Leitsatz (amtlich)
Zugunsten eines Betriebsangehörigen, der den Schüler einer allgemeinbildenden Schule während der Teilnahme an einem sog. Betriebspraktikum in einem gewerblichen Unternehmen verletzt, kann das Haftungsprivileg der §§ 636, 637 RVO eingreifen.
Normenkette
RVO §§ 636-637
Verfahrensgang
OLG Frankfurt am Main (Urteil vom 02.11.1982) |
LG Darmstadt |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des 22. Zivilsenats in Darmstadt des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 2. November 1982 wird zurückgewiesen.
Die Kosten der Revision fallen dem Kläger zur Last.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Der Kläger, damals Schüler der 9. Hauptschulklasse, nahm im September 1980 im Rahmen des polytechnischen Unterrichts an einem dreiwöchigen Betriebspraktikum in der Kraftfahrzeugwerkstatt Auto-S. in E. teil. Sein dortiger Betreuer war der Betriebsinhaber S. sen.
Am 22. September 1980 wollte der ebenfalls in der Werkstatt tätige Sohn des Betriebsinhabers, der Zeuge S. jun., bei einem Autohaus in St. Ersatzteile für den Betriebsbedarf abholen. Auf dieser Fahrt begleitete ihn der Kläger als Beifahrer in einem bei der Beklagten haftpflichtversicherten Pkw. In St. half er beim Einladen der Teile. Auf der Rückfahrt nach E. verursachte S. jun. einen Verkehrsunfall, bei dem der Kläger schwer verletzt wurde. Der Hessische Gemeinde-Unfallversicherungsverband erkannte das Schadensereignis als Schulunfall des Klägers an.
Der Kläger begehrt von der Beklagten die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes sowie die Feststellung ihrer Ersatzpflicht, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger übergegangen sind. Die Beklagte beruft sich auf das Haftungsprivileg der §§ 636, 637 RVO.
Landgericht und Oberlandesgericht haben die Klage abgewiesen. Mit der (zugelassenen) Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe
I.
Das Berufungsgericht ist der Auffassung, Ersatzansprüche des Klägers wegen des von ihm erlittenen Personenschadens (§§ 823 ff BGB, 3 Nr. 1 PflVersG) seien gemäß §§ 636, 637 RVO ausgeschlossen. Es läßt dahingestellt, ob – wie das Landgericht angenommen hatte – der Zeuge S. jun. als Betriebsangehöriger der Schule im Sinne des § 637 Abs. 1 RVO angesehen werden könne, und meint, jedenfalls sei der Kläger zur Zeit des Unfalls in den Betrieb der Kraftfahrzeugwerkstatt eingegliedert gewesen. Er sei bei seiner Teilnahme an der Fahrt vom 22. September 1980 gemäß § 539 Abs. 2 RVO gegen Arbeitsunfall versichert gewesen, da er bei ihr wie ein nach § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO Versicherter, nämlich wie ein Auszubildender, im Betrieb des S. sen. tätig geworden sei. Da S. jun. den Unfall nicht vorsätzlich herbeigeführt habe und dieser auch nicht bei der Teilnahme am allgemeinen Verkehr eingetreten sei, stehe dem Kläger kein Anspruch auf Ersatz seines Personenschadens zu. Für etwaige unfallbedingte Sachschäden des Klägers fehle es an jedem Anhaltspunkt.
Diese Erwägungen halten den Angriffen der Revision im Ergebnis stand.
1. Entgegen der Rechtsansicht des Berufungsgerichts ist der Unfall des Klägers allerdings nicht als Arbeitsunfall (§ 548 Abs. 1 RVO) im Betrieb des S. sen. anzusehen. Dies würde nach § 539 Abs. 2 RVO voraussetzen, daß der Kläger in dem Unternehmen wie ein nach § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO Versicherter, d.h. wie ein aufgrund eines Lehrverhältnisses Beschäftigter, tätig geworden ist. Dem steht zwar nicht schon der Umstand entgegen, daß der Hessische Gemeinde-Unfallversicherungsverband den Verkehrsunfall als Schulunfall des Klägers anerkannt hat, da ein Schadensereignis mehreren Betrieben zuzurechnen sein kann (vgl. Senatsurteile vom 22. September 1981 – VI ZR 55/80 = VersR 1982, 40, 41 und vom 22. Juni 1982 – VI ZR 240/79 = VersR 1983, 31, 32). Eine Zuordnung des Klägers zu dem Unternehmen des S. sen. läßt sich aber mit dem Zweck und der Ausgestaltung des vom Kläger abgeleisteten Betriebspraktikums nicht vereinbaren.
