Entscheidungsstichwort (Thema)

Anforderungen an ein grobes Verschulden eines Kraftfahrzeugführers

 

Leitsatz (amtlich)

Über die objektiven und subjektiven Voraussetzungen der groben Fahrlässigkeit bei Verursachung eines Unfalls durch verkehrswidriges Verhalten (hier: Befahren einer abschüssigen Kurvenstrecke mit überhöhter Geschwindigkeit).

 

Normenkette

RVO § 640; PflVG § 3 Nr. 1

 

Tenor

  1. Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 6. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 21. Dezember 1971 aufgehoben.

    Das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 2. Juni 1971 wird auf die Berufung der Klägerin dahin abgeändert:

    1. Die Beklagten werden verurteilt, an die Klägerin als Gesamtschuldner 17.962,46 DM nebst 4 % Zinsen hieraus seit dem 8. Oktober 1970 zu zahlen.
    2. Es wird festgestellt, daß die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin alle weiteren Aufwendungen zu ersetzen, die sie seit dem 1. Oktober 1970 aus Anlaß des Verkehrsunfalls des Joseph Köber vom 28. November 1968 erbracht hat und noch erbringt, die Zweitbeklagte jedoch nur im Rahmen ihrer Deckungspflicht als Haftpflichtversicherer.
  2. Die Kosten des Rechtsstreits fallen den Beklagten zur Last.
 

Tatbestand

Am 28. November 1968 befuhr der Erstbeklagte als Fahrer eines seiner Arbeitgeberin gehörigen Volkswagen-Busses die ihm von früheren Fahrten bekannte Straße zwischen Osteisheim und Weil der Stadt in Württemberg.

Mitinsasse des Fahrzeugs war sein Arbeitskamerad K. Auf der Strecke herrschte teilweise Nebel; die Temperaturen lagen um den Gefrierpunkt.

Die Strecke weist etwa 2 km vor Weil der Stadt mehrfach Gefälle auf und ist kurvenreich. Auf dieser Strecke geriet der Beklagte in einer Linkskurve, die bis zu ihrem Scheitelpunkt etwa 12 % abfällt (im weiteren Verlauf findet sich noch ein Gefälle von 18 %) nach rechts von der Fahrbahn ab und gegen einen Baum. Dabei wurde K. erheblich verletzt.

Damals waren 3 Verkehrszeichen nach Bild 21 der Anlage zur StVO a.F. angebracht, durch die die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 50 km/h begrenzt wurde. Das erste Verbotszeichen (1.050 m vor der Unfallstelle) war mit dem Hinweis "Kurve" (Bild 3) und den Zusätzen "Zwei Kilometer" und "Seitenstreifen nicht befahrbar" versehen. Etwa 300 m später folgte das zweite Zeichen mit dem Hinweis "18 % Gefälle" und dem Zusatz "Glatteisgefahr". Das dritte Zeichen (250 m vor der Unfallstelle) hatte den Zusatz "Schleudergefahr".

Die Zweitbeklagte war Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherer für den Wagen.

Die Klägerin erbrachte und erbringt als gesetzlicher Unfallversicherer Leistungen für K.. Sie begehrt deren Erstattung durch die Beklagten (§ 640 RVO) mit der Begründung, dem Erstbeklagten falle grobe Fahrlässigkeit zur Last.

Beide Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Die Revision verfolgt sie weiter.

 

Entscheidungsgründe

I.

Das Berufungsgericht hält die Klage für unbegründet, weil es sich ebenso wenig wie das Landgericht davon zu überzeugen vermag, daß dem Erstbeklagten die Voraussetzungen groben Verschuldens nachgewiesen seien. Dies greift die Revision an. Die Feststellung groben Verschuldens i.S. des § 640 RVO ist allerdings in erster Linie Sache des Tatrichters (ständige Rspr. des erk. Senats). Das Revisionsgericht hat aber zu prüfen, ob der Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit vom Tatrichter zutreffend erkannt worden ist. Die Revision verneint das mit Grund.

