Verfahrensgang
LG Kleve (Urteil vom 08.02.2002) |
Tenor
1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten wird das Urteil der auswärtigen Strafkammer des Landgerichts Kleve in Moers vom 8. Februar 2002
- im Schuldspruch dahin geändert, daß der Angeklagte der Vergewaltigung in vier Fällen in Tateinheit mit Beischlaf zwischen Verwandten sowie des Beischlafs zwischen Verwandten in zwölf weiteren Fällen schuldig ist,
- in den Einzelstrafaussprüchen in den Fällen II. 2 bis 9, 12, 13, 15 und 16 und im Gesamtstrafenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehenden Revisionen werden verworfen.
Tatbestand
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in vier Fällen und wegen Nötigung in zwölf Fällen, in allen Fällen in Tateinheit mit Beischlaf zwischen Verwandten, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt und ihn im übrigen freigesprochen.
I. 1. Nach den Feststellungen befanden sich im Haushalt des Angeklagten neben seiner Ehefrau acht eheliche Kinder, fünf Mädchen und drei Jungen, sowie eine von seiner Ehefrau in die Ehe mitgebrachte Tochter. Die familiären Verhältnisse waren dadurch geprägt, daß der zu erheblichem Alkoholgenuß neigende Angeklagte insbesondere unter Alkoholeinfluß und, wenn etwas nicht nach seinem Willen ging, manchmal auch ohne erkennbaren Anlaß, Gewalttätigkeiten gegenüber Ehefrau und Kindern verübte, wobei er auch zu drastischen „Strafen” griff. Es entstand ein Klima ständiger Furcht, er könne gewalttätig werden, herumschreien oder sich sonst unkontrolliert verhalten. Seine 1972 geborene Tochter Michaela mißbrauchte er seit deren dreizehntem Lebensjahr und führte mit ihr in zahlreichen Fällen, die nicht Gegenstand des Verfahrens sind, den Geschlechtsverkehr aus, bis diese im Herbst 1989 die Familie verließ. Darauf wandte er sich der am 16. November 1975 geborenen Tochter Andrea zu und mißbrauchte diese als Sexualpartnerin bis zum Frühjahr 2001, wobei lediglich die Fälle in der Zeit von April 1999 bis Ende 2000 angeklagt worden sind.
2. In den Fällen II. 1, 10, 11 und 14 hat das Landgericht neben dem Tatbestand des Beischlafs mit Verwandten den der Vergewaltigung nach § 177 Abs. 1 Nr. 1 bzw. 2, Abs. 2 Nr. 1 StGB angenommen, weil der Angeklagte entweder Gewalt angewandt hatte (II. 1: Beine auseinander gedrückt; II. 10: zu Boden geworfen) oder Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben gebraucht (II. 11: er werde der von ihm geschwängerten Geschädigten „das Kind aus dem Bauch treten”; II. 14: er werde dem – zwischenzeitlich geborenen – Kind „etwas antun”). Dagegen hat es in den Fällen II. 2 bis 9, 12, 13, 15 und 16 keine Gewaltanwendung oder Drohung im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 2 StGB festzustellen vermocht, den Angeklagten aber gleichwohl nicht nur wegen Beischlafs zwischen Verwandten, sondern auch wegen Nötigung nach § 240 Abs. 1, Abs. 4 Nr. 1 StGB verurteilt, weil die Geschädigte den Geschlechtsverkehr gegen ihren Willen nur aus Angst vor unberechenbaren Verhaltensweisen des Angeklagten geduldet habe, was diesem bewußt gewesen sei. Die Annahme der Tatbestandsalternative des Ausnutzens einer schutzlosen Lage nach § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB hat die Strafkammer abgelehnt. In weiteren 120 angeklagten Fällen hat sie ihn freigesprochen, weil sich die Fälle nicht ausreichend hätten konkretisieren lassen.
3. Die Staatsanwaltschaft beanstandet mit ihrer auf den Schuldspruch in den Fällen II. 2 bis 9, 12, 13, 15 und 16 sowie auf den gesamten Strafausspruch beschränkten Revision mit der Sachrüge, daß das Landgericht in den Fällen II. 12 und 13 sowie 15 und 16 nicht die Fortdauer der Drohungen aus den Fällen II. 11 und 14 angenommen und im übrigen für sämtlich abgeurteilten Fälle § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB verneint habe. Der Angeklagte erstrebt mit der Sachrüge die Aufhebung des Urteils insgesamt.
Entscheidungsgründe
II. Die Revisionen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft, letztere wirkt insoweit nach § 301 StPO zu Gunsten des Angeklagten, führen zur Änderung des Schuldspruchs in den Fällen II. 2 bis 9, 12, 13, 15 und 16. Dies bedingt die Aufhebung der zugehörigen Einzelstrafen und der Gesamtstrafe. Im übrigen bleiben die Rechtsmittel beider Beschwerdeführer ohne Erfolg.
1. Die Verurteilung wegen Nötigung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand, weil die Strafkammer das Vorliegen einer Nötigungshandlung und deren Ursächlichkeit für die Duldung der sexuellen Handlungen nicht festgestellt hat.
a) Der Tatbestand der Nötigung nach § 240 StGB setzt ebenso wie § 177 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB grundsätzlich voraus, daß der Täter eine Nötigungshandlung vornimmt. Er muß Gewalt anwenden oder mit einem empfindlichen Übel drohen. Liegt Gewalt vor oder hat die Drohung zur Erzwingung sexueller Handlungen zum Inhalt, daß gegenwärtige Gefahr für Leib oder Leben in Aussicht gestellt wird, sind ohnehin die Nötigungsmittel der vorgehenden Strafvorschrift der sexuellen Nötigung nach § 177 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB gegeben. Nur wenn der Täter die Zufügung eines Übels androht, das hinter einer qualifizierten Drohung zurückbleibt, aber gleichwohl noch als empfindliches Übel zu werten ist, kommt § 240 Abs. 1, Abs. 4 Nr. 1 StGB in Betracht.
b) Die Strafkammer hat bei der rechtlichen Würdigung zu dieser Fallgruppe lediglich pauschal ausgeführt, daß der Tatbestand der Nötigung gegeben sei, nicht aber, in welchen konkreten Verhaltensweisen sie eine Nötigungshandlung gesehen hat. Daß bei diesen Taten eine Drohung ausgesprochen worden wäre, ist nicht festgestellt. Bei derartigen von vorangegangenen Gewalthandlungen und Drohungen geprägten Sachverhaltsgestaltungen kommt allerdings in Betracht, daß früher angewandte Gewalt in dem Sinne als Drohung fortwirkt, daß der Täter durch schlüssiges Verhalten erneute Gewaltanwendung androht und etwa allein schon durch sein Verlangen nach Duldung der sexuellen Handlung konkludent zu verstehen gibt, er werde andernfalls gegen das Opfer vorgehen (vgl. BGHR StGB § 177 Abs. 1 Drohung 2, 8). Es kann aber nicht immer davon ausgegangen werden, daß bei langdauernden Mißbrauchsverhältnissen stets ein Nötigungsmittel eingesetzt wird (vgl. BGHSt 42, 107, 111).
Hier ist zu berücksichtigen, daß auch nach der Einschätzung des Opfers der Angeklagte nur „in seinem allgemeinen Verhalten gewalttätig gewesen sei” und seine Kinder oft geschlagen habe, während es in Zusammenhang mit seinen sexuellen Übergriffen in der Regel nicht zu Gewalttätigkeiten oder Drohungen mit Gewalt gekommen sei (UA S. 37). Damit übereinstimmend hat die Strafkammer für die Zeit vor Beginn der abgeurteilten Tatserie eine konkrete Anwendung körperlicher Gewalt gegenüber der Geschädigten zur Erzwingung des Geschlechtsverkehrs nicht festgestellt. Die zur Begründung einer Drucksituation herangezogenen Verhaltensweisen des Angeklagten lassen eine konkludente Drohung nicht so auf der Hand liegend erscheinen, daß eine nähere Begründung entbehrlich gewesen wäre. Der Wurf einer Limonadenflasche gegen einen Schrank und die Drohung, die inzestuöse Beziehung „überall herum zu erzählen” (UA S. 11), konnten zeitlich nicht eingegrenzt werden und lagen daher möglicherweise schon länger zurück. Auch der Hinauswurf aus der Familienwohnung für eine Nacht im Jahre 1997 oder 1998 (UA S. 11, 23) fand ebenfalls mindestens ein Jahr vor dem Tatzeitraum der angeklagten Taten statt, so daß es – auch angesichts des zwischenzeitlichen Auszugs der Geschädigten aus der Familienwohnung – fernliegt, daß er noch eine aktuelle Bedeutung hatte. Bei dieser Sachlage reicht die allgemeine Feststellung nicht aus, daß aus der Sicht des Angeklagten seine Tochter Andrea die Durchführung des Geschlechtsverkehrs nur duldete, weil sie „Angst vor ihm und seinen unkontrollierten Verhaltensweisen” hatte (UA S. 36). Im übrigen wäre auch zu erörtern gewesen, ob in den Fällen, in denen Andrea ihren Vater in ihre eigene Wohnung gelassen hatte, weil sie befürchtete, er werde andernfalls im Hausflur „randalieren”, ein nötigendes Handeln des Angeklagten und nicht nur eine bloße Befürchtung auf Seiten der Geschädigten vorlag. Denn ein nötigendes Verhalten des Täters würde insoweit voraussetzen, daß er beim Begehren des Einlasses zu verstehen gegeben hat, er werde andernfalls „randalieren”.
2. Dies gilt auch für die Fälle II. 12, 13, 15 und 16, denen massive Drohungen in den Fällen II. 11 („Kind aus dem Bauch treten”) und 14 („dem Kind etwas antun”) vorausgegangen waren und bei denen daher die Annahme einer konkludenten Drohung mit entsprechendem Inhalt, die dann als qualifizierte Drohung im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 2 StGB zu bewerten gewesen wäre, näher lag. Doch hat die Strafkammer nicht feststellen können, daß der Angeklagte eine entsprechende Drohung gebraucht hätte. Sie hat dies damit begründet, daß die Geschädigte solches nicht nur nicht bekundet, sondern im Gegenteil erklärt hat, im Zusammenhang mit den sexuellen Übergriffen sei es in der Regel nicht zu Drohungen oder Gewaltanwendungen gekommen (UA S. 36, 37). Zu den Fällen II. 12 und 13 hat die Strafkammer sogar ausdrücklich ausgeführt, daß ein Zusammenhang zwischen der Duldung des Geschlechtsverkehrs mit der im Fall II. 11 gebrauchten Drohung sich nicht hat feststellen lassen (UA S. 20). Bei den Fällen II. 15 und 16 hat sie ebenfalls nur die allgemeine Angst der Geschädigten vor ihrem Vater als Ursache der Duldung festgestellt (UA S. 21). Daß sie dabei die Prüfung der Möglichkeit einer konkludent erneuerten Drohung wie im Fall II. 14 unterlassen haben könnte, ist angesichts der ausdrücklichen Erörterung dieser Frage bei den vorausgegangenen Fällen nicht zu besorgen.
Im übrigen scheidet nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Gleichsetzung von Gewalt und Ausnutzung der Angst vor Gewalt im Sinne einer konkludenten Drohung in der Regel aus, wenn zwischen der Gewaltanwendung und dem späteren Geschlechtsverkehr Wochen oder sogar Monate liegen (BGH, Urt. vom 2. Oktober 2002 – 2 StR 153/02; BGH NStZ 1986, 409; BGHR StGB § 177 Serienstraftaten 5; NStZ-RR 1998, 105). Für den Fall einer konkludent wiederholten Drohung kann nichts anderes gelten. Hier fanden die Fälle II. 12 und 13 sowie II. 15 und 16 zu nicht näher feststellbaren Zeitpunkten innerhalb von Zeitspannen von mehr als neun Monaten, bzw. mehr als drei Monaten nach den jeweils vorausgegangenen Drohungen statt. Der erforderliche enge zeitliche Zusammenhang ist somit nicht festgestellt.
3. Der Staatsanwaltschaft ist zuzugeben, daß die Strafkammer bei der Prüfung der Voraussetzungen einer schutzlosen Lage nach § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB lediglich auf die örtlichen Gegebenheiten der Tatorte abgestellt und damit einen zu engen Maßstab angelegt hat. Es ist unerheblich, auf welche Umstände die schutzlose Lage zurückzuführen ist. Die verminderten Schutz- und Verteidigungsmöglichkeiten können sich sowohl aus den äußeren Gegebenheiten als auch aus in der Person des Opfers liegenden Umständen ergeben (BGHSt 45, 253, 256). Solche hätten hier grundsätzlich in der außergewöhnlich starken Einbindung der Geschädigten in den Familienverband gesehen werden können, der durch ein fortwährendes Klima der Gewalt und Einschüchterung geprägt war, sofern hierdurch ihre Schutz- und Verteidigungsmöglichkeiten in einem Maße vermindert waren, daß sie dem ungehemmten Einfluß des Täters preisgegeben war, wobei eine gänzliche Beseitigung jeglicher Verteidigungsmöglichkeiten nicht gefordert werden kann (BGHSt 45, 253, 255 f.; 44, 228, 231). Allerdings erscheint zweifelhaft, ob die vom Landgericht festgestellte Situation diese Kriterien erfüllt. Denn die Geschädigte hatte ebenso wie ihre zuvor über einen längeren Zeitraum vom Angeklagten mißbrauchte Schwester Michaela erklärt, daß der Angeklagte wohl in seinem allgemeinen Verhalten gewalttätig war und seine Kinder oft geschlagen hat, aber in der Regel bei seinen sexuellen Übergriffen nicht zu Gewalttätigkeiten und Drohungen gegriffen hatte (UA S. 37). Jedenfalls hat die Strafkammer bei der Prüfung einer schutzlosen Lage auf Grund entsprechender örtlicher Gegebenheiten (z. B. im Keller des Wohnhauses) ohne Rechtsfehler verneint, daß der Vorsatz des Angeklagten gerade auf die Ausnutzung dieser schutzlosen Lage gerichtet gewesen wäre und dabei darauf abgestellt, daß die Geschädigte den Geschlechtsverkehr auch in Situationen duldete, in denen – wie etwa auf dem Campingplatz – unschwer Hilfe hätte erlangt werden können (UA S. 37). Der Senat kann daher ausschließen, daß das Landgericht einen entsprechenden Vorsatz bejaht hätte, wenn es in der genannten Einbindung in den von Gewalt geprägten Familienverband eine schutzlose Lage gesehen hätte.
4. Dagegen erweist sich die Revision des Angeklagten als offensichtlich unbegründet, soweit er in den Fällen II. 1, 10, 11 und 14 wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit Beischlaf unter Verwandten verurteilt worden ist. Die Beweiswürdigung der Strafkammer zu diesen konkret geschilderten Einzelfällen weist keinen Rechtsfehler auf.
III. Der Senat hat in den Fällen II. 2 bis 9, 12, 13, 15 und 16 davon abgesehen, den Schuldspruch aufzuheben und die Sache insoweit zurückzuverweisen, da auszuschließen ist, daß in einer neuen Hauptverhandlung entsprechende Nötigungshandlungen noch festgestellt werden können. Dabei hat er berücksichtigt, daß die Strafkammer ersichtlich bemüht war, Gewaltanwendungen und Drohungshandlungen nach Möglichkeit herauszuarbeiten. Der Schuldspruch wurde daher insoweit auf zwölf Fälle des Beischlafs zwischen Verwandten geändert. Dies führt zur Aufhebung der betroffenen Einzelstrafaussprüche und der Gesamtstrafe. Dagegen haben die Einzelstrafen in den Vergewaltigungsfällen II. 1, 10, 11 und 14 Bestand.
Unterschriften
Tolksdorf, Miebach, Winkler, von Lienen, Becker
Fundstellen
Haufe-Index 2559774 |
NStZ 2003, 424 |
StV 2003, 392 |