Nach den „Richtlinien für die Durchführung der Betriebspraktika für Schüler der Mittelstufe allgemeinbildender Schulen” (Erlaß des Hess. Kultusministers vom 1. September 1975 – II B 5–1005/34 = Amtsblatt 1975, 588 in der Fassung des Erlasses vom 17. Oktober 1977 – IV B 3–820/331–56 = Amtsblatt 1977, 569) sind die Betriebspraktika Schulveranstaltungen (Nr. 2.1), die in dem Betrieb als Unterrichtsort durchgeführt werden (Nr. 2.2) und die weder ein Ausbildungs- noch ein Beschäftigungsverhältnis des Schülers zu dem Betriebsinhaber begründen (Nr. 2.4). Aus diesem Grunde bleibt der Schüler nach Nr. 2.5.1.1 der Richtlinien auch während des Praktikums weiterhin gemäß § 539 Abs. 1 Nr. 14 b RVO gegen Arbeitsunfall versichert (vgl. dazu Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung Bd. II S. 483 m; Lauterbach, Unfallversicherung 3. Aufl., § 539 Anm. 85 S. 148/8; Doku-Nr. 141, 241 in WzS 1971, 270, 271). Zwar darf der Schüler im Rahmen des Praktikums auch leichtere Arbeiten ausführen (Richtlinien Nrn. 3.4.3 ff; Zmarzlik JArbSchG 2. Aufl. § 5 Rdn. 10). Diese dienen aber nicht wirtschaftlichen Zwecken des Unternehmers (Molitor/Volmer/Gennelmann, JArbSchG 2. Aufl. § 5 Rdn. 13); sie sollen vielmehr dem Schüler Einsichten in das Arbeits-, Berufs- und Wirtschaftsleben vermitteln und ihm Gelegenheit geben, durch die Erprobung seiner Neigungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten unter den Bedingungen eines bestimmten Berufsfeldes Erfahrungen zu gewinnen (Richtlinien Nrn. 1.1 und 1.2). Diese Ausgestaltung der Betriebspraktika zeigt allerdings, daß der Übergang zwischen Schul- und Berufsausbildung fließend geworden ist (vgl. A [Allgemeiner Teil] der amtlichen Begründung zum Entwurf eines Gesetzes über die Unfallversicherung für Schüler und Studenten, BT-Drucks. VI/1333 S. 3). Demgemäß sagt auch Nr. 2.4 Satz 3 der Richtlinien (in der Fassung des Erlasses vom 17. Oktober 1977 = a.a.O.), daß die Betriebspraktika einem Ausbildungsverhältnis im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 4 JArbSchG ähnlich sind. Das ändert aber nichts daran, daß sie Schulveranstaltungen darstellen und daß deshalb die Praktikanten nicht wie Auszubildende behandelt und über § 539 Abs. 2 RVO dem Unternehmen zugeordnet werden können, in dem das Betriebspraktikum durchgeführt wird.
2. Die vom Berufungsgericht angenommene Haftungsfreistellung des Zeugen S. jun. nach den §§ 636 Abs. 1, 637 Abs. 1 RVO findet aber ihre Berechtigung darin, daß sowohl der Kläger als auch der Zeuge am 22. September 1980 Betriebsangehörige des „Unfallbetriebes Schule” waren. Nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats müssen die vorgenannten gesetzlichen Regelungen bei Unfällen im Schulbetrieb gedanklich auf die besondere Situation der Schule umgeformt werden (BGHZ 67, 279, 282; Urteile vom 25. September 1979 – VI ZR 184/78 = VersR 1980, 43, 44 und vom 3. Februar 1981 – VI ZR 178/79 = VersR 1981, 428, 429; vgl. auch Stoffen in BGB – RGRK 12. Aufl., Vor § 823 Rdn. 98). Dies wird auch durch die Einfügung des § 637 Abs. 4 RVO (BGBl. 1971 I S. 237) bestätigt, durch welche die Ersatzansprüche der nach § 539 Abs. 1 Nr. 14 RVO Versicherten untereinander in die gesetzliche Regelung einbezogen worden sind, nicht aber etwa die Anwendbarkeit des § 637 Abs. 1 RVO in den Fällen der Ersatzansprüche von versicherten Schülern gegen Betriebsangehörige der Schule eingeschränkt werden sollte (Senatsurteil vom 25. September 1979 = a.a.O.). Da die Betriebspraktika als