Das Berufungsgericht stellt fest, daß der Erstbeklagte (demnächst: der Beklagte) die beschriebene Strecke mit 70 km/h oder doch mit nahezu dieser Geschwindigkeit durchfahren hat. Damit habe er sich über das Verbot einer über 50 km/h liegenden Geschwindigkeit hinweggesetzt. Erstmals zu Beginn der unfallursächlichen scharfen Linkskurve (etwa 90 m vor deren Scheitelpunkt) und längst nach dem Passieren der letzten Beschilderung habe er versucht abzubremsen. Als sodann das Fahrzeug auf der abschüssigen Strecke gedroht habe ins Schleudern zu geraten, habe der Beklagte ein ungebremstes Durchfahren der Kurve riskiert und sei - möglicherweise nach einem erneuten Bremsversuch - infolge seiner überhöhten Geschwindigkeit von der Fahrbahn abgekommen.

Das Berufungsgericht vermag dagegen nicht festzustellen, daß plötzliche Eisglätte für den Unfall ursächlich geworden ist; erst an einer Straßenstelle, die der Beklagte infolge des Unfalls nicht mehr erreicht hat, sei die Fahrbahn feucht bzw. vereist gewesen. Auch daß für den Unfall eine Sichtbehinderung durch Nebel ursächlich geworden sein könnte, vermag das Berufungsgericht nicht mit Sicherheit festzustellen.

II.

Angesichts dieser Feststellungen läßt sich die angefochtene Entscheidung mit dem in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs herausgearbeiteten Begriff der groben Fahrlässigkeit i.S. des § 640 RVO nicht vereinbaren.

Nach dieser Rechtsprechung ist freilich nicht nur erforderlich, daß das unfallursächliche Verhalten objektiv grob fehlsam war (vgl. dazu Weingart VersR 1968, 427 und Lohe das. S. 323, 328). Vielmehr ist weiterhin zu fordern, daß sich der Täter mit diesem Verhalten über Gebote und Einsichten hinweggesetzt hat, die sich jedem aufdrängen mußten (Senatsurteil vom 21. April 1970 - VI ZR 226/68 - VersR 1970, 568 mit Nachw.). Daß sich diese wegen der häufigen Härte des Rückgriffs strengen Erfordernisse auch dann nicht zum Nachteil des Verantwortlichen abschwächen können, wenn er wie hier der Beklagte als Kraftfahrer den Schutz einer Haftpflichtversicherung genießt, bemerkt das Berufungsurteil zu Recht. Das ändert aber nichts daran, daß der Beklagte nach den Feststellungen des Berufungsgerichts einen typischen Fall der objektiv und subjektiv groben Fahrlässigkeit verwirklicht und dadurch den Unfall herbeigeführt hat. Er hat sich nämlich bewußt und hartnäckig über wichtige Verkehrsgebote hinweggesetzt, die ihm durch die Beschilderung besonders eindringlich nahegebracht wurden und deren Berechtigung offen zutage lag.

1.

Mit Recht hat allerdings das Berufungsgericht dem Beklagten auch in subjektiver Hinsicht nicht angelastet, daß am Unfalltage Nebelbildung herrschte. Diese hat der Beklagte zwar bei der Wahl seiner Fahrgeschwindigkeit in vorwerfbarer Weise außer Acht gelassen. Eine Sichtbehinderung hat sich aber im Unfallverlauf nicht ausgewirkt, so daß das Fehlverhalten des Beklagten insoweit keine hinreichende Beziehung zu ihm hat.

Das Berufungsgericht will ferner außer Betracht lassen, daß der Beklagte auch mit einer stellenweisen Vereisung der Fahrbahn rechnen mußte; sie war nach seinen Feststellungen zwar anderwärts gegeben, aber nicht an der Unfallstelle, so daß sie objektiv auf den Unfallverlauf ohne Einfluß geblieben ist. In subjektiver Hinsicht ergibt sich auch hier ein gewichtiger Vorwurf gegenüber dem Verhalten des Beklagten, für den die Frostlage Anlaß sein mußte, die allgemein, also auch im Sommer, geltende Geschwindigkeitsbegrenzung möglichst noch zu unterschreiten. Insofern hat sich auch die konkrete Gefahr ausgewirkt, die durch mäßige Geschwindigkeit zu vermeiden die Temperaturlage zusätzlichen Anlaß bot, nämlich der Verlust der Fahrbahnhaftung. Wenn indessen das Berufungsgericht auch insofern den subjektiven Vorwurf gegen den Beklagten mit Rücksicht auf den objektiven Verlauf nach allgemeinen Zurechnungsgrundsätzen außer Betracht lassen will, dann kann dieser mindestens vertretbare Standpunkt zugunsten des Beklagten schon deshalb zugrundegelegt werden, weil er für das Ergebnis ohne Einfluß bleibt.

