Verfahrensgang
LG Köln (Urteil vom 19.03.2002) |
Tenor
1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Köln vom 19. März 2002 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit unerlaubtem Führen einer halbautomatischen Selbstladekurzwaffe zu der Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Staatsanwaltschaft erstrebt mit ihrer auf die Sachrüge gestützten Revision die Verurteilung des Angeklagten auch wegen tateinheitlich begangenen versuchten Totschlags und macht Rechtsfehler in der Beweiswürdigung geltend, die zur Ablehnung des bedingten Tötungsvorsatzes geführt hätten. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.
1. Das Landgericht hat im wesentlichen festgestellt:
Der Angeklagte wollte sich bei seinem Arbeitgeber für eine als ungerecht empfundene fristlose Kündigung rächen und ihm einen Denkzettel verpassen. Mit seiner scharf geladenen Pistole betrat er das Büro des Zweigstellenleiters H. Als dieser meinte, der Angeklagte habe nur eine Schreckschußpistole, schoß der Angeklagte demonstrativ in einen Heizkörper. Sodann schoß der Angeklagte aus zwei Meter Entfernung viermal in kurzen Abständen auf den hinter seinem Schreibtisch sitzenden H. Dabei hielt er die Waffe schräg nach unten in Richtung des Stuhlsitzes. H. bewegte sich auf seinem Drehstuhl hin und her und versuchte, den Schüssen auszuweichen. Der erste Schuß drang durch den Stuhlsitz. Der Geschoßkern durchschlug die herabhängende linke Hand des H., der Geschoßmantel verletzte ihn oberflächlich an der linken Innenhand. Der Angeklagte bemerkte, daß er H. getroffen hatte, denn dieser hielt seine blutige Hand hoch und flehte den Angeklagten an, mit dem Schießen aufzuhören. Der Angeklagte gab jedoch noch drei weitere Schüsse auf H. ab, die sämtlich durch die Sitzfläche des Stuhls drangen, H. jedoch „wie durch ein Wunder” nicht verletzten. Als die Pistole eine Ladehemmung hatte, machte der Angeklagte die Waffe wieder schußbereit und schoß noch zweimal auf H. Das erste Geschoß durchdrang den Stuhlsitz, prallte von der Wand zurück und durchschlug H.'s linken Unterschenkel. Der nächste Schuß traf den Drehstuhl. Die letzte Patrone stellte sich quer, so daß der Schlitten der Pistole offenstand, und fiel auf den Boden. Erst jetzt ließ der Angeklagte von seinem Vorhaben ab. H.'s Verletzungen waren schwerwiegend, Lebensgefahr bestand jedoch nicht.
Zur subjektiven Tatseite hat das Landgericht ausgeführt, der Angeklagte habe nicht die Absicht gehabt, H. zu töten, ihm sei aber bewußt gewesen, daß er H. durch einen Schuß verletzen konnte und Schüsse in Richtung auf einen Menschen potentiell lebensgefährlich sind. Er habe sich jedoch für fähig gehalten, die Tötung des H. zu verhindern und darauf vertraut, daß ihm das auch gelänge.
Direkten Tötungsvorsatz schließt das Landgericht aus, weil der Angeklagte den H. durch gezielte Schüsse in Brust oder Kopf hätte töten können, aber nicht auf diese Körperpartien geschossen habe.
Auch bedingten Tötungsvorsatz verneint das Landgericht, wobei es meint, alle insoweit relevanten Umstände bedacht zu haben. Für einen bedingten Tötungsvorsatz spreche, daß der Angeklagte aus nächster Nähe sechs Schüsse auf H. abgegeben habe. Er habe zwar nicht direkt auf lebensgefährdende Körperpartien gezielt, habe aber auch nicht sicher darauf vertrauen können, daß er Kopf, Brust, Bauch oder Unterleib des H. nicht treffen würde. Es seien Querschläger möglich, zudem sei der Angeklagte kein geübter Kunstschütze und somit nicht in der Lage, genau zu treffen. Nach dem Trefferbild sei davon auszugehen, daß die einzelnen Geschosse tiefer als angepeilt eingeschlagen seien. Das alles spreche dafür, daß der Angeklagte die Gefahr der Tötung erkannt, dennoch sein gefährliches Tun begonnen und selbst nach der erkannten Verletzung H.'s fortgesetzt habe.
Andererseits deute jedoch die nach unten gerichtete Schußrichtung eher darauf hin, daß der Angeklagte den Tod H.'s habe vermeiden wollen. Alle Schüsse hätten den Stuhlsitz getroffen. Auch sei der Angeklagte nicht auf seine Eigensicherung bedacht gewesen. Entscheidend spreche aber die Persönlichkeit des Angeklagten gegen einen Tötungsvorsatz.
