Leitsatz (amtlich)
›Zur Würdigung vorgetragener Indiztatsachen durch den Tatrichter, hier: zum Nachweis einer behaupteten Infektion mit Viren aus dem Forschungsbereich einer tierärztlichen Hochschule.‹
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin war im Sommersemester 1970 Studentin der Tiermedizin an der Tierärztlichen Hochschule H., der Beklagten. Sie erkrankte im Frühsommer 1970 schwer. Sie bekam hohes Fieber mit Kopf- und Nackenschmerzen sowie erhebliche Magen- und Darmstörungen. In der Folgezeit suchte sie zahlreiche Ärzte auf, ohne daß die Behandlungen erfolgreich waren. Im Jahre 197B ergab eine Untersuchung im Institut für Zoonosenforschung in F. eine alte Infektion mit dem Virus leptospira bratislava.
Die Klägerin verlangt von der beklagten Hochschule unter Anrechnung eines 25%igen Mitverschuldens Ersatz ihrer materiellen und immateriellen Schäden, die ihr durch die Infektion mit diesem Virus entstanden seien und auf die sie ihre langjährige Krankheit zurückführt. Dazu behauptet sie: Sie habe im Frühsommer 1970 auf dem Gelände der Beklagten frei herumlaufende, offensichtlich kranke Welpen getroffen und einen davon auf den Arm genommen. Bei dieser Berührung mit dem Hund müsse sie sich infiziert haben. In der Tierärztlichen Hochschule sei zu dieser Zeit mit Viren des Types leptospira bratislava experimentiert worden. Ein anderer Infektionsweg komme den Umständen nach nicht in Betracht. Die Verantwortung der beklagten Hochschule ergebe sich daraus, daß sie offensichtlich nicht ihrer Verkehrssicherungspflicht genügt habe.
Die beklagte Hochschule bestreitet die Klagebehauptung und trägt insbesondere vor, bei ihr sei nie mit Leptospiren des Typs Bratislava experimentiert worden.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen.
Die Berufung der Klägerin hatte keinen Erfolg. Mit ihrer Revision verfolgt sie ihre Klageansprüche weiter.
Entscheidungsgründe
I.
Das Berufungsgericht unterstellt die Richtigkeit des Sachvortrages der Klägerin, sie habe im Sommer 1970 auf dem Gelände der Tierärztlichen Hochschule einen offenbar kranken Hund angefaßt, und sie habe sich im Jahre 1970 mit Leptospiren des Serotyps Bratislava infiziert. Es vermag sich indessen nicht davon zu überzeugen, daß der von der Klägerin berührte Hund Träger des Virus gewesen ist. Dazu erwägt das Berufungsgericht insbesondere: Eine solche Feststellung die seinerzeit durch die mangels irgendeines Verdachtes unterlassene Untersuchung des Hundes hätte getroffen werden können, könnte vielleicht durch den Nachweis ersetzt werden, daß in der Tierärztlichen Hochschule 1969 und 1970 mit Leptospiren des Typs Bratislava experimentiert worden sei. Das sei indessen aufgrund der glaubhaften Aussage des Zeugen Professor Dr. B. und nach den Ausführungen des Sachverständigen Dr. Sch. auszuschließen. Der Verdacht, die Beklagte könne Tierversuchsbücher zurückgehalten haben, sei durch die Aussage von Professor Dr. B. ausgeräumt. Dem Antrag der Klägerin, die im Bundesarchiv archivierten Unterlagen über sämtliche Leptospirenforschungen der Tierärztlichen Hochschule H. in den Jahren 1965 bis 1971 zum Nachweis dafür, daß in dieser Zeit doch mit Leptospiren des Typs Bratislava experimentiert worden sei, heranzuziehen, hat das Berufungsgericht als einen unzulässigen Ausforschungsbeweis abgelehnt.
II.
Das angefochtene Urteil hält den Verfahrensrügen der Revision nicht stand. Die Revision rügt mit Recht, daß das Berufungsgericht die erforderliche Würdigung aller von der Klägerin vorgetragenen Indiztatsachen unterlassen und zu Unrecht eine weitere Aufklärung des Sachverhaltes abgelehnt hat (§ 286 ZPO).
