Verfahrensgang
LG Mainz (Urteil vom 05.11.2010) |
Tenor
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Mainz vom 5. November 2010 wird als unbegründet verworfen.
Die Kosten des Rechtsmittels und die notwendigen Auslagen des Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last.
Tatbestand
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten in einem ersten Urteil wegen versuchter schwerer räuberischer Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Aufgrund einer auf die Nichtanordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung beschränkten Revision der Staatsanwaltschaft hat der Senat dieses Urteil aufgehoben, soweit von der Anordnung der Maßregel abgesehen wurde. Mit dem angefochtenen Urteil hat das Landgericht erneut ausgesprochen, dass der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Anordnung der Maßregel zurückgewiesen wird. Hiergegen richtet sich die Revision der Staatsanwaltschaft, die auf eine Verfahrensrüge sowie die Sachbeschwerde gestützt ist. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.
I.
Rz. 2
Nach den bindend gewordenen Feststellungen zur Anlasstat hatte der frühere Mitangeklagte T. von dem Geschädigten S. die Zahlung von 5.000 Euro als „Strafe” dafür gefordert, dass dieser Wohnungen, welche die Lebensgefährtin des T. angemietet hatte, um sie Prostituierten als „Terminwohnungen” anzubieten, Dritten gegenüber als unrentabel bezeichnet hatte. Der Zahlungsforderung hatte T. mit der Bemerkung Nachdruck verliehen, dass er S. „mit dem Schädel an die Wand schlagen” werde, „dass das Blut spritzt”. Am 17. August 2008 sollte die Geldübergabe erfolgen. Der vielfach vorbestrafte Angeklagte begleitete T. zur Gaststätte von S., wobei er zwei Taschenmesser und einen Teleskopschlagstock mit sich führte und eine Weste mit dem Emblem des Motorradclubs Hell's Angels trug. Spätestens auf dem Weg zu der Gaststätte erfuhr der Angeklagte von der unberechtigten Zahlungsforderung und der Drohung durch T. gegenüber S.. Bei der polizeilich überwachten Geldübergabe wurden T. und der Angeklagte verhaftet.
Rz. 3
Das Landgericht hat festgestellt, dass die formellen Voraussetzungen für die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung vorliegen. Es hat jedoch ausgeführt, es könne nicht feststellen, dass der Angeklagte im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB in der zum Urteilszeitpunkt geltenden Fassung infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, für die Allgemeinheit gefährlich ist. Dabei ist das Gericht den Ausführungen der Sachverständigen Dr. K. gefolgt. Danach liege bei dem Angeklagten zwar eine akzentuierte Persönlichkeit mit dissozialen Zügen vor, die aber nicht als dissoziale Persönlichkeitsstörung einzustufen sei und auch keine Psychopathie nach dem Konzept von Hare darstelle. In der Haft wegen früherer Straftaten habe er mit Erfolg ein Antiaggressionstraining absolviert. Es sei auch eine Nachreifung der Persönlichkeit eingetreten. Früher unter Alkohol- oder Drogeneinfluss begangene aggressive Durchbrüche spielten nun keine Rolle mehr. Der Angeklagte habe erkannt, dass seine früheren Körperverletzungstaten im Kneipenmilieu sinnlos gewesen seien und bereue nun die Verletzung der Opfer. Jüngere Betäubungsmitteldelikte des Angeklagten seien von anderer Bedeutung als die vorher begangenen Gewaltdelikte, die nun nicht mehr zu erwarten seien. Anders zu bewerten seien geplante Taten im kriminellen Milieu. Insoweit sei dem Angeklagten zwar eine Problematik bewusst, aber er distanziere sich bisher nicht von dem Motorradclub. Immerhin sei aber eine Veränderung in seinem Verhalten auch während der Haft zu verzeichnen. Er habe einen stabilen Familiensinn und zeige eine darauf bezogene Lebensführung. Insgesamt könne nicht von einer persönlichkeitsgebundenen Bereitschaft zur Begehung von erheblichen Straftaten ausgegangen werden. Die versuchte schwere räuberische Erpressung sei ein Vermögensdelikt, die auch durch die bloße Drohung mit Gewalt begangen werden könne, ohne dass es zu einer Gewaltanwendung und der Verletzung von Opfern kommen müsse. Hintergrund dieser Tat und der vorangegangenen, auf Gewinnerzielung gerichteten Betäubungsmitteldelikte seien Schulden des Angeklagten gewesen. Der früher auch vorhandene übermäßige Alkohol- und Drogenkonsum spiele keine Rolle mehr.
