Leitsatz (amtlich)
Hat der Arbeitnehmer seinen Unternehmer verletzt, so greift die ihm in § 637 RVO gegenüber Arbeitskollegen gewährte Haftungsfreistellung auch dann nicht ein, wenn der Unternehmer bei seiner Berufsgenossenschaft gegen seinen Arbeitsunfall freiwillig (§ 545 RVO) versichert ist.
Normenkette
RVO §§ 637, 636
Verfahrensgang
OLG Hamm (Urteil vom 25.10.1978) |
LG Dortmund |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 13. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 25. Oktober 1978 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die beiden Beklagten weilten im Dezember 1970 in der von Wilhelm H. in H. betriebenen Pension zur Kur. Auf dessen Bitte fuhr ihn der Zweitbeklagte mit seinem Personenkraftwagen am 8. Dezember 1970 nach B., wo dieser für seine Pension und seine gleichzeitig geführte Gaststätte Waren einkaufen wollte. An der Fahrt nahmen zwei weitere Kurgäste, darunter der Erstbeklagte, teil.
Auf der Rückfahrt suchten H. und die weiteren Fahrzeuginsassen ein Gasthaus auf und nahmen in erheblichem Umfang alkoholische Getränke zu sich. Nach dieser Fahrtunterbrechung setzte sich der Erstbeklagte ans Steuer, obschon ihm zu dieser Zeit die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen war. Kurz nach Antritt der Weiterfahrt geriet der Kraftwagen in einer Kurve ins Schleudern und stürzte eine Böschung hinab. Dabei erlitt H. tödliche Verletzungen. Die für ihn zuständige Berufsgenossenschaft, der der Verunglückte gemäß § 545 RVO freiwillig beigetreten war, hat dies als Folge eines Arbeitsunfalls anerkannt.
Die Klägerin, die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, zahlt an die Witwe des Getöteten eine Rente; sie begehrt aus übergegangenem Recht deren Erstattung sowie für die Zukunft die Feststellung dieser Erstattungspflicht.
Landgericht und Oberlandesgericht haben die Klage abgewiesen. Mit der (zugelassenen) Revision verfolgt die Klägerin ihre Ansprüche weiter.
Entscheidungsgründe
I.
Über den hier zu beurteilenden Sachverhalt hat bereits derselbe Zivilsenat des Berufungsgerichts in einem von der Berufsgenossenschaft betriebenen Rechtsstreit befunden und mit Urteil vom 7. Dezember 1977 (veröffentlicht in VersR 1978, 510) die Klage abgewiesen; dieses Urteil ist, weil eine Revision nicht zugelassen worden war, rechtskräftig geworden. Aus den gleichen Gründen wie dort hält das Berufungsgericht, ohne näher auf die Frage der Verantwortlichkeit der beiden Beklagten einzugehen, deren Ersatzpflicht schon aufgrund der §§ 637 Abs. 1, 636 RVO für ausgeschlossen. Es erwägt hierzu im wesentlichen:
Beide Beklagten seien im Zeitpunkt des Unfalls Angehörige des von H. betriebenen Unternehmens gewesen. Diese Betriebszugehörigkeit folge hinsichtlich des Zweitbeklagten aus der Zurverfügungstellung des Kraftfahrzeugs zum Zwecke des Einkaufs und Heimtransportes von Waren, die für das Betreiben der Pension und der angeschlossenen Gaststätte notwendig gewesen seien; der Erstbeklagte habe diese Stellung als Betriebsangehöriger dadurch erlangt, daß er nach der vorübergehenden Unterbrechung der Rückfahrt die Fahrzeugführung übernommen und damit eine Tätigkeit ausgeführt habe, die dem Unternehmen des H. nützlich gewesen sei. Der Pensionsinhaber selbst sei zwar als Unternehmer anzusehen; er erfülle aber die Voraussetzungen für einen Ausschluß von Schadensersatzansprüchen gegenüber den beiden Beklagten, weil er trotz dieser Rechtsstellung bei der für ihn zuständigen Berufsgenossenschaft gemäß den §§ 543 und 545 RVO versichert gewesen sei.
II.
Dies hält den Angriffen der Revision nicht stand. Die Klägerin macht zu Recht geltend, daß eine Bejahung des in den §§ 636, 637 RVO gewährten Haftungsprivilegs zugunsten der Beklagten und zu Lasten des Unternehmers dem Sinn und Zweck dieser Vorschriften widerspricht.