1. Entgegen der Auffassung der Revision spricht allerdings nicht zugunsten der Klägerin ein Anscheinsbeweis dafür, daß in den Jahren 1969/1970 in der Tierärztlichen Hochschule Tierversuche mit leptospira bratislava durchgeführt worden sind. Auch die Revision hebt insoweit mit Recht nicht auf einen Erfahrungssatz ab, den es bei einem derart singulären Verlauf nicht geben kann. Die Grundsätze, die die Rechtsprechung bei einem Verstoß gegen Unfallverhütungsvorschriften zu der Annahme veranlaßt haben, den Beweis des ersten Anscheins für einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Verstoß gegen diese Vorschriften und dem auf der fehlenden Sicherung beruhenden Unfall anzunehmen, greifen im Streitfall nicht ein. Sie können die Feststellung, daß die Infektion aus dem Verantwortungsbereich der Beklagten stammt, nicht ersetzen.
Ebensowenig kann sich die Revision für eine etwaige Umkehr der Beweislast darauf berufen, daß die beklagte Tierärztliche Hochschule jetzt keine schriftlichen Unterlagen mehr darüber vorlegen kann, aus denen sich ergibt, um welche Hunde es sich gehandelt hat, die die Klägerin angetroffen hat, und woran diese erkrankt waren. Eine Befundsicherungspflicht, wie sie unter Umständen den Arzt gegenüber seinen Patienten oder den Produzenten treffen kann, hatte die beklagte Hochschule nicht. Es fehlt auch jeder Anhaltspunkt für eine Überprüfung, ob und wie lange die beklagte Hochschule etwaige Aufzeichnungen hätte aufbewahren müssen.
2. Begründet sind dagegen die Bedenken der Revision gegen die unzureichende Würdigung der vorgetragenen Indiztatsachen. Kann wie im Streitfall der Klagevortrag nur mittels Indizien bewiesen werden, hat der Tatrichter zunächst zu prüfen, ob die gesamten vorgetragenen Indizien - deren Richtigkeit unterstellt - ihn von der Wahrheit der Haupttatsache (hier: Infektion mit leptospira bratislava bei Kontakt mit dem Hund auf dem Gelände der Tierärztlichen Hochschule) überzeugen würde (BGHZ 53, 245, 261; Senatsurteil vom 29. Juni 1982 - VI ZR 206/80 - VersR 1982, 972). Er hat sodann die von der Klägerin angeführten besonderen Umstände, aus deren sie ihren klagebegründenden Vortrag herleitet, vollständig und verfahrensrechtlich einwandfrei zu ermitteln und alle Beweisanzeichen erschöpfend zu würdigen (Senatsurteil vom 16. April 1955 - VI ZR 72/54 - AHRS Kza 6420/2, insoweit in VersR 1955, 344 nicht abgedruckt).
An einer solchen umfassenden Prüfung und Aufklärung hat es das Berufungsgericht fehlen lassen; jedenfalls lassen die Gründe des angefochtenen Urteils derartiges nicht erkennen. Das Berufungsgericht geht nur der Frage nach, ob in der Tierärztlichen Hochschule Experimente mit dem Virus, das im Freien nur begrenzt lebensfähig ist, in den Jahren 1969 und 1970 durchgeführt worden sind, und hält das nicht für bewiesen. Das erschöpft aber, wie die Revision mit Recht ausführt, den von der Klägerin auf eine Reihe von Indizien gestützten Vortrag nicht. Das Berufungsgericht unterstellt selbst als wahr, daß die Klägerin im Frühsommer 1970 auf dem Gelände der Beklagten einen offenbar kranken Welpen angefaßt hat. Es hält es offenbar für möglich, daß auf diesem Wege das Virus übertragen werden kann, und es geht zugunsten der Klägerin davon aus, daß sie sich im Jahre 1970 mit Leptospiren des Serotyps Bratislava infiziert hat. Mangels entgegenstehender Feststellungen ist darüber hinaus von folgenden weiteren Indiztatsachen auszugehen: Die Inkubationszeit bei einer Infektion mit diesem Virus schwankt zwischen 2 und 20 Tagen. Die Klägerin ist nach der Berührung des kranken Welpen innerhalb dieser Inkubationszeit erkrankt, und zwar mit Symptomen, die für eine Infektion mit dem Virus typisch sind. Leptospira australis bratislava kommt in Mitteleuropa, jedenfalls im Norden der Bundesrepublik, äußerst selten vor, so daß in diesen Gegenden eine Infektion normalerweise ausgeschlossen ist. Die Klägerin hat sich im Frühsommer 1970 nicht in anderen Ländern aufgehalten und hat auch keinen anderen Kontakt zu Tieren gehabt, die als Träger des Virus in Betracht kommen. Das Virus wird nur durch einen solchen Tierkontakt übertragen. Die beklagte Hochschule hat mindestens nicht ausschließen können, daß sie zu Experimentierzwecken über einen Bestand von Viren auch des Serotyps Bratislava, aufbewahrt in Reagenzgläsern, verfügte. Eine Gesamtwürdigung all dieser Umstände, wenn sich diese feststellen lassen, kann dem Tatrichter die Überzeugung davon vermitteln, daß die Klägerin sich tatsächlich an dem unbeaufsichtigt herumlaufenden Welpen auf dem Gelände der Tierärztlichen Hochschule infiziert hat. Die fehlende umfassende Prüfung der Schlüssigkeit des angetretenen Indizienbeweises und die dann etwa erforderlich werdende weitere tatsächliche Aufklärung zu den einzelnen Indiztatsachen muß vom Berufungsgericht nachgeholt werden.
