Verfahrensgang
LG Chemnitz (Urteil vom 08.07.2004) |
Tenor
Auf die Revisionen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Chemnitz vom 8. Juli 2004 aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Tatbestand
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes (§ 176 Abs. 1 StGB) in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und sachlichen Rechts. Mit ihrer zu Ungunsten des Angeklagten eingelegten Revision erhebt die Staatsanwaltschaft die Sachrüge, mit der sie in den Fällen 1 und 2 eine Verurteilung des Angeklagten wegen schweren sexuellen Mißbrauchs eines Kindes (§ 176a Abs. 1 Nr. 1 StGB a.F.) und eine höhere Gesamtstrafe erstrebt. Beide Rechtsmittel haben Erfolg.
I. Sachverhalt
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts lebte der Angeklagte von August 2002 bis April 2003 als Untermieter in der Wohnung der Zeugin P. R. Mit ihrem Einverständnis schlief er mit deren im Juni 1991 geborenen Tochter, der später Geschädigten, jede Nacht gemeinsam im Doppelbett im Schlafzimmer. In den beiden ersten Fällen legte sich der Angeklagte im September 2002 und an einem weiteren, nicht näher feststellbaren Tag zu der Geschädigten in das Bett. Er brachte sie dazu, sich mit nacktem Unterkörper auf sein unbedecktes Glied zu setzen. Sodann berührte er mit seinem erigierten Penis den äußeren genitalen Bereich der Geschädigten in einer für diese unangenehmen Weise. Kurz vor dem Samenerguß veranlaßte er sie, von ihm herunterzugehen. Im dritten Fall faßte der Angeklagte Ende November 2003 der Geschädigten in Gegenwart ihrer zehn Jahre alten Freundin in die Hose und manipulierte mit einem Finger an ihrem Geschlechtsteil.
2. Der Angeklagte hat die sexuellen Handlungen bestritten. Das Landgericht stützt sich bei seiner Überzeugungsbildung im wesentlichen auf die belastenden Bekundungen der Geschädigten. Zwar hat der von ihr zugezogene aussagepsychologische Sachverständige ausgeführt, die sog. „Nullhypothese” könne für die in der Aussagefähigkeit beeinträchtigte Geschädigte nicht schlüssig ausgeschlossen werden (vgl. BGHSt 45, 164, 167/168). Er hat Mängel der Aussagekompetenz der Geschädigten aufgezeigt, die insbesondere die Aussagegenauigkeit und im Besonderen Mängel der Aussagekonstanz betreffen (UA S. 23, 27). Das Landgericht geht indessen dennoch von der Glaubhaftigkeit der Aussage aus und stellt dabei auf die Aussagekonstanz zum Kerngeschehen und die sonstigen Ergebnisse der Beweisaufnahme ab.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision des Angeklagten
1. Das von der Revision geltend gemachte Verfahrenshindernis besteht nicht. Die Anklage vom 6. Februar 2004 und der Eröffnungsbeschluß der Strafkammer vom 25. Mai 2004, durch den die Anklage hinsichtlich zehn angeklagter Taten zur Hauptverhandlung zugelassen wurde, bilden eine wirksame Verfahrensgrundlage.
