Leitsatz (amtlich)
Zu den Voraussetzungen, unter denen der Abbruch einer Zwillingsschwangerschaft aus den in § 218a Abs. 2 und Abs. 3 StGB a.F. geregelten Indikationstatbeständen hätte gerechtfertigt sein können, so daß das Unterbleiben des Eingriffs aufgrund eines ärztlichen Behandlungsfehlers Grundlage eines Anspruchs der Eltern auf Ersatz des Unterhaltsaufwands für eines der Kinder sein könnte, das mit Behinderungen zur Welt kam.
Normenkette
BGB § 249
Verfahrensgang
OLG Braunschweig |
LG Braunschweig |
Tenor
Die Revision der Kläger gegen das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 4. Mai 2000 wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die klagenden Eheleute sind Eltern am 6. März 1995 geborener eineiiger Zwillinge. Sie nehmen die beklagten Frauenärzte auf Ersatz des Unterhalts für einen der Zwillinge, ihre Tochter S., in Anspruch. Diese kam mit schweren Fehlbildungen der Extremitäten zur Welt; ihr rechtes Bein ist nicht angelegt, das linke Bein ist verkümmert, der rechte Arm ist steif. Das andere Kind war gesund.
Die Klägerin zu 1 ließ in der Gemeinschaftspraxis der Beklagten regelmäßig schwangerschaftsbegleitende Untersuchungen durchführen, zu denen neben den üblichen, im Mutterpaß vorgesehenen Vorsorgemaßnahmen auch eine erweiterte Fehlbildungsdiagnose gehörte. Die Kläger werfen den Beklagten vor, im Rahmen dieser Untersuchungen die Fehlbildungen ihrer Tochter S. infolge eines schuldhaften Diagnosefehlers nicht erkannt zu haben. Sie machen geltend, sie hätten sich bei Kenntnis der schweren Behinderung für einen Schwangerschaftsabbruch entschieden, der rechtlich zulässig gewesen wäre.
Die Beklagten stellen Fehler in der Betreuung der Klägerin zu 1 während der Schwangerschaft in Abrede; die Mißbildungen der Tochter S. seien unter den seinerzeit gegebenen Umständen bis zum für einen Schwangerschaftsabbruch entscheidenden Zeitpunkt, dem Ablauf der 22. Schwangerschaftswoche, nicht feststellbar gewesen. Sie vertreten darüber hinaus die Auffassung, ein „selektiver” Abbruch der Schwangerschaft (nur bezüglich der Tochter S.) wäre auch bei rechtzeitiger Kenntnis von deren Fehlbildungen wegen der erheblichen Gefährdung des anderen Zwillings nicht in Frage gekommen; für einen Abbruch der gesamten Schwangerschaft habe es an einer rechtlich zulässigen Indikation gefehlt.
Das Landgericht hat die auf Erstattung des vollen Unterhaltsbedarfs der Tochter S. gerichtete, mit Zahlungs- und Feststellungsanträgen erhobene Klage abgewiesen. Die Berufung der Kläger hatte keinen Erfolg. Mit ihrer Revision verfolgen sie ihr Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe
I.
Nach Auffassung des Berufungsgerichts kann es dahinstehen, ob den Beklagten der Vorwurf eines schuldhaften Diagnosefehlers im Rahmen der Voruntersuchungen in der Schwangerschaft der Klägerin zu 1 gemacht werden kann. Denn ein Abbruch der Schwangerschaft sei nach der seinerzeit maßgeblichen Rechtslage (§ 218a Abs. 2 und 3 StGB in der Fassung des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes vom 27. Juli 1992, BGBl. I 1398, i.V.m. mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Mai 1993, BGBl. I 820) auch dann nicht zulässig gewesen, wenn die Fehlbildungen bei der Tochter S. frühzeitig erkannt worden wären.
Die Voraussetzungen eines rechtmäßigen Schwangerschaftsabbruchs nach § 218a Abs. 2 StGB a.F. (sog. medizinische Indikation) hätten nicht vorgelegen. Die Klägerin habe zwar verschiedene ärztliche Bescheinigungen vorgelegt, die auf eine gewisse Veranlagung zu Depressionen hindeuteten; die Ursachen dafür hätten jedoch weit zurückgelegen und sich im wesentlichen auf Probleme gegründet, die nichts mit der Schwangerschaft zu tun gehabt hätten.