3. Zu Unrecht hat das Berufungsgericht weiter den Antrag der Klägerin auf Beiziehung der im Bundesarchiv lagernden Forschungsberichte der beklagten Medizinischen Hochschule über bei ihr in den Jahren 1968 bis 1971 durchgeführte Leptospiren-Forschungen (Urkundenbeweis nach § 432 ZPO) abgelehnt. Die Klägerin will damit, was das Berufungsgericht an sich richtig sieht, den Beweis dafür führen, daß entgegen der Aussage von Professor Dr. B. seinerzeit doch mit Leptospiren des Serotyps Bratislava gearbeitet worden ist. Dafür sind die Forschungsberichte ein geeignetes Beweismittel, weil sie ausweisen, mit welchen Serotypen die Mitarbeiter der beklagten Tierärztlichen Hochschule experimentiert haben. Der Beweisantrag ist nicht mißbräuchlich gestellt worden, weil er, wie das Berufungsgericht meint, nicht der Beweiserhebung, sondern der Ausforschung diene. Die Klägerin, die in Beweisnot ist, ist berechtigt, eine vollständige Aufklärung des Sachverhaltes anzustreben. Sie darf, ohne sich dem Vorwurf des Rechtsmißbrauchs auszusetzen, dabei auch die Behauptung aufstellen, das archivierte Material enthalte die vermißten Hinweise auf Experimente mit Leptospiren des Typs Bratislava. Das ist keine Behauptung "ins Blaue hinein", weil tatsächlich überhaupt mit Leptospiren gearbeitet worden ist, weil nicht auszuschließen ist, daß es Bestände mit diesem Virus bei der Beklagten gegeben hat und weil die Klägerin verständlicherweise den nicht ganz hergeholten Verdacht haben kann, sie habe sich in der Tierärztlichen Hochschule mit diesem Virus infiziert. Schon gar nicht durfte das Berufungsgericht den Beweisantrag mit der Erwägung ablehnen, es sei ihm nicht zuzumuten, die offensichtlich sehr umfangreichen Unterlagen durchzusehen. Die praktische Durchführung der beantragten Beweisaufnahme konnte durchaus in einer geeigneten Form erfolgen, etwa, soweit erforderlich, durch Beauftragung eines Sachverständigen zur Überprüfung der Unterlagen.
4. Das Berufungsgericht hat schließlich, wie die Revision mit Recht rügt, den Antrag der Klägerin auf Vernehmung der Zeuginnen Dr. K. und Professor Dr. Ki. übergangen, die bekunden sollten, daß 1969 und 1970 bei der Beklagten auch mit leptospira bratislava gearbeitet worden sei. Die Erheblichkeit dieses Beweisantrages liegt nach dem bereits Ausgeführten auf der Hand. Eine Begründung für die Nichtvernehmung fehlt im angefochtenen Urteil.
III.
Das angefochtene Urteil beruht auf den dargelegten Verfahrensfehlern. Die gebotene weitere tatsächliche Aufklärung und eine Gesamtwürdigung der Indiztatsachen kann zu der Feststellung führen, daß sich die Klägerin an einem im Gelände der beklagten Tierärztlichen Hochschule frei herumlaufenden kranken Welpen mit leptospira bratislava infiziert hat, und daß darauf ihre schweren gesundheitlichen Schäden beruhen. Sollte die Beklagte dafür verantwortlich sein, was mangels ausreichender Feststellungen dazu noch nicht abschließend beurteilt werden kann, können Schadensersatzansprüche der Klägerin nach §§ 823 Abs. 1, 831, 847 BGB bestehen.
Bei der notwendigen Zurückverweisung hat der erkennende Senat von der Möglichkeit des § 565 Abs. 1 Satz 2 ZPO Gebrauch gemacht.
Fundstellen
Haufe-Index 2992994 |
NJW 1989, 2947 |
BGHR ZPO § 286 Indizienbeweis 2 |
JuS 1991, 366 |
MDR 1990, 42 |