Schulunterricht in dem ausgewählten Unternehmen durchgeführt werden, ist aber nicht nur ein bei praktikumsbezogener Tätigkeit des Schülers eintretender Unfall als Schulunfall anzusehen, sondern es müssen auch alle mit der Durchführung des Praktikums befaßten Mitarbeiter des Unternehmens als „in demselben Betrieb (= Schulbetrieb) tätige Betriebsangehörige” betrachtet werden. An die dazu erforderliche Unterstellung dieser Beschäftigten unter die Weisungsbefugnis der Schule (Senatsurteil vom 3. Februar 1981 = a.a.O.) dürfen keine überhöhten Anforderungen gestellt werden. So hat der erkennende Senat dafür etwa genügen lassen, daß der Ehemann einer Lehrerin oder die Pflegemutter eines Schülers bei einer Schulveranstaltung mit Wissen und Billigung der Schule in freiwilliger Hilfe ein Grillgerät bedienen (Senatsurteile vom 25. September 1979 und 3. Februar 1981 = a.a.O.). Umsomehr muß es im Rahmen eines Betriebspraktikums ausreichen, daß der dem Schulleiter vom Betrieb benannte Betreuer dem Weisungsrecht der Schule unterliegt (vgl. Nrn. 2.5.2.2 und 3.4.1 der Richtlinien), daß dieser Betreuer bei der inhaltlichen Ausgestaltung der dreiwöchigen Betriebspraktika den Schülern die erwünschten Informationen und praktischen Erfahrungen nicht ausschließlich selbst vermitteln kann und daß er deshalb im Rahmen seiner Pflichtenstellung mit Wissen und Billigung der Schule auch weitere Mitarbeiter seines Betriebes in die Durchführung der Praktika miteinbezieht. Verursacht ein solcher Mitarbeiter durch eine der Durchführung des Praktikums dienende betriebliche Tätigkeit einen Unfall des Schülers, so steht diesem deshalb gemäß §§ 636 Abs. 1, 637 Abs. 1 RVO kein Anspruch auf Ersatz seines Personenschadens zu; es sei denn, der Betriebsangehörige hat den Unfall vorsätzlich herbeigeführt oder dieser ist bei der Teilnahme am allgemeinen Verkehr eingetreten.
3. Die hiernach erforderlichen Voraussetzungen für eine Haftungsfreistellung des Zeugen S. jun. hat das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei bejaht.
a) Die von S. jun. mit dem Kläger am 22. September 1980 durchgeführte Fahrt diente der Beschaffung von Ersatzteilen für die Kraftfahrzeugwerkstatt und erfüllte zugleich den Zweck, dem Kläger den in den Richtlinien des Kultusministers vorgesehenen Einblick in das Arbeits- und Berufsleben sowie in die Verflechtungen des Werkstattbetriebes in einem bestimmten Wirtschaftsraum zu verschaffen. Sie war deshalb nicht nur auf das Unternehmen des S. sen., sondern auch auf den Praktikums- und damit auf den Schulbetrieb bezogen.
b) Daß S. jun. den Verkehrsunfall nicht vorsätzlich herbeigeführt hat, ist zwischen den Parteien außer Streit.
c) Der Unfall des Klägers ist auch nicht bei der Teilnahme am allgemeinen Verkehr im Sinne des § 636 Abs. 1 RVO eingetreten. Das ergibt sich schon daraus, daß das Schadensereignis – wie dargelegt – einen innerbetrieblichen Vorgang darstellt, in dem sich das betriebsbezogene Verhältnis des Klägers zu dem Zeugen S. jun. verwirklicht hat (Senatsurteile vom 8. Mai 1973 – VI ZR 148/72 = VersR 1973, 736 f und vom 13. Januar 1976 – VI ZR 58/74 = VersR 1976, 539; siehe auch Steffen a.a.O. Rdn. 99).
d) Daß das Berufungsgericht schließlich einen ersatzpflichtigen Sachschaden des Klägers verneint hat, greift die Revision nicht an.
Unterschriften
Dr. Hiddemann, Dr. Steffen, RiBGH Dr. Kullmann ist in Urlaub und kann deshalb nicht unterschreiben. Dr. Hiddemann, Dr. Ankermann, Bischoff
Fundstellen
Haufe-Index 1372873 |
Nachschlagewerk BGH |