Verfahrensgang
LG Hildesheim (Urteil vom 20.10.2016) |
Tenor
Die Revision der Nebenklägerin gegen das Urteil des Landgerichts Hildesheim vom 20. Oktober 2016 wird verworfen.
Die Beschwerdeführerin hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem Angeklagten dadurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Tatbestand
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des sexuellen Missbrauchs eines Kindes in vier Fällen freigesprochen, in zwei Fällen aus tatsächlichen und in zwei Fällen aus rechtlichen Gründen. Dagegen wendet sich die Nebenklägerin mit ihrer auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten, vom Generalbundesanwalt vertretenen Revision; sie hat ihr Rechtsmittel auf den Freispruch des Angeklagten aus rechtlichen Gründen beschränkt (Fälle 1 und 4 der Anklageschrift). Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.
Rz. 2
I. Nach den Feststellungen des Landgerichts ist der Angeklagte mit der am 26. September 2006 geborenen Nebenklägerin weitläufig verschwägert; seine Schwiegertochter ist die Tante der Nebenklägerin. Zwischen den Familien, die sich häufig gegenseitig besuchten, bestand ein enges, vertrautes Verhältnis, insbesondere zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin.
Rz. 3
An einem nicht näher bestimmbaren Tag „im Zeitraum zwischen 2013 und dem 11. Februar 2014” befand sich der Angeklagte mit der Nebenklägerin in einem als Büro genutzten Raum auf dem Dachboden des von ihm und seiner Ehefrau bewohnten Hauses. Dort „nässte” der Angeklagte seine Hand an – womit und auf welche Weise er dies tat, konnte die Strafkammer nicht feststellen – und berührte daraufhin mit der angefeuchteten Hand kurz die bekleidete Scheide der Nebenklägerin (Fall 1 der Anklageschrift).
Rz. 4
Kurze Zeit nach der Geburt des Bruders der Nebenklägerin am 14. Januar 2014 besuchten der Angeklagte und seine Ehefrau die Familie der Nebenklägerin. Während des Besuchs saß die Nebenklägerin im Wohnzimmer mit gespreizten Beinen auf dem Schoß des Angeklagten; ihr Gesicht und ihren Oberkörper hatte sie ihm zugewandt. Als die Mutter der Nebenklägerin und die Ehefrau des Angeklagten den Raum zum Stillen des Säuglings verlassen hatten und der Vater der Nebenklägerin für die Dauer von höchstens zwei bis drei Minuten in die Küche gegangen war, um Tee zu holen, berührte der Angeklagte die Nebenklägerin kurz an der bekleideten Scheide (Fall 4 der Anklageschrift).
Rz. 5
Entscheidungsgründe
II. Der Freispruch des Angeklagten hält rechtlicher Überprüfung stand.
Rz. 6
1. Die Strafkammer hat zu Recht angenommen, dass die Feststellungen eine Verurteilung des Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern (§ 176 Abs. 1 StGB) nicht tragen. Denn das jeweilige kurze Berühren der bekleideten Scheide der Nebenklägerin ist nicht als sexuelle Handlung im Sinne des § 184h Nr. 1 StGB – zur Tatzeit noch § 184g Nr. 1 StGB – anzusehen. Zwar hatten die Handlungen des Angeklagten nach ihrem äußeren Erscheinungsbild den danach erforderlichen sexuellen Bezug (vgl. dazu etwa BGH, Urteil vom 24. September 1980 – 3 StR 255/80, BGHSt 29, 336, 338). Sie waren insoweit aber nicht erheblich.