2. Die Beweiswürdigung hält rechtlicher Nachprüfung nicht in jeder Hinsicht stand. Obgleich sie sehr ausführlich ist, begegnet sie durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
a) Die Verurteilung des Beschwerdeführers beruht in den beiden ersten Fällen ausschließlich auf den Angaben der Geschädigten. Der Angeklagte bestreitet die Tat. Steht Aussage gegen Aussage, so muß der Tatrichter die Aussage des Belastungszeugen einer besonderen Glaubwürdigkeitsprüfung unterziehen. Der Tatrichter ist gehalten, sich mit den von ihm festgestellten Tatsachen unter allen für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkten auseinanderzusetzen, wenn sie geeignet sind, das Beweisergebnis zu beeinflussen. Eine Beweiswürdigung, die über schwerwiegende Verdachtsmomente ohne Erörterung hinweggeht, ist ebenso rechtsfehlerhaft wie eine solche, die gewichtige Umstände nicht mit in Betracht zieht, welche die Überzeugung des Tatrichters von der Täterschaft des Angeklagten in Frage zu stellen geeignet sind. Will der Richter in einem wesentlichen Punkt von der Aussage des einzigen unmittelbaren Belastungszeugen abweichen und ihm etwa in einem anderen Punkt folgen, so muß er in seinem Urteil in aller Regel darlegen, daß der Zeuge im Abweichungspunkt keine bewußt falschen Angaben gemacht hat (vgl. BGHSt 44, 256, 257; BGHR StPO § 261 Sachverständiger 9). Dies gilt besonders, wenn der einzige Belastungszeuge in der Hauptverhandlung seine Vorwürfe ganz oder teilweise nicht mehr aufrechterhält oder der anfänglichen Schilderung nicht gefolgt wird (vgl. BGHSt 44, 153, 159; BGH StV 2002, 470).
b) Diesen Maßstäben wird die Würdigung der Strafkammer nicht vollends gerecht. Allerdings war die Beweissituation im vorliegenden Fall schwierig. Es stand nicht nur Aussage gegen Aussage. Der mit der Glaubhaftigkeitsbeurteilung beauftragte Sachverständige hat die Angaben der Geschädigten nicht als zuverlässig bewertet. Mögliche Fehlerquelle sei ein „nicht ausschließbar konfabulatives und gesteigert suggestibles Antworten”, durch welches die Geschädigte „unter Umständen Differenzierungsdefizite zu kompensieren versuche” (UA S. 27). Die Geschädigte gebe deshalb bestehende Erinnerungslücken nicht zu, sondern neige eher zum Fabulieren (UA S. 28).
Danach sind besondere Anforderungen an die Beweiswürdigung zu stellen. Die Strafkammer hätte bei der Beweiswürdigung im Rahmen einer Gesamtschau aller Beweisanzeichen auch diejenigen Umstände erkennbar in die Bewertung mit einbeziehen müssen, welche sie mit bewogen haben, in den beiden ersten Fällen den Angeklagten nicht wegen schweren sexuellen Mißbrauchs eines Kindes, verbunden mit einem Eindringen in den Körper der Geschädigten, zu verurteilen.
Die Strafkammer erachtet die Aussage der Geschädigten als glaubhaft. Sie stützt sich dabei im wesentlichen auf das Aussageverhalten der Geschädigten in der Hauptverhandlung sowie auf die Konstanz der Angaben der Geschädigten während des gesamten Verfahrens zum „Kerngeschehen”, womit die Strafkammer ersichtlich nur den der Verurteilung zugrunde liegenden Sachverhalt meint (UA S. 33, 40 f.). Mit wesentlichen Umständen setzt sich das Landgericht jedoch nicht genügend auseinander:
Die Geschädigte hat sowohl im Ermittlungsverfahren bei ihrer polizeilichen Vernehmung (UA S. 31 ff.) wie auch gegenüber dem sie begutachtenden Sachverständigen (UA S. 40 f.) angegeben, sie habe wegen des teilweisen Eindringens des erigierten Gliedes in ihre Scheide Schmerzen verspürt und der Angeklagte habe versucht, sie zu „dehnen” (UA S. 40). Diesen Vorwurf hat die Zeugin in der Hauptverhandlung nicht mehr erwähnt. Der Tatrichter würdigt dies wie folgt: „Die Geschädigte hat in der Hauptverhandlung zwar abweichend von ihren bisherigen Angaben gegenüber dem Sachverständigen und dem Kriminalbeamten nicht davon gesprochen, daß sie bei den Handlungen des Angeklagten Schmerzen gehabt habe. Soweit die bisherigen Aussagen anderweitig eingeführt wurden, sind diese wegen der Suggestibilität – insbesondere ihrer Beschreibung des Einführens des Penis in ihre Scheide bei dem Gespräch mit dem Sachverständigen – nicht so weit gesichert, daß die Verurteilung … hierauf gestützt werden könnte.”