Ein rechtmäßiger Schwangerschaftsabbruch habe auch nicht auf § 218a Abs. 3 StGB a.F. (sog. embryopathische Indikation) gestützt werden können. Zweifel bestünden schon dahin, ob eine hinreichend schwerwiegende Schädigung der Tochter S. bejaht werden könne. Jedenfalls wäre jedoch ein „selektiver” Schwangerschaftsabbruch nur des geschädigten Kindes wegen des extrem hohen Risikos für den anderen Zwilling nicht möglich gewesen. Für einen Gesamtabbruch der Schwangerschaft, also auch die Opferung des gesunden Kindes, habe jedoch keine Indikation im Sinne des § 218a Abs. 3 StGB a.F. bestanden. Zwar seien Konstellationen denkbar, in denen bei Nichtvornahme eines Schwangerschaftsabbruchs das Wohl der Mutter in so erheblichem Umfang beeinträchtigt sein könne, daß ein Gesamtabbruch auch unter Inkaufnahme des Todes eines gesunden Kindes die einzige gangbare Alternative darstelle. Von einer solchen Situation könne hier aber keine Rede sein. Bei einer Würdigung der Interessen und Belange der Schwangeren einerseits, des Lebensrechts der Kinder andererseits, könne die Güterabwägung nur zu einem für die beiden Kinder günstigen Ergebnis führen.
II.
Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision stand.
Zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, daß ein Schadensersatzanspruch der Eltern aus schuldhafter Verletzung eines ärztlichen Behandlungsvertrages, der auf die pränatale Untersuchung in der Schwangerschaftsbetreuung zwecks Vermeidung der Geburt eines schwer vorgeschädigten Kindes gerichtet war, den Arzt zur Erstattung des (gesamten) Unterhaltsbedarfs des Kindes verpflichten kann, das hernach mit schweren Behinderungen zur Welt kommt (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. Senatsurteil vom 4. März 1997 – VI ZR 354/95 – NJW 1997, 1638, 1640 mit weiteren Hinweisen, insbesondere auf die Senatsurteile BGHZ 86, 240, 247 f.; 89, 95, 104; 124, 128, 135 ff.). Entgegen der Auffassung der Revision ist das Berufungsgericht zu Recht zu der Beurteilung gelangt, daß vorliegend die Voraussetzungen eines solchen Anspruchs nicht als erfüllt anzusehen sind.
1. Da das Berufungsgericht insoweit abschließende Feststellungen nicht getroffen hat, ist allerdings für das Revisionsverfahren zugunsten der Kläger davon auszugehen, daß die Beklagten die Behinderung der Tochter S. im Rahmen der Schwangerschaftsbetreuung infolge schuldhaften ärztlichen Fehlers nicht erkannt haben und die Klägerin zu 1 – hätte sie von der Behinderung rechtzeitig Kenntnis erlangt – einen Abbruch der Schwangerschaft insgesamt gewünscht hätte.
2. Zu Recht nimmt das Berufungsgericht jedoch an, daß ein solcher Behandlungsfehler der Beklagten nur dann zu einer vertraglichen Haftung auf Ersatz des geltend gemachten Schadens führen könnte, wenn ein Abbruch der Schwangerschaft rechtlich zulässig gewesen wäre. Eine auf der Verletzung des Behandlungsvertrags beruhende Vereitelung eines möglichen Schwangerschaftsabbruchs kann nur dann Ansatz dafür sein, die Eltern im Rahmen eines vertraglichen Schadensersatzanspruchs gegen den Arzt auf der vermögensmäßigen Ebene von der Unterhaltsbelastung durch das Kind freizustellen, wenn der Abbruch rechtmäßig gewesen wäre, also der Rechtsordnung entsprochen hätte und von ihr nicht mißbilligt worden wäre (vgl. BGHZ 129, 178, 185; siehe auch bereits BGHZ 89, 95, 107).
3. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, die Voraussetzungen für einen nicht rechtswidrigen Schwangerschaftsabbruch seien vorliegend zu verneinen gewesen, ist – entgegen der Ansicht der Revision – aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
a) Das Berufungsgericht hat für die Prüfung der Rechtfertigung eines gegebenenfalls von der Klägerin zu 1 gewünschten Abbruchs der Schwangerschaft zutreffend die Rechtslage herangezogen, die im Zeitpunkt der den Beklagten vorgeworfenen Versäumnisse maßgeblich war, somit die Regelungen über die sog. medizinische und die embryopathische Indikation gemäß § 218a Abs. 2 und Abs. 3 StGB in der Fassung des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes vom 27. Juli 1992 (BGBl. I 1398) i. V. m. dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Mai 1993 (BGBl. I 820), die seinerzeit folgenden Wortlaut hatten:
(2) Der mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt vorgenommene Schwangerschaftsabbruch ist nicht rechtswidrig, wenn nach ärztlicher Erkenntnis der Abbruch notwendig ist, um eine Gefahr für das Leben der Schwangeren oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung ihres körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes abzuwenden, sofern diese Gefahr nicht auf andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann.
(3) Die Voraussetzungen des Abs. 2 gelten auch als erfüllt, wenn nach ärztlicher Erkenntnis dringende Gründe für die Annahme sprechen, daß das Kind infolge einer Erbanlage oder schädlicher Einflüsse vor der Geburt an einer nicht behebbaren Schädigung seines Gesundheitszustandes leiden würde, die so schwer wiegt, daß von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann. Dies gilt nur, wenn die Schwangere dem Arzt durch eine Bescheinigung nach § 219 Abs. 3 Satz 2 nachgewiesen hat, daß sie sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff hat beraten lassen, und wenn seit der Empfängnis nicht mehr als 22 Wochen verstrichen sind.
b) Ohne Erfolg rügt die Revision, das Berufungsgericht habe zu Unrecht bereits die Voraussetzungen des § 218a Abs. 2 StGB a.F. als nicht gegeben erachtet.
aa) Allerdings vermögen die Begründungsüberlegungen im Berufungsurteil, die Ursachen für eine gewisse Veranlagung der Klägerin zu 1 zu Depressionen lägen weiter zurück, gründeten sich auf Spannungen im privaten und beruflichen Bereich und hätten nichts mit der Schwangerschaft zu tun, die Verneinung einer medizinischen Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch für sich allein nicht in überzeugender Weise zu tragen. Denn entscheidend kann nur sein, ob – unter Berücksichtigung dieser depressiven Anlagen der Patientin – bei Erkennen der Behinderung der Tochter S. die Prognose zu stellen gewesen wäre, die der Klägerin zu 1 künftig drohenden Gefahren für ihren seelischen Gesundheitszustand müßten als so schwerwiegend eingeschätzt werden, daß sie den Abbruch der Schwangerschaft nach § 218a Abs. 2 StGB a.F. rechtfertigen könnten.
bb) Die Revision macht insoweit geltend, das Berufungsgericht habe relevanten, unter Beweis gestellten Tatsachenvortrag der Kläger nicht hinreichend beachtet. So sei in der Berufungsbegründung auf das Risiko hingewiesen worden, es wäre zu besorgen gewesen, daß die Mutter die mit der Betreuung und der Sorge um das weitere Schicksal eines behinderten Kindes verbundenen Belastungen nicht aushalte und deshalb das konkrete Risiko gegeben sei, daß sich eine chronische, kaum mehr heilbare Depression herausbilde; hierzu hätten die Kläger Beweis durch Einholung eines Sachverständigengutachtens angeboten. Indessen war dieser sowohl zu den Auswirkungen der konkreten Behinderung der Tochter S. als auch zu Art und Ausmaß der befürchteten Depressionen nur sehr pauschale Klägervortrag zum einen unter Heranziehung der im Berufungsurteil erwähnten, auch in der Revisionsbegründung in Bezug genommenen ärztlichen Bescheinigungen zu gewichten, aus denen sich für einige teilweise lang zurückliegende Zeiträume vor der Schwangerschaft der Klägerin zwar gewisse behandlungsbedürftige depressive Beeinträchtigungen ergaben, jedoch keineswegs in einem Ausmaß und einer Bedeutung, die als schwerwiegende Bedrohung der seelischen Gesundheit im Sinne von § 218a Abs. 2 StGB a.F. gewertet werden könnten (vgl. zu den Anforderungen an vergleichbare psychische Beeinträchtigungen Senatsurteil BGHZ 129, 178, 184). Ferner war bei Beurteilung des von der Revision angeführten Vorbringens aus der Berufungsbegründung zu berücksichtigen, daß dort weiter vorgetragen worden war, die befürchteten depressiven Beeinträchtigungen hätten sich auch tatsächlich realisiert; die Klägerin leide „unter Erschöpfungs- und Angstzuständen, die ihre Leistungsfähigkeit und Lebensfreude erheblich beeinträchtigten”. Derartige Störungen, die sich somit nach dem Klägervortrag mit den Prognosen, die gegebenenfalls im Rahmen der Schwangerschaft möglich gewesen wären, gedeckt hätten, könnten aber ebenfalls nicht als ausreichend schwerwiegende Gefahren für den seelischen Gesundheitszustand der Schwangeren angesehen werden, die aus dem Gesichtspunkt einer medizinischen Indikation einen Abbruch der Zwillingsschwangerschaft zu rechtfertigen vermocht hätten. Dies würde einen die Opfergrenze für die Schwangere überschreitenden Ausnahmetatbestand voraussetzen (vgl. Senatsurteil BGHZ 129, 178, 183 f. unter Hinweis auf BVerfGE 88, 203, 272 ff.), der hier für die Klägerin zu 1 nicht dargetan war. Bei dieser Sachlage war das Berufungsgericht auch nicht aus prozeßrechtlichen Gründen gehalten, über den von der Revision als übergangen gerügten Sachvortrag Beweis durch Sachverständigengutachten zu erheben.
cc) Konnte das Berufungsgericht daher im Ergebnis ohne Rechts- und Verfahrensfehler bereits das Vorliegen einer Rechtfertigung aus medizinischer Indikation für den von den Klägern für möglich erachteten Abbruch der Schwangerschaft verneinen, so kann die Frage offen bleiben, ob – wären die Voraussetzungen des § 218a Abs. 2 StGB a.F. als erfüllt anzusehen – ein zum Unterbleiben des Eingriffs führender Behandlungsfehler der Beklagten im Hinblick auf den Schutzzweck des zwischen ihnen und der Klägerin zu 1 bestehenden Behandlungsvertrages zur Einstandspflicht der Ärzte für den Unterhaltsbedarf der Tochter S. hätte führen können. Denn soweit ein Schwangerschaftsabbruch aus medizinischer Indikation zur Abwehr einer schwerwiegenden Gefahr für die Gesundheit der Schwangeren in Betracht kommt, erstreckt sich der Schutzumfang des Behandlungsvertrages im allgemeinen nicht auf die Bewahrung vor belastenden Unterhaltsaufwendungen für das Kind (vgl. Senatsurteil vom 25. Juni 1985 – VI ZR 270/83 – VersR 1985, 1068, 1071; siehe hier auch BGHZ 143, 389, 393 f.); daß sich gerade diese Belastung durch den späteren Unterhalt für das Kind in entscheidender Weise negativ auf den Gesundheitszustand der Mutter auszuwirken drohte, haben weder die Kläger vorgetragen noch wird dies von der Revision geltend gemacht. Ob und unter welchen besonderen Umständen darüber hinaus in Fällen eines unterlassenen Schwangerschaftsabbruchs, der aus medizinischer Indikation in Frage gekommen wäre, eine Erstreckung des Schadensersatzanspruchs auf die Erstattung des Unterhaltsbedarfs dann in Erwägung zu ziehen sein könnte, wenn die relevante gesundheitliche Beeinträchtigung der Mutter gerade auf den Belastungen beruht, die mit dem „Haben” und der Betreuung eines vorgeschädigten Kindes im Zusammenhang stehen, bedarf im Hinblick auf den hier vorliegenden Sachverhalt und die für seine Beurteilung maßgebliche Rechtslage keiner weiteren Erörterung.
c) Der Revision muß auch insoweit der Erfolg versagt bleiben, als sie sich gegen die Verneinung einer embryopathischen Indikation für den Schwangerschaftsabbruch nach § 218a Abs. 3 StGB a.F. im Berufungsurteil wendet.
aa) Auch die Revision stellt den Ausgangspunkt des Berufungsgerichts nicht in Frage, daß hier aus medizinischen Gründen nur ein Gesamtabbruch der Zwillingsschwangerschaft in Betracht gekommen wäre, zu dem sich die Klägerin zu 1 nach ihrem Vortrag bei zutreffender Aufklärung auch entschlossen hätte. Wegen der erheblichen Gefahren, die dem zweiten Kind drohten, wenn der Versuch unternommen worden wäre, ausschließlich die vorgeschädigte Leibesfrucht abzutöten, verbot sich eine „selektive” Abtreibung von vornherein.
bb) Ein solcher Sachverhalt, in dem das Lebensrecht zweier ungeborener Kinder, von denen nur eines vorgeburtlich geschädigt ist, der Belastung der mit einer solchen Situation konfrontierten Mutter gegenüber steht, entspricht nicht der typischen Konfliktlage, die durch § 218a Abs. 3 StGB a.F. geregelt werden sollte (vgl. hierzu Hirsch, MedR 1988, 292, 294; Eberbach, JR 1989, 265, 271 f; Hülsmann, NJW 1992, 2331, 2335; Hülsmann, Produktion und Reduktion von Mehrlingen, 1992, S. 205 f.). Diese Vorschrift geht vielmehr von dem Regelfall aus, daß sich die Schwangerschaft aufein durch eine vorgeburtliche Schädigung bedrohtes Kind beschränkt und sich daraus die Frage stellt, ob der Mutter unter Berücksichtigung der Schwere dieser Schädigung zugemutet werden kann, dieses Kind auszutragen und zu gebären; hierzu soll sie nicht gezwungen sein, wenn sie sich verständlicherweise außer Stande sieht, die damit verbundenen Belastungen zu tragen und die besondere Pflege und Betreuung zu leisten. Davon weicht die vorliegende Konstellation zum einen wegen des Hinzutretens des Lebensrechts auch des zweiten, selbst nicht geschädigten Kindes, zum andern wegen der dadurch deutlich, gerade auch mit positiven Aspekten veränderten Ausgangssituation der Mutter in erheblichem Umfang ab.
cc) Ob dem Berufungsgericht darin zuzustimmen ist, daß trotz dieser Besonderheiten auch in einer Konstellation, wie sie hier durch die Zwillingsschwangerschaft gegeben ist, ein aus embryopathischer Indikation gerechtfertigter Gesamtabbruch bei Vorschädigung nur eines Kindes nicht von vornherein und generell ausgeschlossen ist, muß im vorliegenden Fall nicht abschließend entschieden werden. Ob einem Abbruch wesentlich der Gesichtspunkt eines unzulässigen Eingriffs in Rechtsgüter eines Dritten entgegenstehen würde (vgl. dazu Hirsch aaO), mag als fraglich erscheinen: Die in § 218a Abs. 3 StGB a.F. normierte Indikation knüpft an die Belastungen an, der die Mutter durch Fortsetzung der konkreten Schwangerschaft insgesamt mit all ihren Konsequenzen ausgesetzt ist; im Rahmen dieser Schwangerschaft ist der andere (gesunde) Zwilling nicht außenstehender Dritter, sondern eingebunden in eine „Schicksalsgemeinschaft” (vgl. Hülsmann, Produktion und Reduktion von Mehrlingen aaO), in welcher seine Rechtspositionen und Interessen nicht losgelöst von denjenigen der anderen Beteiligten (Mutter und Zwillingsgeschwister) gesehen und gewertet werden können. Von daher könnte es als zweifelhaft erachtet werden, ob von der Schwangeren stets und unter allen Umständen verlangt werden kann, auch den kranken Embryo um des gesunden willen auszutragen (vgl. Schönke/Schröder/Eser, 24. Aufl., 1991, Rdn. 27a zu § 218a StGB a.F.; Eberbach, aaO, 272). Auch in einem so gelagerten Fall dürfte jedenfalls über eine Rechtfertigung des (Gesamt-) Schwangerschaftsabbruchs aus dem Gedanken des § 218a Abs. 3 StGB a.F. nur im Rahmen einer Güterabwägung entschieden werden, die unter Beachtung der hier durch die Zwillingsschwangerschaft gegebenen besonderen Umstände die – vor allem verfassungsrechtlich geschützten – Rechtsgüter und Interessen der Schwangeren und der ungeborenen Kinder berücksichtigt.
Im Hinblick auf das große Gewicht, das in solchen Fällen dem Lebensrecht der Zwillinge zukommt, von denen einer nicht vorgeschädigt ist und bei dem somit der Ansatzpunkt der embryopathischen Indikation selbst nicht verwirklicht ist, könnte die erforderliche Güterabwägung jedoch höchstens dann zur Rechtfertigung des Abbruchs der gesamten Schwangerschaft führen, wenn die zu gewärtigende Belastung der Schwangeren als ganz besonders schwerwiegend einzuschätzen ist. Insoweit müßten an die Bejahung einer die Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch tragenden Konfliktlage hier deutlich höhere Anforderungen als dort gestellt werden, wo es um eine typische Fallgestaltung des § 218a Abs. 3 StGB a.F. geht. Für die Erfüllung solcher strengen Anforderungen müßte dem Ausmaß und der Schwere der Schädigung des einen Zwillings entscheidendes Gewicht im Hinblick auf die daraus resultierenden besonders gravierenden Konsequenzen für die Mutter zukommen, die sich der Aufgabe ausgesetzt sieht, beiden Kindern und ihren Eigenarten in Sorge, Betreuung und Zuwendung gerecht werden zu müssen. Beachtung zu schenken wäre dabei auch der konkreten physischen und psychischen Ausgangslage der Schwangeren; andererseits dürften aber die zusätzlichen positiven Aspekte nicht außer Acht gelassen werden, die hier bereits daraus resultieren, daß die Mutter ein weiteres Kind zur Welt bringt.
dd) Unter Berücksichtigung dieser Erwägungen konnte das Berufungsgericht vorliegend – entgegen der Auffassung der Revision – ohne Rechtsfehler die Voraussetzungen für einen auf § 218a Abs. 3 StGB a.F. gestützten rechtmäßigen Abbruch der Zwillingsschwangerschaft als nicht erfüllt erachten. Im Berufungsurteil werden die Beeinträchtigungen der Tochter S. beanstandungsfrei gewichtet, ohne daß die Revision dagegen durchgreifende Einwendungen aufzuzeigen vermag. Insbesondere ist sie geistig vollkommen gesund; ihre körperlichen Behinderungen ermöglichen zwar nur eine Fortbewegung im Rollstuhl, lassen jedoch eine Teilhabe am Leben in Familie und Gemeinschaft ohne weiteres zu. Im Hinblick auf die oben dargelegten hohen Anforderungen an die Konfliktlage in einer Fallgestaltung, wie sie hier gegeben ist, hat das Berufungsgericht zu Recht auch unter Berücksichtigung der klägerischen Interessen die Güterabwägung zu Gunsten des Lebensrechts der beiden Kinder vorgenommen; es hat keineswegs die Grenzen des für die Schwangere Zumutbaren zu weit gezogen, vielmehr auf deren Belange und subjektive Belastbarkeit hinreichend Rücksicht genommen (vgl. hierzu Senatsurteil BGHZ 89, 95, 107, 129, 178, 184).
Dies gilt auch, soweit die Revision auf die geringe psychische Belastbarkeit der Mutter abstellt: Auch wenn man insoweit den oben erörterten, von der Revision im Hinblick auf die Problematik einer medizinischen Indikation als übergangen gerügten Klägervortrag zu drohender depressiver Beeinträchtigung der Klägerin zu 1 in die Beurteilung mit einbezieht, ergeben sich hieraus bei dem oben dargelegten Verständnis keine Belastungen in einem Ausmaß, das es rechtlich geboten hätte, die familiäre Situation nach Geburt der beiden Kinder aus Sicht der Klägerin zu 1 für so ausweglos und belastend zu erachten, daß es ihr nicht mehr zumutbar gewesen wäre, die Zwillingsschwangerschaft fortzusetzen; es bedurfte daher auch im Rahmen der Prüfung des § 218a Abs. 3 StGB a.F. nicht der beantragten Beweiserhebung zu diesem Vortrag.
III.
Die Revision der Kläger war daher mit der Kostenfolge aus § 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen.
Unterschriften
Dr. Müller, Dr. Dressler, Wellner, Diederichsen, Stöhr
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 04.12.2001 durch Holmes, Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 670928 |
BGHZ |
BGHZ, 236 |
NJW 2002, 886 |
BGHR 2002, 191 |
FamRZ 2002, 386 |
NJW-RR 2002, 721 |
Nachschlagewerk BGH |
ArztR 2002, 272 |
EzFamR aktuell 2002, 66 |
MDR 2002, 336 |
MedR 2002, 356 |
VersR 2002, 233 |
KHuR 2002, 167 |
KHuR 2003, 8 |
ZfL 2002, 13 |