Verfahrensgang
LG Kassel (Urteil vom 15.06.2015) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kassel vom 15. Juni 2015 mit Ausnahme der Entscheidung über den Adhäsionsantrag mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Tatbestand
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs „eines leiblichen Kindes” in sieben Fällen, davon in vier Fällen jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch eines Kindes und in einem weiteren Fall in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch eines Kindes unter Einbeziehung der Strafe aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts Melsungen vom 30. Juni 2011 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Wegen eines weiteren Falls des sexuellen Missbrauchs eines „leiblichen Kindes” hat es ihn zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt. Daneben hat es eine Adhäsionsentscheidung getroffen. Die auf sachlich-rechtliche Beanstandungen gestützte Revision des Angeklagten hat Erfolg.
I.
Rz. 2
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts fuhr der Angeklagte im Sommer 2006 mit der Geschädigten, seiner 1997 geborenen Tochter, in der Abenddämmerung auf einen Waldspielplatz und band sie dort an ein Spielgerät. Anschließend entfernte er sich für 10-15 Minuten. Nach seiner Rückkehr forderte er sie auf, ihn sexuell zu befriedigen. Da die Geschädigte dies ablehnte, führte er sie immer tiefer in den Wald, wobei er ihr fortlaufend Angst machte. Als sich die Geschädigte schließlich bereit erklärte, seinem Ansinnen nachzukommen, ging er mit ihr zu seinem Auto zurück. Hier führte die Geschädigte auf Aufforderung ihres Vaters zunächst den Handverkehr und sodann den Oralverkehr bis zum Samenerguss an diesem durch. Der Angeklagte verpflichtete seine Tochter anschließend zur Geheimhaltung (Fall 1).
Rz. 3
An einem Morgen rund vier Wochen später forderte der Angeklagte seine Tochter im häuslichen Wohnzimmer auf, ihn manuell zu befriedigen. Dem kam die Geschädigte nach und führte den Handverkehr an ihrem Vater bis zum Samenerguss durch (Fall 2). An einem Morgen in der Zeit vom 15. Januar 2008 bis zum 1. März 2009 ging die Geschädigte in das elterliche Schlafzimmer. Ihre Stiefmutter war aus nicht feststellbaren Gründen nicht anwesend und die Geschädigte wollte fragen, wann der Angeklagte aufstehen und Frühstück für sie und ihre Geschwister machen würde. Dem Wunsch des Angeklagten, zunächst den Handverkehr an ihm durchzuführen, kam die Geschädigte nach (Fall 3). Kurze Zeit nach dem 1. März 2009 bat der Angeklagte die damals 11jährige Geschädigte eines Abends erneut, ihn manuell zu befriedigen. Da die Geschädigte zunächst nicht wollte, wies der Angeklagte sie daraufhin, dass sie seiner Bitte, wenn sie ihn wirklich liebe, auch nachkommen solle. Daraufhin schloss er das Wohnzimmer ab und die Geschädigte führte den Handverkehr an ihm durch (Fall 4). Im Jahr 2010, als die Geschädigte 12 oder 13 Jahre alt war und sich ihre Stiefmutter für einige Tage im Krankenhaus aufhielt, wurde sie am Morgen von ihren Geschwistern in das elterliche Schlafzimmer geschickt, um nach dem Frühstück zu fragen. Auf Aufforderung des Angeklagten zog sie sich aus und setzte sich nackt auf seinen Penis, wobei er sich bis zum Samenerguss an ihr rieb und ihr währenddessen Zungenküsse gab (Fall 5). Zwischen dem 30. März 2011 und 30. Juni 2011 fragte die nunmehr 14jährige Geschädigte wiederum morgens nach dem Frühstück. Die Stiefmutter A. war bereits aufgestanden und fütterte draußen die Kaninchen. Die Geschädigte setzte sich nackt auf den Penis des Angeklagten, der sich an ihr rieb und dabei einen Finger in ihre Scheide einführte, was die Geschädigte schmerzte (Fall 6). Im gleichen Zeitraum betrat der Angeklagte an einem Tag, an dem alle anderen Familienmitglieder außer Haus waren, das Kinderzimmer der Geschädigten. Auf Geheiß des Angeklagten führte sie den Handverkehr an ihm durch (Fall 7). Circa 2-4 Wochen vor dem 21. Juni 2012 führte die Geschädigte anlässlich des morgendlichen Fragens nach dem Frühstück letztmalig den Handverkehr an dem Angeklagten durch (Fall 8).
Rz. 4
Während des gesamten Tatzeitraums sprach die Geschädigte – außer einmal gegenüber ihrem Stiefbruder – mit niemanden über die Vorfälle. Sie fühlte sich aufgrund der Aufforderung des Angeklagten zur Geheimhaltung verpflichtet. Auch während einer zwischen 2009 bis Sommer 2012 durchgeführten Psychotherapie offenbarte sie sich nicht. Diese Behandlung bezog sich allein auf die Aufarbeitung der körperlichen Gewalt, die die Geschädigte von einer früheren Lebensgefährtin des Angeklagten erfahren hatte.