Entscheidungsgründe
II.
Rz. 4
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen dieses Urteil ist unbegründet.
Rz. 5
1. Die Verfahrensrüge hat keinen Erfolg.
Rz. 6
Ihr liegt zu Grunde, dass die Staatsanwaltschaft den Hilfsbeweisantrag gestellt hatte, zum Beweis der Tatsache, dass der Angeklagte sich nach der letzten Haftentlassung weiterhin in einem kriminellen Umfeld bewege, in dem die Begehung von Gewalttaten zum Selbstverständnis der Gruppe gehöre, die Vernehmung des für Rockerkriminalität zuständigen Kriminaloberkommissars als Zeuge durchzuführen. Das Landgericht hat den Beweisantrag im Urteil mit Hinweis darauf abgelehnt, dass die Strafkammer von derselben Tatsacheneinschätzung ausgehe und der Befund offenkundig sei. Die Beschwerdeführerin hält dies für rechtsfehlerhaft, nachdem die vernommenen Sachverständigen milieubedingte Straftaten des Angeklagten wegen der Zugehörigkeit zu den Hell's Angels für wahrscheinlich erachtet hatten.
Rz. 7
Die Rüge ist unbegründet. Die Annahme von Allgemeinkundigkeit der behaupteten Tatsache ist rechtlich unbedenklich. Eine Verkennung der Zielrichtung des Antrags der Staatsanwaltschaft liegt nicht vor. Das Landgericht hat nicht übersehen, dass „die Begehung von Gewalttaten zum Selbstverständnis” des Motorradclubs Hell's Angels gehört und die Zugehörigkeit des Angeklagten zu diesem Umfeld ein Risikofaktor für die künftige Begehung von Straftaten durch den Angeklagten ist. Das Landgericht ist demnach von denselben Tatsachen ausgegangen wie die Beschwerdeführerin; es hat sie nur anders bewertet.
Rz. 8
2. Die Sachrüge ist ebenfalls unbegründet.
Rz. 9
a) Dabei ist zu berücksichtigen, dass § 66 StGB nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. April 2011 – 2 BvR 2333/08, 2 BvR 2365/09, 2 BvR 571/10, 2 BvR 740/10, 2 BvR 1152/10 – (NJW 2011, 1931 ff.) verfassungswidrig ist. Er gilt vorläufig bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber, längstens bis zum 31. Mai 2013 weiter. Während der Dauer seiner Weitergeltung muss der Tatsache Rechnung getragen werden, dass es sich bei der Sicherungsverwahrung in ihrer derzeitigen Ausgestaltung um einen verfassungswidrigen Eingriff in das Freiheitsrecht handelt. Der hohe Wert dieses Grundrechts beschränkt das übergangsweise zulässige Eingriffsspektrum. Danach dürfen Eingriffe nur soweit reichen, wie sie unerlässlich sind, um die Ordnung des betroffenen Lebensbereichs aufrechtzuerhalten. Die Sicherungsverwahrung darf nur nach Maßgabe einer besonderen Verhältnismäßigkeitsprüfung angewandt werden. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die Anforderungen an die Gefahrprognose und die gefährdeten Rechtsgüter. In der Regel wird der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei einer Anordnung der Sicherungsverwahrung nur gewahrt sein, wenn eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder in dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist. Insoweit gilt in der Übergangszeit ein strengerer Verhältnismäßigkeitsmaßstab als bisher (vgl. BGH, Urteil vom 7. Juli 2011 – 5 StR 192/11).
Rz. 10
b) Jedenfalls nach diesem Maßstab ist es ausgeschlossen, dass das angefochtene Urteil auf einem Rechtsfehler beruht.
Rz. 11
Gemäß § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB a.F. muss die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergeben, dass er infolge eines Hangs zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, für die Allgemeinheit gefährlich ist. Dies wäre bei einer Gefahr der Wiederholung solcher Körperverletzungstaten, wie sie der Angeklagte in der Vergangenheit mit schweren Verletzungsfolgen für die Opfer begangen hatte, der Fall, sofern ein Hang zu derartigen Taten noch als gegenwärtiger Zustand festzustellen wäre (vgl. BGHSt 50, 188, 196). Insoweit hat das Landgericht aber im Einklang mit den Ausführungen der Sachverständigen ausgeführt, solche Körperverletzungen infolge impulsiver Durchbrüche und vor dem Hintergrund eines damaligen Substanzmissbrauchs seien nicht mehr zu erwarten.
Rz. 12
Rechtlich bedenklich kann die weitere Überlegung des Landgerichts erscheinen, dass die nach dem Jahr 1998 begangenen Taten des Angeklagten nicht mehr auf aggressive Impulsdurchbrüche zurückzuführen seien, sondern dabei handele es sich um „Straftaten, zu denen sich der Angeklagte bewusst entschlossen” habe. Dies stünde der Annahme eines Hangs nicht entgegen; gerade vorausgeplante Taten können auf einen Hang zurückzuführen sein. Das Landgericht hat jedoch bei seiner Überlegung zugleich einen Bezug zu Art und Schwere der Delikte, die vom Angeklagten wahrscheinlich in Zukunft zu erwarten sind, dahin hergestellt, die „Integration in die kriminelle Subkultur” ergebe noch keine „fest verwurzelte Neigung” des Angeklagten, „sich auf ‚kriminelle Weise’ Geld oder andere Wertgegenstände zumeist mittels Gewaltanwendung oder Drohung zu verschaffen”. Dagegen ist rechtlich nichts zu erinnern. Die Straftaten, für deren künftige Begehung durch den Angeklagten nach Ansicht des Landgerichts ein Hang und eine Wahrscheinlichkeit besteht, besitzen nicht die erforderliche Erheblichkeit zur Anordnung der Sicherungsverwahrung nach dem Übergangsrecht; für schwerere Delikte besteht hingegen keine hinreichende Wahrscheinlichkeit.
Rz. 13
Der Hang im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB muss sich auf „erhebliche” Straftaten beziehen (Fischer, StGB 58. Aufl. § 66 Rn. 30; LK/Rissing-van Saan StGB 12. Aufl. § 66 Rn. 143 ff.; Stree/Kinzig in Schönke/Schröder StGB 28. Aufl. § 66 Rn. 29). Was darunter zu verstehen sein soll, ist im Gesetzestext nicht nach Deliktsgruppen bestimmt. Insbesondere ist dies auch dadurch geschehen, dass unter den erheblichen Straftaten „namentlich” solche zu verstehen seien, „durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird” (vgl. BGHSt 24, 153, 154). Während nach der anfänglichen Fassung des Gesetzes die Anordnung der Sicherungsverwahrung auch bei Tätern in Betracht gekommen war, von denen vorwiegend kleinere Diebstähle oder Betrügereien zu erwarten waren, sollte nach der Neufassung die Maßregelanordnung bei Tätern, die zu derartigen und zu ähnlichen Taten neigen, welche die öffentliche Sicherheit nicht schwerwiegend stören, vermieden werden. Im Rahmen der jüngeren Reformen (vgl. dazu Boetticher in: Festschrift für Widmaier, 2008, S. 871, 881 ff.; Schöch in: Festschrift für Roxin, 2011, Bd. 2, S. 1193, 1196 ff.) wurde der Charakter der Sicherungsverwahrung als „letzte Notmaßnahme der Kriminalpolitik” (BT-Drucks. V/4094 S. 19) zur Verhinderung besonders schwerer Kriminalität weiter betont. Dies gilt für die nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. April 2011 bestehende Rechtslage in der Übergangszeit erst recht. Demgemäß darf ein Täter, dessen Hang sich nur auf die Begehung von Straftaten der leichten oder allenfalls mittleren Kriminalität richtet, nicht in Sicherungsverwahrung genommen werden. Die Annahme, ein Angeklagter sei ein Hangtäter, setzt allerdings nicht voraus, dass die Straftaten, aus denen diese Eigenschaft abgeleitet wird, gleichartig sind oder sich gegen dasselbe Rechtsgut richten. Es ist andererseits selbstverständlich, dass bei Straftaten verschiedener Art der Nachweis ihrer für einen kriminellen Hang und für die Gefährlichkeit des Täters kennzeichnenden Bedeutung einer besonders sorgfältigen Begründung bedarf (vgl. BGHSt 16, 296, 297; BGHR StGB § 66 Abs. 1 Hang 10). Diese hat das Landgericht abgegeben. Hierbei hat es die für einen Hang des Angeklagten sprechenden Umstände durchaus gesehen, aber im Einzelnen dargelegt, weshalb es ein dauerhaft stabiles Verhaltensmuster nicht annehmen kann.
Rz. 14
Betäubungsmitteldelikte, deren künftige Begehung durch den Angeklagten im Umfeld der Hell's Angels möglich erscheinen, sind nach dem im Sinne der Weitergeltungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts zu § 66 StGB geltenden Maßstab kein ausreichender Grund zu der Annahme, der Angeklagte habe einen Hang zur Begehung erheblicher Straftaten. Durch Handeltreiben mit Betäubungsmitteln, auch in nicht geringer Menge, wird zwar das Rechtsgut der Volksgesundheit verletzt oder gefährdet (vgl. BGHSt 38, 339, 342 f.). Das reicht aber, soweit jedenfalls keine besonderen Umstände hinzutreten, die den Betäubungsmittelhandel für Leib oder Leben Anderer im Einzelfall konkret gefährlich erscheinen lassen, nach dem derzeit geltenden Verhältnismäßigkeitsmaßstab nicht zur Anordnung der Sicherungsverwahrung aus. Gleiches gilt erst recht für ein Fahren ohne Fahrerlaubnis durch den Angeklagten mit seinem Motorrad. Zwar hat der Angeklagte einen Hang hierzu, jedoch wiegt ein solches Vergehen schon nach bisherigem Recht nicht schwer genug (vgl. BGHSt 19, 98, 99).
Rz. 15
Das Landgericht hat schließlich nicht übersehen, dass es sich bei der versuchten schweren räuberischen Erpressung um ein Vermögensdelikt mit einer Droh- und Gewaltkomponente handelte. Weil diese Tat jedoch von dem Angeklagten nur im Sinne einer sukzessiven Mittäterschaft aufgrund eines spontanen Entschlusses zur Mitwirkung an der von dem Mittäter T. bereits begonnenen Tat gefördert wurde und es nicht zu einer Gewaltanwendung gekommen ist, begegnet es keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken, diese Tat nicht als ausreichendes Symptom für einen Hang zur Begehung erheblicher Straftaten anzusehen. Dafür war es nach Ansicht des Landgerichts von Bedeutung, dass eine räuberische Erpressung auch mit einer bloßen Drohung begangen werden kann. Einen Symptomcharakter der Tat für ein hangbedingtes Raubdelikt, das mit einer Anwendung von Gewalt mit schweren Verletzungsfolgen für die Opfer verbunden ist, musste es aus der Anlasstat für die Maßregelprüfung nicht entnehmen.
Rz. 16
Auch im Übrigen ist es nicht zu beanstanden, dass das Landgericht die Mitgliedschaft zu dem Motorradclub Hell's Angels den äußeren Umständen zugeordnet hat, bei denen es sich nicht um ein die Persönlichkeit des Angeklagten bestimmendes Element handele. Seiner „Integration in die kriminelle Subkultur” ist nicht schon als solcher zu entnehmen, dass deshalb ein „Hang” des Angeklagten zur Begehung schwerer Straftaten bestehe. Dies gilt jedenfalls dann, wenn nicht zugleich eine Neigung zur Tatbegehung dauerhaft oder sogar irreversibel (vgl. NK/Böllinger/Pollähne StGB 3. Aufl. § 66 Rn. 90) im Persönlichkeitsgefüge des Täters verankert ist. Eine solche Verankerung hat das Landgericht aber mit seinem Hinweis auf die festgestellten Veränderungen in der Persönlichkeit und im Verhalten des Angeklagten ausgeschlossen.
Unterschriften
Fischer, Appl, Berger, Krehl, Eschelbach
Fundstellen
Haufe-Index 2749178 |
NStZ 2012, 32 |
StV 2012, 210 |