO) – die zur Schuldfähigkeit des Angeklagten getroffenen Feststellungen auf. Denn die ohne eigenständige Würdigung auf das Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen gestützte Annahme des Landgerichts, der Angeklagte habe bei den Taten sicher im Zustand verminderter Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) gehandelt, begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
Rz. 14
a) Nach ständiger Rechtsprechung kann eine Pädophilie im Einzelfall zwar das vierte Eingangsmerkmal des § 20 StGB (nunmehr „schwere andere seelische Störung”) erfüllen und eine hierdurch erheblich beeinträchtigte Steuerungsfähigkeit begründen. Dies setzt aber voraus, dass die Sexualpraktiken zu einer eingeschliffenen Verhaltensschablone geworden sind, die sich durch abnehmende Befriedigung, zunehmende Frequenz der devianten Handlungen, Ausbau des Raffinements und gedankliche Einengung des Täters auf diese Praktiken auszeichnen; hierfür bedarf es einer umfassenden Gesamtschau der Täterpersönlichkeit und seiner Taten (vgl. etwa BGH, Urteil vom 26. Mai 2010 – 2 StR 48/10, R&P; 2010, 226; vom 15. März 2016 – 1 StR 526/15, BGHR StGB § 63 Zustand 45).
Rz. 15
b) Das angefochtene Urteil belegt nicht hinreichend, dass die Störung den Angeklagten so nachhaltig in seiner Persönlichkeit geprägt hat, dass er die Taten aus einem starken, mehr oder weniger unwiderstehlichen Zwang heraus verübt hat. Insbesondere war er vor den Taten zum Nachteil der beiden Kinder nicht (einschlägig) straffällig geworden. Nach den Feststellungen war er viele Jahre verheiratet und hatte Zeit seines Lebens zahlreiche Sexualkontakte mit erwachsenen Frauen. Auch mit L. C. verkehrte er geschlechtlich. Diese Umstände deuten darauf hin, dass er sein Sexualverhalten lange Zeit unter Kontrolle hatte. Sie hätten zu der Erörterung gedrängt, weshalb er im Tatzeitraum nur erheblich eingeschränkt in der Lage gewesen sein soll, seinen pädophilen Neigungen zu widerstehen (vgl. auch BGH, Beschlüsse vom 17. Juli 2007 – 4 StR 242/07, NStZ-RR 2007, 337; vom 6. Juli 2010 – 4 StR 283/10, NStZ-RR 2010, 304, 305). Die gegenteilige Wertung des Landgerichts tritt ferner in Spannung zu dem Umstand, dass es dem von der Kindesmutter erteilten „Freibrief” einen hohen motivatorischen Stellenwert für den Angeklagten beigemessen hat. Dies kann dafürsprechen, dass nicht eine schuldrelevante süchtige Entwicklung des Angeklagten für die Taten bestimmend war, sondern dass maßgebend die von der Kindesmutter geschaffenen Rahmenbedingungen den Weg zu den Taten geebnet haben.
Rz. 16
c) Der Rechtsfehler bei der Schuldfähigkeitsbeurteilung tangiert den Schuldspruch trotz der gegebenen Doppelrelevanz nicht, weil eine vollständige Aufhebung der Schuldfähigkeit von vornherein ausscheidet (vgl. BGH, Urteil vom 15. März 2016 – 1 StR 526/15, mwN).
Rz. 17
7. Die Sache bedarf damit zur Frage der Anordnung der Maßregeln nach §§ 63 und 66a Abs. 1 StGB – naheliegender Weise unter Hinzuziehung eines anderen psychiatrischen Sachverständigen – insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung. Insoweit weist der Senat auf Folgendes hin:
Rz. 18
Sollte die neue Hauptverhandlung ergeben, dass der Angeklagte sicher einen Hang aufweist sowie für die Allgemeinheit gefährlich ist, wäre die Anordnung vorbehaltloser Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB ausgeschlossen, weil sich der Rechtsmittelangriff der Staatsanwaltschaft nur gegen die Nichtanordnung vorbehaltener Sicherungsverwahrung richtet und deshalb insoweit Teilrechtskraft eingetreten ist. Demgegenüber wäre das neue Tatgericht auch in diesem Fall nicht an der Anordnung vorbehaltener Sicherungsverwahrung nach § 66a Abs. 1 StGB gehindert (vgl. BGH, Urteil vom 22. November 2018 – 4 StR 253/18).
Unterschriften
Sander, König, Tiemann, Fritsche, von Schmettau
Fundstellen
Haufe-Index 14509447 |
NStZ-RR 2021, 240 |
RPsych 2021, 466 |