2. Die Beweiswürdigung, mit der das Landgericht einen Tötungsvorsatz verneint, enthält Lücken und ist deshalb rechtsfehlerhaft. Diese Rechtsfehler stellen zugleich die Feststellung des Landgerichts in Frage, der Angeklagte habe bei den Schüssen die Waffe nach unten in Richtung des Stuhlsitzes gehalten (UA S. 13).
a) Das Landgericht erörtert nicht die nahe liegende Möglichkeit, daß der Angeklagte nicht auf den Stuhlsitz, sondern in Wirklichkeit auf den Unterleib oder noch höher liegende Körperpartien des H. schießen wollte und diese nur wegen der Zielabweichung seiner Pistole nicht getroffen hat. Das sachverständig beratene Landgericht hat festgestellt, daß die mit der Waffe des Angeklagten abgefeuerten Schüsse tiefer treffen als sie gezielt werden (UA S. 32). Das Urteil teilt aber nicht mit, wie groß diese Zielabweichung ist. Ebensowenig wird mitgeteilt, ob dem Angeklagten die Zielabweichung bekannt war, obwohl er die Waffe nur einmal ausprobiert hatte (UA S. 12). Unter diesen Umständen liegt es sehr nahe, daß der mit seiner Waffe nicht vertraute und ungeübte Angeklagte bei seinen Schüssen die Zielabweichung seiner Waffe nach unten nicht berücksichtigt hat, so daß die Schüsse tiefer einschlugen als sie von ihm gezielt worden waren. Das Landgericht hätte daher die Möglichkeit erörtern müssen, daß der Angeklagte bei seinen Schüssen nicht auf den Schreibtischstuhl, sondern zumindest auf den Unterleib, wenn nicht gar auf höhere Körperpartien des H. gezielt hat. Auch Schüsse in den Unterleib sind jedoch – wie allgemein bekannt ist – wegen der dort vorhandenen großen Blutgefäße in aller Regel lebensgefährlich. Je nach dem wie groß die Zielabweichung ist, kommt sogar der Oberkörper des H. als Ziel in Betracht, woraus sich auch ein direkter Tötungsvorsatz des Angeklagten ergeben könnte. Das Landgericht hätte sich daher in seiner Beweiswürdigung mit diesen Möglichkeiten auseinandersetzen müssen.
b) Entscheidend für die Verneinung eines bedingten Tötungsvorsatzes war für das Landgericht die Berücksichtigung der Persönlichkeit des Angeklagten. Danach könne nicht ausgeschlossen werden, daß er aufgrund eines „selbstbewußten Größenwahns” darauf vertraut habe, H. nicht tödlich zu verletzen. Der Angeklagte habe ein subjektives Rechtsbewußtsein, das ihn zu Bestrafungsaktionen treibe, wenn er glaube, im Recht zu sein.
Dieser Annahme des Landgerichts ist aber schon deshalb der Boden entzogen, weil infolge der bereits unter 2 a) dargestellten Lücke in der Beweiswürdigung bisher nicht rechtsfehlerfrei festgestellt ist, daß der Angeklagte seine Waffe schräg nach unten in Richtung des Stuhlsitzes gesenkt hielt.
Zudem fehlt eine tragfähige Tatsachengrundlage für die Annahme, der Angeklagte habe im Sinne eines „Größenwahns” seine Fähigkeiten im Umgang mit der Pistole derart überschätzt, daß er sich zu zielgenauen Schüssen für befähigt hielt, obwohl er kein geübter „Kunstschütze” ist (UA S. 32) und mit der Tatwaffe nicht vertraut war (UA S. 12). Soweit das Landgericht unter Berufung auf den Sachverständigen beispielhaft darauf abstellt, daß der Angeklagte 1998 einem Streitkontrahenten einen 25 cm langen oberflächlichen, aber letztlich nicht lebensgefährlichen Schnitt am Hals zugefügt habe, läßt sich jener Vorfall nicht mit dem vorliegenden Sachverhalt vergleichen. Ein am Hals angesetztes Messer läßt sich ungleich leichter kontrollieren, als Pistolenschüsse eines ungeübten Schützen.
4. Das Urteil beruht auf den dargelegten Mängeln der Beweiswürdigung, weil nicht ausgeschlossen ist, daß das Landgericht ohne diese Mängel einen Tötungsvorsatz des Angeklagten festgestellt hätte. Der neue Tatrichter wird bei seiner Beurteilung zu bedenken haben, daß auch der Täter bedingt vorsätzlich handelt, dem bei seiner Tat der Erfolgseintritt gleichgültig ist. Denn auch ein solcher Täter handelt vorsätzlich, weil er mit jeder eintretenden Möglichkeit einverstanden ist (vgl. BGHSt 40, 304, 306 f. m.w.N.). Ein strafbefreiender Rücktritt vom versuchten Totschlag liegt nicht nahe, da der Angeklagte nach seiner eigenen Einlassung erst aufgehört hat zu schießen, „als das Magazin leergeschossen” war (UA S. 24).
Unterschriften
Rissing-van Saan, Detter, Bode, Otten, Rothfuß
Fundstellen