1. Die Vorschrift des § 636 RVO will die Haftpflicht des Unternehmers gegenüber seinen Arbeitnehmern für die Folgen eines von ihm zu vertretenden Arbeitsunfalls durch ein öffentlich-rechtliches System umfassender Unfallversicherung ablösen,(vgl. Lauterbach, Unfallversicherung 3. Aufl., Anm. 2 zu § 636 RVO; Wussow, Unfallhaftpflichtrecht, 12. Aufl. TZ 1530). Der Arbeitsunfall begründet als öffentlich-rechtlicher Tatbestand die Leistungspflicht der Berufsgenossenschaft als der Trägerin der gesetzlichen Unfallversicherung, ohne daß es auf eine Prüfung der Frage nach der Verantwortlichkeit für das Unfallgeschehen ankommt (vgl. hierzu auch BVerfG-Beschluß vom 7. November 1972 = BVerfGE 34, 118 = NJW 1973, 502). Die Gesamtheit der Unternehmer, die durch ihre im Wege der Umlage geleisteten Beiträge die Mittel zur Entschädigung der Opfer von Arbeitsunfällen und deren Hinterbliebenen bereitstellen, sollen nach dem Willen des Gesetzgebers von ihrer Haftung gegenüber ihren Betriebsangehörigen freigestellt werden. Die damit verbundene Beschneidung von Ansprüchen, die nach dem allgemeinen Haftungsrecht zustehen, insbesondere auch des Anspruchs auf Schmerzensgeld, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (BVerfG a.a.O.), wird sie doch weitgehend ausgeglichen durch die Gewährung von Leistungen, die weder abhängig sind vom Nachweis schuldhaften Verhaltens des Schädigers, noch von einem Mitverschulden des Geschädigten beeinträchtigt werden.
Nun ist zwar auch das Berufungsgericht nicht der Meinung, daß § 636 RVO allein zur Haftungsfreistellung eines Betriebsangehörigen auch dann führe, falls dieser bei ihm übertragenen Arbeiten den Unternehmer verletzt; eine solche Annahme verstieße eindeutig gegen den Gesetzeswortlaut. Es hält aber eine Freistellung der Beklagten deshalb für geboten, weil es den Getöteten wegen seiner eigenen Versicherung bei seiner Berufsgenossenschaft als „Versicherten” i.S. von § 637 RVO ansieht und ihn damit dem Wortlaut des Gesetzes entsprechend einem Arbeitskollegen der Beklagten gleichstellt (so auch Kolb in Geigel, Der Haftpflichtprozeß 17. Aufl. Kap. 31 Rdn. 105 a.E., der hier OLG Hamm VersR 1978, 510 zustimmend zitiert).
2. Dies kann jedoch nicht gebilligt werden, widerspricht doch dieses Ergebnis dem Zweck des § 637 RVO.
a) Diese Vorschrift, eingefügt durch das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz vom 30. April 1963 (BGBl. I S. 241), dehnt den Haftungsausschluß, den § 899 RVO a.F. nur auf Arbeitsaufseher und ähnliche Bevollmächtigte des Unternehmers erstreckt hatte, auf alle Betriebsangehörige aus, die einen Arbeitskollegen im Zuge betrieblicher Tätigkeit verletzen (so die Begründung zum Entwurf des Gesetzes in der BT-Drucks. IV/120 S. 62). Die Absicht des Gesetzes war dabei, den Betriebsfrieden unter sämtlichen Arbeitskollegen, auch wenn sie nicht zu dem in § 899 RVO a.F. genannten Personenkreis gehören, zu erhalten, der in aller Regel durch Rechtsstreitigkeiten um die Haftung für die Folgen eines Arbeitsunfalls gestört wird; darüber hinaus sollte die Betriebsgemeinschaft auch als eine Gefahrengemeinschaft gesehen werden (so BVerfG a.a.O.). Demgemäß wird der Unternehmer selbst, wie er in § 658 Abs. 2 RVO definiert ist, ersichtlich von § 637 RVO nicht erfaßt.
b) Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts gilt auch dann nichts anderes, wenn er, wie im Streitfall, selbst gegen Arbeitsunfall aufgrund der in §§ 543 und 545 RVO eröffneten Möglichkeiten versichert ist (so zutreffend Lauterbach a.a.O. § 637 Anm. 2 a.E.). Er wird dadurch nicht aus dem Bereich der von § 636 RVO unmittelbar erfaßten Personen herausgelöst. Vor allem erhält er durch diese das öffentlich-rechtliche Verhältnis zu seiner Berufsgenossenschaft, nämlich seine eigene Versicherung gegen Unfälle in seinem Betrieb, betreffende Regelung nicht die für seine bürgerlichrechtlichen Ansprüche maßgebliche Stellung eines „Arbeitskollegen” im Sinne des § 637 RVO im Verhältnis zu den Angehörigen seines Betriebs, verliert daher nicht das in § 636 RVO unangetastete Recht, uneingeschränkt Schadensersatz zu fordern, falls einer seiner Betriebsangehörigen schuldhaft einen Arbeitsunfall verursacht und ihn dabei verletzt. Hätte der Gesetzgeber es für notwendig erachtet, auch dem Unternehmer im Interesse der Aufrechterhaltung des Betriebsfriedens Schadenersatzansprüche gegen Beine Arbeitnehmer zu versagen, so wäre diese Beschränkung gesetzessystematisch in § 636 RVO aufzunehmen gewesen, weil es nur dort um das Verhältnis zwischen Unternehmer und Arbeitnehmer geht. Sie mit dem Berufungsgericht aus § 637 RVO in den Fällen abzuleiten, in denen – ausnahmsweise – ein Unternehmer selbst bei seiner Berufsgenossenschaft gegen Arbeitsunfälle versichert ist, entspricht allenfalls dem Wortlaut, aber nicht dem Willen des Gesetzes; eine Rechtfertigung dieser den Betriebsangehörigen gewährten Privilegierung läßt sich – im Gegensatz zur Haftungsfreistellung des Unternehmers – nicht finden. Der Betriebsangehörige leistet keine Beiträge an die Berufsgenossenschaft und damit kein Äquivalent für die ihm abgenommene Haftung; daß die Beiträge des Unternehmers wirtschaftlich betrachtet dem Lohn des Arbeitnehmers zugerechnet werden können (vgl. BGHZ 70, 7, 10), ändert daran nichts. Vielmehr zahlt allein der Unternehmer solche Beiträge und trägt damit, anteilig neben der Gesamtheit der seiner Berufsgenossenschaft angehörenden weiteren Unternehmer, die ihm zufließenden Leistungen, vor allem den Vorteil, von seiner Haftung freigestellt zu sein. In diesem Sinne hat die vom Unternehmer zugunsten seiner Betriebsangehörigen finanzierte Unfallversicherung die gleiche Wirkung, als hätte er sich – und auch seine Betriebsangehörigen im Verhältnis zueinander – gegen Haftpflicht versichert; (vgl. BGHZ 63, 313, 315); sie hat aber nicht auch noch zur Folge, ihm zustehende Ersatzansprüche zu nehmen und ihn auf seine Ansprüche gegen die Berufsgenossenschaft zu beschränken. Die Auffassung des Berufungsgerichts wird zwar von Wussow, WI 1967, 163, 164 (ihm folgend Becker, Kraftverkehrshaftpflichtschäden 13. Aufl. I C 2 S. 87 und Dodel, VersR 1977, 993) und von Gitter, Schadensausgleich im Arbeitsunfallrecht, S. 242 vertreten. Sie verkennt indessen, daß im Bereich der durch die §§ 636, 637 RVO geschaffenen Haftungsprivilegierung zwei Ebenen zu unterscheiden sind: zum einen das Verhältnis von dem Unternehmer zu den in seinem Unternehmen tätigen Versicherten (§ 539 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 RVO) und zum anderen von solchen Versicherten zu Angehörigen des Betriebs, also von Arbeitskollegen untereinander. In letztere Ebene ist der Unternehmer in keinem Fall einzuordnen. Mit Recht hat daher jetzt H.J. Wussow in WI 1980, 25 den früher (a.a.O.) – allerdings nur beiläufig – vertretenen Standpunkt aufgegeben. Die vom erkennenden Senat allein für richtig gehaltene Auslegung des Gesetzes vertreten vor allem Gunkel (Die Haftung von Unternehmern und Betriebsangehörigen, 3. Aufl. S. 8) sowie in eingehend begründeten Ausführungen überzeugend Gamillscheg/Hanau (Die Haftung des Arbeitnehmers, 2. Aufl. S. 164 f).
Im Gegensatz zum Berufungsgericht darf demnach auf den Wortlaut des § 637 Abs. 1 RVO allein nicht abgestellt werden. Vielmehr ist unter einem Versicherten im Sinne dieser Vorschrift in aller Regel nur ein Betriebsangehöriger zu verstehen, der kraft Gesetzes nach § 539 Abs. 1 und 2 RVO in der Unfallversicherung gegen Arbeitsunfall versichert ist. Ein Unternehmer dagegen, der sich, wie im Streitfall der tödlich verunglückte H., freiwillig gemäß § 545 RVO bei seiner Berufsgenossenschaft versichert hat, darf einem Betriebsangehörigen seines eigenen Betriebes nicht gleichgestellt werden. Ob Gleiches auch für Unternehmer zu gelten hat, auf die sich kraft Satzung der Berufsgenossenschaft die Versicherung erstreckt (§ 543 RVO), braucht nicht entschieden zu werden.
III.
Die vorstehenden Überlegungen fuhren zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht, weil eine Abweisung der Klage allein wegen §§ 637, 636 RVO nicht möglich ist. Es kommt daher nicht mehr entscheidend darauf an, ob die Beklagten die Voraussetzungen erfüllen, die für die Bejahung des Haftungsprivilegs zu fordern sind. Insofern wird das Berufungsgericht seine Auffassung an Hand der Grundsätze zu überprüfen haben, die der Senat in seinen Urteilen vom 6. Dezember 1977 (VersR 1978, 150) und vom 3. Juli 1979 (VersR 1979, 934) zur Frage der Eingliederung eines Betriebsfremden in den Unfallbetrieb gleich einem Betriebsangehörigen näher dargestellt hat. Die im Berufungsurteil angeführte Senatsentscheidung vom 7. Juni 1977 (VersR 1977, 959) betrifft einen Unfall, den der Eingegliederte erlitten, nicht aber verursacht hatte.
Unterschriften
Dr. Weber, Scheffen, Dr. Kullmann, Dr. Ankermann, Dr. Deinhardt
Fundstellen
Haufe-Index 1502238 |
NJW 1981, 53 |
Nachschlagewerk BGH |