Rz. 7
Als erheblich im Sinne von § 184h Nr. 1 StGB sind solche sexualbezogenen Handlungen zu werten, die nach Art, Intensität und Dauer eine sozial nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung des im jeweiligen Tatbestand geschützten Rechtsguts besorgen lassen (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteile vom 24. September 1980 – 3 StR 255/80, BGHSt 29, 336, 338; vom 24. September 1991 – 5 StR 364/91, NJW 1992, 324; vom 1. Dezember 2011 – 5 StR 417/11, NStZ 2012, 269, 270; vom 10. März 2016 – 3 StR 437/15, NJW 2016, 2049). Dazu bedarf es einer Gesamtbetrachtung aller Umstände im Hinblick auf die Gefährlichkeit der Handlung für das jeweils betroffene Rechtsgut; unter diesem Gesichtspunkt belanglose Handlungen scheiden aus (BGH, Urteile vom 3. April 1991 – 2 StR 582/90, BGHR StGB § 184c Nr. 1 Erheblichkeit 4; vom 24. September 1991 – 5 StR 364/91, NJW 1992, 324; vom 1. Dezember 2011 – 5 StR 417/11, NStZ 2012, 269, 270; vom 21. September 2016 – 2 StR 558/15, NStZ-RR 2017, 43, 44).
Rz. 8
Bei Tatbeständen, die – wie § 176 Abs. 1 StGB – dem Schutz von Kindern oder Jugendlichen dienen, sind an das Merkmal der Erheblichkeit geringere Anforderungen zu stellen als bei Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung Erwachsener (BGH, Beschluss vom 13. Juli 1983 – 3 StR 255/83, NStZ 1983, 553; Urteil vom 21. September 2016 – 2 StR 558/15, NStZ-RR 2017, 43, 44). Deshalb kann – worauf die Revision unter Hinweis auf die entsprechenden Entscheidungen zutreffend hinweist – die Erheblichkeitsschwelle unter Umständen schon überschritten sein, wenn der Täter das Opfer unter der Bekleidung abtastet und unter Anwendung von Gewalt dessen „unbekleidetes” Geschlechtsteil berührt (BGH, Urteil vom 15. Oktober 1987 – 4 StR 420/87, BGHSt 35, 76, 77 f.), wenn er ein sich wehrendes 8-jähriges Mädchen mit der linken Hand festhält, mit der rechten Hand zwischen die Beine des Kindes fasst und dessen bekleidetes Geschlechtsteil „einige Male streichelt” (BGH, Urteil vom 27. Februar 1992 – 4 StR 23/92, BGHSt 38, 212, 213), wenn er einem 9-jährigen Mädchen „mit festem Griff” an das bekleidete Geschlechtsteil fasst (BGH, Urteil vom 6. Mai 1992 – 2 StR 490/91, BGHR StGB § 184c Nr. 1 Erheblichkeit 6) oder wenn er einen 13-jährigen Jungen in ein Gebüsch zerrt und ihn, während er ihn fest umklammert, „an das bekleidete Geschlechtsteil fasst” sowie dabei teilweise „fest drückt” (BGH, Urteil vom 17. November 1999 – 2 StR 453/99, NStZ-RR 2000, 299). Gleiches gilt, falls der Täter während eines gemeinsamen Schwimmbadbesuchs von hinten in die Badehose eines Mädchens greift und „ihr nacktes Gesäß” berührt oder wenn er seine Hand in die Schlafanzughose des schlafenden Mädchens einführt und dessen „nacktes” Gesäß „nicht nur kurzzeitig” streichelt (BGH, Urteil vom 21. September 2016 – 2 StR 558/15, NStZ-RR 2017, 43, 44).
Rz. 9
Da stets nur erhebliche geschlechtsbezogene Handlungen sexuelle im Sinne des § 184h Nr. 1 StGB sind, gilt indes auch im Hinblick auf § 176 Abs. 1 StGB, dass nicht alle mit einem Körperkontakt verbundenen sexualbezogenen Handlungen tatbestandsmäßig sind. Kurze, flüchtige oder aus anderen Gründen unbedeutende Berührungen, insbesondere des bekleideten Geschlechtsteils, reichen dafür nicht aus (BGH, Beschluss vom 13. Juli 1983 – 3 StR 255/83, NStZ 1983, 553; Urteile vom 8. Februar 1989 – 3 StR 546/88, BGHR StGB § 184c Nr. 1 Erheblichkeit 3; vom 3. April 1991 – 2 StR 582/90, BGHR StGB § 184c Nr. 1 Erheblichkeit 4; Beschlüsse vom 10. September 1998 – 1 StR 476/98, NStZ 1999, 45; vom 8. September 1999 – 3 StR 357/99, juris Rn. 4; vom 21. September 2005 – 2 StR 311/05, juris Rn. 8; Urteil vom 21. September 2016 – 2 StR 558/15, NStZ-RR 2017, 43, 44; vgl. auch zu dem durch den Begriff der sexuellen Handlung ersetzten Merkmal der „Unzucht” nach früherem Recht: BGH, Urteil vom 13. Juli 1951 – 2 StR 275/51, BGHSt 1, 293, 296).
Rz. 10
Daran gemessen ist die Annahme des Landgerichts, dass die „kurzen Berührungen” der „bekleideten Scheide” der Nebenklägerin in den Fällen 1 und 4 der Anklageschrift keine erheblichen sexuellen Handlungen im Sinne von § 184h Nr. 1 StGB darstellten, aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Die Strafkammer hat bei ihrer Bewertung zwar allein auf die Handlungen als solche abgestellt und keine Gesamtbetrachtung aller Umstände vorgenommen. Das gefährdet den Bestand des Urteils aber nicht. Dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe lässt sich entnehmen, dass sie die insoweit bedeutsamen Gesichtspunkte, namentlich die Beziehung zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin sowie die Begleitumstände, unter denen es zu den sexualbezogenen Handlungen gekommen ist, nicht außer Acht gelassen hat. Deren näherer Erörterung bedurfte es indes nicht, weil sich daraus nichts ergibt, was zu einer anderen Beurteilung Anlass geben könnte.
Rz. 11
Im Fall 1 der Anklageschrift gilt dies insbesondere im Hinblick darauf, dass der Angeklagte seine Hand anfeuchtete, bevor er damit kurz die bekleidete Scheide der Nebenklägerin berührte. Das Anfeuchten der Hand mag den sexuellen Bezug der Handlung unterstrichen haben, deren Erheblichkeit im Hinblick auf das geschützte Rechtsgut ist dadurch aber nicht erkennbar beeinflusst worden. Im Fall 4 der Anklageschrift ist es letztlich ohne Belang, dass die Nebenklägerin geraume Zeit mit gespreizten Beinen auf dem Schoß des Angeklagten gesessen hatte, bevor es zu der in Rede stehenden Handlung kam. Denn den Urteilsgründen ist zu entnehmen, dass die Nebenklägerin bei gegenseitigen Besuchen der Familien üblicherweise so auf dem Schoß des ihr eng vertrauten Angeklagten saß und dabei ihren Kopf an seine Brust anlehnte. Ein spezifisch sexualbezogener Kontext, der die Erheblichkeit der festgestellten Handlung in anderem Licht erscheinen lassen könnte, lässt sich daraus nicht ableiten.
Rz. 12
2. Soweit die Beschwerdeführerin beanstandet, dass die Feststellungen zu „blass” seien bzw. auf einer lückenhaften Beweiswürdigung beruhten, weil die Strafkammer die Dauer der jeweiligen „kurzen Berührung” nicht näher geklärt habe, zeigt sie sachlich-rechtliche Fehler des Urteils nicht auf. Den Urteilsgründen zufolge konnte die Strafkammer aufgrund der Beweisergebnisse dazu keine näheren Feststellungen treffen. Revisionsrechtlich relevante Lücken, Widersprüche oder sonstige Mängel der Beweiswürdigung sind insoweit nicht erkennbar. Sie ergeben sich entgegen der Auffassung der Revision insbesondere nicht daraus, dass das Landgericht den Begriff „kurz” auch im Zusammenhang mit dem „höchstens” zwei- bis dreiminütigen Aufenthalt des Vaters der Nebenklägerin in der Küche im Fall 4 der Anklageschrift verwendet hat. Es liegt bei verständiger Würdigung auf der Hand, dass die Strafkammer nicht davon ausgegangen ist, dass sich auch die „kurzen Berührungen” der bekleideten Scheide der Nebenklägerin, deren Dauer sie nicht näher einzugrenzen vermochte, jeweils über zwei bis drei Minuten erstreckten.
Unterschriften
Becker, Gericke, Tiemann, Berg, Hoch
Fundstellen
Haufe-Index 10871775 |
NStZ-RR 2017, 366 |
NStZ-RR 2017, 367 |
StV 2018, 240 |