2.

Auch im übrigen erweist sich nämlich das festgestellte Verhalten des Beklagten als grob fahrlässig.

a)

Vorweg ist zu bemerken, daß die Geschwindigkeitsbeschränkung auf 50 km/h, die allgemein, also ohne Rücksicht auf die Wetterlage und die Beschaffenheit des jeweiligen Fahrzeugs angeordnet war, den Beklagten noch nicht ohne weiteres zu dieser Geschwindigkeit berechtigte. Darum ist es schon bedenklich, wenn das Berufungsurteil meint, jedenfalls die Einhaltung der allgemein vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit hätte dem Beklagten "schon als einfache Fahrlässigkeit schwerlich zur Last gelegt werden können". Der Beklagte war mit dem benutzten Fahrzeug, einem VW-Bus, "nicht eingefahren"; es war ihm indessen bekannt, daß es nach seiner allgemeinen Beschaffenheit "leicht umkippe". Dies ergibt sich aus seiner Aussage im Strafverfahren, auf die das Berufungsgericht im Rahmen seiner Feststellungen ausdrücklich Bezug nimmt. Ob der damalige Zusatz des Beklagten, ihm sei zuvor von seinem "Chef" gesagt worden, das Fahrzeug sei nicht in Ordnung, eine auf das Strafverfahren gezielte Schutzbehauptung darstellte (er wurde dort dennoch wegen fahrlässiger Körperverletzung verurteilt), kann dahinstehen. Jedenfalls bildete die Beschaffenheit des Fahrzeugs und die ungenügende Vertrautheit des Beklagten mit ihm neben der Wetterlage dringenden Anlaß zu besonderer Vorsicht. So bestand für den Beklagten Grund, die allgemein - also auch für optimale Verhältnisse - angeordnete Höchstgeschwindigkeit noch zu unterschreiten.

Stattdessen hat der Beklagte die durch außerordentlich sinnfällige Beschilderung ausgedrückte Höchstgeschwindigkeit um etwa 40 % überschritten. Dies tat er, obgleich ihm als Kenner der Strecke auch der gute Grund dieser Regelung einsichtig war, jedenfalls sein mußte. Damit hat er sich in verantwortungsloser Weise über ein nach Bestand und Berechtigung offenkundiges Verbot hinweggesetzt und dadurch den Unfall verursacht, wie das Berufungsgericht fehlerfrei feststellt.

b)

Angesichts dieser Sachlage kann dem Beklagten entgegen der Meinung des Berufungsgerichts der Vorwurf der groben Fahrlässigkeit nicht erspart werden.

III.

Nach allem zwingt der hier festgestellte Sachverhalt, zu dem, wenn auch nach der Rechtsprechung des Senats an strenge Voraussetzungen geknüpften Vorwurf der groben Fahrlässigkeit gegen den Beklagten. Der Klaganspruch ist daher aus § 640 RVO gerechtfertigt. Die Mithaftung der Zweitbeklagten im Rahmen ihrer Leistungspflicht als Haftpflichtversicherer ergibt sich aus § 3 Nr. 1 PflVG. Für ihre nur auf Vermutung gestützte Verjährungseinrede haben die Beklagten trotz vorsorglichem Hinweis im Urteil des Landgerichts keinen Beweis angetreten, sind vielmehr auf sie später nicht mehr zurückgekommen.

Da weitere Feststellungen zugunsten der Beklagten nicht in Frage stehen und über den Betrag des Anspruchs nach ausdrücklicher Feststellung des Berufungsgerichts kein Streit besteht, vermag das Revisionsgericht die ersetzende Entscheidung selbst zu treffen (§ 565 Abs. 2 Nr. 1 ZPO).

 

Unterschriften

Dr. Weber, Vorsitzender Richter

Nüßgens, Richter

Dunz, Richter

Dr. Steffen, Richter

Dr. Kullmannden, Richter

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1456075

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge