Verfahrensgang
LG Aschaffenburg (Urteil vom 28.07.2016) |
Tenor
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Aschaffenburg vom 28. Juli 2016 wird verworfen.
Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Tatbestand
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in zwei Fällen in Tatmehrheit mit sexueller Nötigung in Tatmehrheit mit Wohnungseinbruchdiebstahl zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt. Mit ihrer auf die Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision beanstandet die Staatsanwaltschaft zulasten des Angeklagten allein die Nichtanordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung. Das vom Generalbundesanwalt nicht vertretene Rechtsmittel hat keinen Erfolg.
I.
Rz. 2
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts wurde der Angeklagte im Jahr 1964 in Rumänien geboren. Im Jahr 1989 verließ er seine Heimat und hielt sich danach in verschiedenen Ländern der Europäischen Union auf. In den Jahren 1990 bis 2006 wurde er in Deutschland fünfmal wegen unerlaubter Einreise zu Geld- oder Freiheitsstrafen verurteilt. Während er im Jahr 2008 – arbeits- und obdachlos – in Deutschland lebte, beging er im Zeitraum von 26. Januar bis 10. Februar 2008 folgende Sexualstraftaten:
Rz. 3
a) Am 26. Januar 2008 gegen 16.00 Uhr näherte er sich der damals 18 Jahre alten Geschädigten … J. auf einem Waldweg in S. … mit dem Fahrrad von hinten. Sodann sprang er sie an, umklammerte sie, hielt ihr den Mund zu und ging mit ihr zu Boden. Obwohl sie um Hilfe rief, sich heftig wehrte und ihm dabei in den Finger biss, ließ der Angeklagte nicht von der Geschädigten ab. Nachdem er ihre Flucht durch Schläge ins Gesicht verhindert hatte, würgte er sie, setzte sich auf ihren Bauch und zog ihre Hose und ihren Slip bis zu ihren Oberschenkeln herunter. Nachdem er sie an den Fußgelenken über den Waldboden tiefer in den Wald gezogen und sodann weiter ausgezogen hatte, leckte er ihr an der Scheide und versuchte, sein Glied in ihre Vagina einzuführen. Dies misslang ihm jedoch, weil sein Penis nicht erigierte. Dann fasste der Angeklagte der Geschädigten mit einem Finger tief in die Scheide, so dass sie Schmerzen erlitt. Ein weiterer Versuch, mit seinem Glied in die Scheide der Geschädigten einzudringen, scheiterte erneut an der fehlenden Erektion seines Gliedes. Nachdem die Geschädigte ihm versichert hatte, niemandem von dem Vorfall zu erzählen, ließ der Angeklagte von ihr ab und fuhr mit seinem Fahrrad davon (Fall C.I.1. der Urteilsgründe).
Rz. 4
b) In ähnlicher Weise überfiel der Angeklagte am 5. Februar 2008 gegen 9.30 Uhr die 42 Jahre alte Geschädigte … H. auf einem Flurweg in der Nähe von B., um sich an ihr sexuell zu vergehen. Er näherte sich ihr von hinten mit seinem Fahrrad und riss sie zu Boden. Obwohl sich die Geschädigte heftig wehrte, gelang es dem Angeklagten, sie festzuhalten und ihr nach einem minutenlangen Kampf Hose und Slip auszuziehen. Anschließend leckte der Angeklagte am After der Geschädigten, kniete sich anschließend auf Hals und Brust der Geschädigten und drang dann mit mehreren Fingern in ihre Scheide ein, wodurch sie starke Schmerzen erlitt. Ihr Flehen, doch aufzuhören, beantwortete der Angeklagte mit der Aufforderung, mit ihm „Liebe zu machen”. Er ließ dann aber von der Geschädigten ab und fuhr mit dem Fahrrad davon (Fall C.I.2. der Urteilsgründe).
Rz. 5
c) Am 10. Februar 2008 ging die 41 Jahre alte Geschädigte … K. zwischen 13.30 Uhr und 14.20 Uhr in der Nähe von W. im E. Wald spazieren. Nachdem sie sich auf eine Baumwurzel gesetzt hatte, versuchte der Angeklagte, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Als sie dies ablehnte, packte er die Geschädigte am Arm und drückte sie fest zu Boden, um sich an ihr zu vergehen. Der Angeklagte legte sich auf die Geschädigte, öffnete ihre Hose, um den Vaginalverkehr durchzuführen, und küsste sie auf den Mund. Als die Geschädigte den Kuss nicht erwiderte, sondern sich heftig wehrte, biss, kratzte und nach dem Angeklagten trat, ließ er von weiteren sexuellen Handlungen ab und entfernte sich unter Mitnahme des Rucksacks der Geschädigten (Fall C.I.3. der Urteilsgründe).
Rz. 6
2. Mehrere Jahre später, am 4. Juli 2015, betrat der Angeklagte nachts zwischen 3.00 Uhr und 7.00 Uhr, nachdem er eine Leiter an den Balkon angelehnt hatte, über die geöffnete Balkontür das Haus der Familie P. in der Nähe von T.. Er entwendete dort zwei Mobiltelefone, ein Tablet und Bargeld (Fall C.II. der Urteilsgründe).
Rz. 7
3. Das Landgericht hat den Angeklagten deshalb wegen Vergewaltigung in zwei Fällen zu Einzelfreiheitsstrafen von fünf Jahren und sechs Monaten sowie vier Jahren und sechs Monaten, wegen sexueller Nötigung zu einer Einzelfreiheitsstrafe von drei Jahren und wegen Wohnungseinbruchdiebstahls zu einer solchen von einem Jahr verurteilt. Hieraus hat es eine Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren gebildet.
Rz. 8
4. Die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB) hat das Landgericht abgelehnt, weil es sich vom Vorliegen der Voraussetzungen dieser Maßregel nicht überzeugen konnte (UA S. 98). Zwar lägen sowohl die formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 2 StGB als auch die des § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB vor. Die materielle Anordnungsvoraussetzung eines Hangs zu erheblichen Straftaten im Sinne von § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB sei jedoch nicht festzustellen gewesen. Allerdings spreche für das Vorliegen eines derartigen Hangs, dass der Angeklagte in nur etwas mehr als 14 Tagen drei Sexualstraftaten begangen habe. Auf der anderen Seite sei der Angeklagte weder vor noch nach diesen Taten wegen einschlägiger Delikte verurteilt worden. Vor allem der Umstand, dass der Angeklagte seit mehr als sieben Jahren keine Sexualstraftat mehr begangen habe, spreche hierbei gegen das Vorliegen eines Hangs zur Begehung von Sexualstraftaten. Das Landgericht hat dabei berücksichtigt, dass selbst lange straffreie Pausen das Vorliegen eines Hangs nicht ausschließen.
Entscheidungsgründe
II.
Rz. 9
Die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte und wirksam (vgl. BGH, Urteil vom 28. April 2015 – 1 StR 594/14) auf die Beanstandung der Nichtanordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB) beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft ist unbegründet. Die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung stand.
Rz. 10
Der Generalbundesanwalt hat in seiner Antragsschrift hierzu Folgendes ausgeführt:
„Die Kammer hat zutreffend die formellen Anforderungen einer Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 2 und 3 StGB als gegeben angesehen (UA S. 99 f.). Die Anordnung der Sicherungsverwahrung hat sie dennoch abgelehnt, da sie sich vom Vorliegen eines Hangs im Sinne des § 66 StGB nicht überzeugen konnte (UA S. 100-117). Dabei hat sie ihrer Würdigung die von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entwickelten rechtlichen Maßstäbe zum Vorliegen eines derartigen Hanges (unten 1.) zugrunde gelegt und ist aufgrund einer umfassenden Würdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme zu dem Ergebnis gekommen, dass deren Voraussetzungen in der Person des Angeklagten nicht gegeben sind (unten 2.). Die Revision der Staatsanwaltschaft vermag einen Rechtsfehler dieser Würdigung nicht aufzuzeigen (unten 3.). Von der Prüfung der Anordnung einer vorbehaltenen Sicherungsverwahrung hat die Kammer rechtlich beanstandungsfrei abgesehen (unten 4.).
Als Hang im Sinne des § 66 StGB ist ein eingeschliffener innerer Zustand des Täters anzusehen, der ihn immer wieder neue Straftaten begehen lässt. Er kann sowohl bei einem Täter vorliegen, der dauerhaft zu Straftaten entschlossen ist, wie bei einem Täter, der aufgrund einer fest eingewurzelten Neigung immer wieder straffällig wird, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet (stRspr.; vgl. BGH Urteil vom 25. Februar 1988 – 4 StR 720/87, BGHR StGB § 66 Abs. 1 Hang 1; Urt. vom 8. Juli 2005 – 2 StR 120/05, BGHSt 50, 188, 195 f. m.w.N.). Der Hang muss sich auf erhebliche rechtswidrige Taten richten (Fischer StGB 63. Aufl. § 66 Rdn. 57 m.w.N.) und zur Zeit des tatgerichtlichen Urteils gegeben sein (BGH Urteil vom 8. Juli 2005 aaO S. 193 m.w.N.). Der Hang ist ein der gerichtlichen Würdigung unterliegender Rechtsbegriff, die Beurteilung seines Vorliegens darf daher nicht einem Sachverständigen überantwortet werden (vgl. Rissing-van Saan/Peglau LK StGB 12. Aufl. § 66 Rdn. 117 m.w.N.). Die gerichtliche Würdigung ist anhand einer Gesamtbetrachtung der Persönlichkeit des Angeklagten, der Symptom- und Anlasstaten unter Einbeziehung aller objektiven und subjektiven Umstände vorzunehmen (vgl. Rissing-van Saan/Peglau LK StGB 12. Aufl. § 66 Rdn. 100 m.w.N.).
Von besonderer Bedeutung ist dabei die zeitliche Verteilung der Straftaten, wobei längere straffreie Zeiträume zwar im Grundsatz, aber nicht zwingend gegen einen Hang sprechen. Dessen Annahme bedarf in derartigen Fällen besonders eingehender Begründung (Rissing-van Saan/Peglau a.a.O. Rdn. 131; m.w.N.). Verstärkten Begründungsanforderungen unterliegt die Annahme des Hangs auch in den Fällen des § 66 Abs. 2 und 3 StGB (wie hier), da die für die Würdigung zur Verfügung stehende Tatsachenbasis regelmäßig schmaler ist als in den Fällen des § 66 Abs. 1 StGB (BGH Urteil vom 15. Februar 2011 – 1 StR 645/10, NStZ-RR 2011, 204; Fischer a.a.O. Rdn. 51).
- Diesen Maßstäben genügt das angegriffene Urteil. Die Kammer hat sich ausführlich mit der Persönlichkeitsstruktur des Angeklagten, dessen Vorleben und sozialen Verhältnissen (UA S. 101ff., 105f, 108f., 112f) sowie den Symptom- und Anlasstaten (UA S. 103ff., 113ff.) auseinander gesetzt. Sie hat hervorgehoben, dass erhebliche Straftaten im Sinne des § 66 StGB nur durch die innerhalb von 16 Tagen begangene Serie von drei Sexualstraftaten im Jahre 2008 gegeben sind. Weder für das Vorleben des zur Tatzeit 44-jährigen Angeklagten noch für die sieben darauf folgenden Jahre waren andere erhebliche Straftaten festzustellen. In Anbetracht dessen könne weder von einem Täter gesprochen werden, der dauernd zu Straftaten entschlossen ist, noch von einem, der immer wieder strafffällig werde, wenn sich die Gelegenheit biete (UA S. 113f.). Die Kammer hat nicht übersehen, dass beim Angeklagten von einer Persönlichkeitsstörung mit starken dissozialen Zügen auszugehen ist (UA S. 14, 68-70), die ein Indiz für einen Hang darstellen kann. Ihre Wertung, der Umstand, dass trotz dieser Persönlichkeitsstörung nur eine singuläre und kurzzeitige Tatserie festzustellen ist, spreche gegen ein eingeschliffenes Verhaltensmuster zur Begehung derartiger Taten (UA S. 114), ist rechtlich nicht zu beanstanden.
- Die Auffassung der Revision, die Gesamtwürdigung der Strafkammer sei lückenhaft und enthalte Wertungswidersprüche (RB S. 5), ist vor allem damit begründet, der Sachverständige habe bekundet, dass bei Sexualstraftaten das Rückfallrisiko mit Zeitablauf wieder ansteige, womit die Kammer sich nicht auseinander gesetzt habe (RB S. 6f). Diese Darstellung wird von den Urteilsgründen nicht getragen. Im Gegenteil hat der Sachverständige bekundet, dass aus der Gruppe der Sexualstraftäter einzelne Täter auch noch nach 15 oder 20 Jahren wieder mit Sexualstraftaten rückfällig geworden seien (UA S. 105). Gewisse Ruhepausen sprächen zwar grundsätzlich gegen eine Hangtäterschaft, erneute Delinquenz sei aber bei Sexualstraftätern nicht ungewöhnlich (UA S. 107). Das Rückfallrisiko erhöhe sich bei Mehrfachtätern gegenüber dem bei Ersttätern (UA S. 108). Diese Angaben hat die Kammer, wie auch die weiteren von der Revision hervorgehobenen Umstände, bei ihrer Gesamtbetrachtung mitberücksichtigt. Ihre Entscheidung lässt eine Überschreitung des ihr zustehenden Beurteilungsspielraums nicht erkennen.
- Den Vorbehalt der Sicherungsverwahrung (§ 66a StGB) brauchte die Strafkammer vorliegend nicht zu erörtern, auch wenn bei der regen Reisetätigkeit des Angeklagten im Ausland (UA S. 15) nicht ausgeschlossen erscheint, dass sich zukünftig noch Erkenntnisse über frühere, im Ausland begangene Straftaten ergeben könnten (vgl. UA S. 115). Gemäß Art. 316e Abs. 1 S. 1 EGStGB ist jedoch für vor dem 1. Januar 2011 begangene Taten § 66a a.F. anwendbar. Der Bundesgerichtshof hat für diese Fassung des Gesetzes in ständiger Rechtsprechung ausgesprochen, dass für das Merkmal des Hangs eine positive Feststellung erforderlich ist (vgl. die Nachweise bei Rissing-van Saan/Peglau a.a.O. § 66a Rdn. 32 m.w.N.). Daran aber fehlt es vorliegend.”
Rz. 11
Dem schließt sich der Senat an. Entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft (RB S. 7) ist auch nicht zu besorgen, das Landgericht könnte verkannt haben, dass in den Fällen des § 66 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2 StGB schon auf der Grundlage der abgeurteilten Taten ein Hang abzuleiten sein kann (vgl. BGH, Urteil vom 15. Februar 2011 – 1 StR 645/10, NStZ-RR 2011, 204). Es begegnet keinen rechtlichen Bedenken, dass das Landgericht dem Umstand, dass der Angeklagte „unter einer dissozialen Persönlichkeitsstruktur leidet und dennoch 7 Jahre lang in Freiheit keine Sexualstraftat” beging (UA S. 114), im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtwürdigung als Indiz gegen das Vorliegen eines Hangs zu Sexualstraftaten herangezogen hat (vgl. BGH aaO). Ohne positive Feststellung eines Hangs zur Begehung von Sexualstraftaten kam hier nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Hinblick darauf, dass die Anknüpfungs- und Symptomtaten im Jahr 2008 begangen wurden, auch ein Vorbehalt der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66a StGB a.F., Art. 316e Abs. 1 Satz 1 EGStGB nicht in Betracht (vgl. BGH, Urteil vom 8. Juli 2005 – 2 StR 120/05, BGHSt 50, 188).
III.
Rz. 12
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.
Unterschriften
Raum, Jäger, Bellay, Cirener, Fischer
Fundstellen
Dokument-Index HI10764449 |