Diese auch das Kerngeschehen berührenden Abweichungen in den jeweiligen Angaben hätten bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Aussagen der Geschädigten einer eingehenden Erörterung durch den Tatrichter bedurft. Die Strafkammer hätte Feststellungen dazu treffen müssen, weshalb die Geschädigte die erwähnten früheren Vorwürfe in der Hauptverhandlung nicht wiederholte, ob die Geschädigte insoweit früher bewußt – oder auch unbewußt – falsche Angaben machte oder ob dies jedenfalls nicht auszuschließen ist. Erst vor dem Hintergrund der dann gefundenen Antworten hätte das Landgericht tragfähig entscheiden können, ob die Verurteilung allein auf die Angaben der Geschädigten gestützt werden kann oder ob es hierzu weiterer Indizien außerhalb von deren Aussage bedurft hätte (vgl. BGH NStZ 2001, 161; Nack StraFo 2001, 1 ff.; Sander StV 2000, 45 ff.). Bei der Beweiswürdigung zur Frage der Glaubwürdigkeit – vor allem bei sehr jungen kindlichen Tatopfern – dürfen nicht als erwiesen angesehene gewichtige weitere Beschuldigungen nicht so behandelt werden, als beträfen sie nur unbedeutendes, die Glaubwürdigkeit im übrigen nicht berührendes Randgeschehen (BGHR StGB § 176 Serienstraftaten 7; BGH NStZ 1996, 98; BGH NStZ-RR 1999, 13, 14).
c) Der aufgezeigte Mangel ergreift auch den Schuldspruch im dritten Fall. Zwar hat sich das Landgericht zum Kerngeschehen daneben auf die Aussage der Freundin der Geschädigten gestützt. Es ist aber nicht völlig auszuschließen, daß die Glaubwürdigkeit der Geschädigten hier anders zu beurteilen gewesen wäre.
3. Auf die weiteren mit der Sachrüge und den Verfahrensrügen erhobenen Beanstandungen kommt es deshalb nicht mehr an.
III. Die Revision der Staatsanwaltschaft
Die Staatsanwaltschaft hat mit ihrem auf die Fälle 1 und 2 der Urteilsgründe beschränkten Rechtsmittel, das vom Generalbundesanwalt vertreten wird und nach § 301 StPO zugleich zugunsten des Angeklagten wirkt, ebenfalls Erfolg. Die Würdigung der Aussage der Geschädigten durch das Landgericht, in deren Ergebnis es in den beiden ersten Fällen ein Eindringen des Angeklagten in den Körper der Geschädigten verneint, begegnet durchgreifenden Bedenken.
Die Geschädigte hatte bei ihrer polizeilichen Vernehmung und bei ihrer Begutachtung bekundet, der Angeklagte habe sein Geschlechtsteil eingeführt. Hiermit in Einklang steht der ärztliche Befund, nach dem Geschlechtsverkehr mit einem erwachsenen Mann nicht auszuschließen ist (UA S. 40). Die Schlußfolgerung der Strafkammer, sie habe entsprechende Feststellungen nicht treffen können, weil die Geschädigte in der Hauptverhandlung nicht davon gesprochen habe, daß sie Schmerzen bei den Handlungen verspürt habe (UA S. 40 f.), ist nicht nachvollziehbar dargelegt. Obwohl die Geschädigte „in der Hauptverhandlung … über die festgestellten Handlungen … zum Kern- und Randgeschehen aus dem Gedächtnis heraus detaillierte Angaben gemacht” hat (UA S. 18), bleibt in den Urteilsgründen offen, ob und wie die Geschädigte ihre Angaben auf Nachfrage des Gerichts oder der Prozeßbeteiligten zu diesem Teil des Kerngeschehens ergänzt hat.
Vorsorglich weist der Senat darauf hin, daß im Fall 3 der Urteilsgründe nur der Angeklagte Revision eingelegt hat und insoweit das Verschlechterungsverbot (§ 358 Abs. 2 StPO) zu beachten ist.
Unterschriften
Harms, Gerhardt, Raum, Brause, Schaal
Fundstellen