Rz. 5
Am 21. Juni 2012 wurde die Geschädigte bei einem Ladendiebstahl erwischt. Als die Polizei sie heimbrachte, floh sie in den Wald, wo sie sich bis zum Abend aufhielt und sich mit einer Schere Ritzverletzungen beibrachte. Mit dem „Ritzen” hatte sie schon einige Monate zuvor begonnen. Gegen Abend begab sie sich freiwillig und weinend zur Polizei. Dort berichtete sie zögerlich erstmals auch von den Missbrauchshandlungen, die mit einem Oralverkehr im Auto begonnen und zuletzt vor ca. 2 bis 4 Wochen stattgefunden hätten. Da sie nicht mehr nach Hause wollte und Suizidgedanken äußerte, wurde sie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie untergebracht. Dort wurde sie ermutigt, die Vorwürfe gegen ihren Vater nicht fallen zu lassen. Am 11. Juli 2012 wurde sie erstmals polizeilich und im März 2013 richterlich vernommen. Im Februar 2014 erfolgte eine Befragung durch die Sachverständige.
Rz. 6
Die Geschädigte lebt seit Sommer 2012 in einer Pflegefamilie. Sie hat den Realschulabschluss erreicht und strebt das Abitur an. Sie gibt sich erhebliche Mitschuld an dem Geschehen, weil sie mitgemacht habe, und hat ein schlechtes Gewissen gegenüber ihrer Stiefmutter A., die sie sehr mochte.
Rz. 7
2. Der Angeklagte hat die Taten bestritten. Das Landgericht hat seine Überzeugung von dem festgestellten Tatgeschehen im Rahmen einer Gesamtwürdigung der erhobenen Beweise maßgeblich auf die Angaben der Geschädigten gestützt. Es ist davon überzeugt, dass deren Angaben einem tatsächlichen Erleben entsprechen und glaubhaft sind.
Entscheidungsgründe
II.
Rz. 8
Die Revision des Angeklagten hat Erfolg.
Rz. 9
1. Die Beweiswürdigung des Landgerichts hält – auch unter Berücksichtigung des beschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsumfangs (vgl. BGH, Urteil vom 18. September 2008 – 5 StR 224/08, NStZ 2009, 401, 402) – sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand.
Rz. 10
a) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts. Ihm allein obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen (BGH, Urteil vom 7. Oktober 1966 – 1 StR 305/66, BGHSt 21, 149, 151). Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind (BGH, Beschluss vom 7. Juni 1979 – 4 StR 441/78, BGHSt 29, 18, 20). Die revisionsgerichtliche Prüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. Senat, Urteil vom 6. November 1998 – 2 StR 636/97, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 16; BGH, Urteil vom 27. Juli 1994 – 3 StR 225/94, StV 1994, 580).
Rz. 11
Darüber hinaus hat der Bundesgerichtshof in Fällen, in denen im Kern „Aussage gegen Aussage” steht, besondere Anforderungen an die Tragfähigkeit einer zur Verurteilung führenden Beweiswürdigung formuliert. Die Urteilsgründe müssen in einem solchen Fall erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, welche die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten zu beeinflussen geeignet sind, erkannt, in seine Überlegungen einbezogen (vgl. BGH, Beschluss vom 22. April 1987 – 3 StR 141/87, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 1; BGH, Beschluss vom 22. April 1997 – 4 StR 140/97, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 13; Senat, Urteil vom 3. Februar 1993 – 2 StR 531/92, BGHR StGB § 177 Abs. 1 Beweiswürdigung 15) und auch in einer Gesamtschau gewürdigt hat (st. Rspr.; vgl. nur Senat, Beschluss vom 18. Juni 1997 – 2 StR 140/97, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 14; BGH, Beschluss vom 12. November 1998 – 4 StR 511/98, NStZ-RR 1999, 139). Dabei sind gerade bei Sexualdelikten die Entstehung und die Entwicklung der belastenden Aussage aufzuklären (vgl. BGH, Urteil vom 16. Mai 2002 – 1 StR 40/02, NStZ 2002, 656,657).
Rz. 12
b) Den danach an die Beweiswürdigung zu stellenden strengen Anforderungen ist das Landgericht nicht gerecht geworden. Seine Beweiswürdigung leidet unter einem durchgreifenden Erörterungsmangel.
Rz. 13
Das Landgericht hat zwar die Möglichkeit einer Falschbelastung des Angeklagten durch die Geschädigte erörtert. Es hat die Offenbarungssituation gewürdigt und erörtert, ob es der Geschädigten möglicherweise nur darum gegangen sein könnte, von ihrem eigenen Fehlverhalten abzulenken. Dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Geschädigte im Alter von neun Jahren wahrheitswidrig behauptet hatte, entführt worden zu sein, als entdeckt worden war, dass sie einen unerlaubten Fahrradausflug gemacht hatte. Die Strafkammer hat das Ablenken von eigenem Fehlverhalten als Motiv für eine Falschbelastung unter anderem mit der Erwägung ausgeschlossen, dass der Ladendiebstahl zum Zeitpunkt ihrer Offenbarung tatsächlich schon entdeckt war und nicht mehr verschleiert werden konnte. Ein Ablenkungsmotiv würde auch nur die Erstbezichtigung erklären, nicht aber, dass die Geschädigte um eines vergleichbaren geringfügigen Vorteils willen – anders als bei der Entführungsgeschichte, bei der sie ihre Lüge bald eingeräumt hatte – ihre Angaben über Jahre hinweg aufrechterhalten habe und in eine Pflegefamilie gewechselt sei. Im Übrigen habe die Geschädigte schon zuvor einem ihrer Stiefbrüder gegenüber offenbart, dass sie den Angeklagten auf dessen Wunsch befriedige.
Rz. 14
Das Landgericht hat es jedoch versäumt, im Rahmen der Prüfung, ob die Geschädigte möglicherweise nur von eigenem Fehlverhalten ablenken wollte, sich auch damit auseinanderzusetzen, warum sie sich am 21. Juni 2013 ohne Weiteres gegenüber den Polizeibeamten offenbarte, wohingegen sie dazu gegenüber ihrer Psychotherapeutin, die sie zwischen 2009 bis Sommer 2012 behandelt hatte, nicht bereit war. Zwar bezog sich die therapeutische Behandlung allein auf die Aufarbeitung der von der Geschädigten erlittenen körperlichen Gewalt. Allein aber der Hinweis der Strafkammer, die Geschädigte sei nicht bereit gewesen, dort ihre Missbrauchserfahrungen zu thematisieren, weil sie keinen Grund dafür gesehen habe, diese therapeutisch aufzuarbeiten und auch nicht gewusst habe, was es diesbezüglich zu erörtern gegeben haben solle, erklärt nicht, weshalb sie sich gegenüber den Polizeibeamten trotz der ihr vom Angeklagten auferlegten Geheimhaltungspflicht offenbaren konnte.
Rz. 15
Ein Erörterungsmangel liegt letztlich aber auch darin, dass die Strafkammer sich nicht damit auseinandergesetzt hat, dass die Geschädigte, die nach ihrer Offenbarung am 21. Juni 2012 wegen Selbsttötungsabsicht in die Kinder- und Jugendpsychiatrie eingewiesen worden war, dort „im weiteren Verlaufe der Behandlung dazu ermutigt [worden war], die Vorwürfe gegen ihren Vater nicht fallen zu lassen”. Offen bleibt schon, weshalb die Geschädigte überhaupt „ermutigt” werden musste und inwiefern ein „fallen lassen” der Vorwürfe zu besorgen war.
Rz. 16
2. Der Senat kann nicht ausschließen, dass der Tatrichter bei Einhaltung der verfahrensrechtlich gebotenen Erörterungspflichten zu einer anderen Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Geschädigten gelangt wäre. Die Sache bedarf daher der Verhandlung und Entscheidung durch einen neuen Tatrichter. Die Adhäsionsentscheidung bleibt hiervon unberührt (vgl. Senat, Urteil vom 28. November 2007 – 2 StR 477/07, BGHSt 52, 96, 98); Im Übrigen wird auf den Anfragebeschluss des Senats vom 8. Oktober 2014 (2 StR 137/14 und 337/14, NStZ-RR 2015, 382) verwiesen.
Rz. 17
Ergänzend weist der Senat auf Folgendes hin: Nach den Feststellungen war die Vollstreckung der im Rahmen der Bildung der ersten Gesamtfreiheitsstrafe einbezogenen Freiheitsstrafe aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts Melsungen vom 30. Juni 2011 zur Bewährung ausgesetzt worden. Die dem Angeklagten hierbei auferlegte Bewährungsauflage der Ableistung von 100 Arbeitsstunden hatte dieser in der Folge umfassend erfüllt. Angesichts dieser Feststellungen hätte sich die Strafkammer gedrängt sehen müssen, die Voraussetzungen für eine Anrechnung auf Bewährungsauflagen erbrachter Leistungen gemäß § 58 Abs. 2 Satz 2 StGB i.V.m. § 56f Abs. 3 Satz 2 StGB zu prüfen und in den Urteilsgründen zu erörtern (vgl. Senat, Beschluss vom 7. März 2001 – 2 StR 43/01). Nach dieser Regelung sind Leistungen, die auf Bewährungsauflagen nach § 56b Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 bis 4 StGB erbracht worden sind, entgegen der Auffassung des Landgerichts (vgl. UA S. 45) nicht bei der Bemessung der Gesamtstrafe zu berücksichtigen, sondern durch eine die Vollstreckung verkürzende Anrechnung auf die gebildete Gesamtfreiheitsstrafe auszugleichen (vgl. BGH, Beschluss vom 20. März 1990 – 1 StR 283/89, BGHSt 36, 378, 381 ff.).
Unterschriften
Fischer, Krehl, Eschelbach, Ott, Zeng
Fundstellen
Haufe-Index 9314294 |
NStZ-RR 2016, 331 |