Entscheidungsstichwort (Thema)
sexueller Mißbrauch von Kindern
Tenor
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 5. Juli 1999 wird verworfen.
Die Kosten der Revision und die durch dieses Rechtsmittel dem Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.
Von Rechts wegen
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern in 118 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren bei Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Die mit der Sachrüge begründete Revision der Staatsanwaltschaft, die trotz des weitergehenden Antrags wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt ist, hat keinen Erfolg.
1. Soweit der Verteidiger des Angeklagten in der Hauptverhandlung geltend gemacht hat, für alle Taten vor dem 29. Mai 1987 sei Strafverfolgungsverjährung eingetreten, trifft dieser Einwand nicht zu.
Wie der 1. Strafsenat schon durch seinen Beschluß vom 19. November 1996 (BGHR StGB § 78b Abs. 1 Ruhen 3; ebenso 2. Strafsenat BGHR StGB § 78b Abs. 1 Ruhen 5; 5. Strafsenat Urt. vom 4. Februar 1997 – 5 StR 606/96) ausgeführt hat, schiebt § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB den Beginn der Verjährungsfrist bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des Tatopfers hinaus. Dies gilt auch in den Fällen, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes am 30. Juni 1994 begangen waren, sofern sie bis zu diesem Zeitpunkt nicht verjährt waren (Art. 2 des 30. StRÄndG vom 23. Juni 1994 – BGBl. I S. 1310). Darauf, daß vor dem 30. Juni 1994 nach altem Recht schon die Verjährungsfrist gelaufen war, kommt es nicht an.
An dieser Auslegung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB hält der Senat auch nach Überprüfung fest. Der Wille des Gesetzgebers, für Altfälle komme eine Anrechnung schon abgelaufener Zeiträume auf die Verjährungsfrist nicht in Frage, läßt sich aus den Gesetzesmaterialien eindeutig entnehmen. Dem Gesetzgebungsverfahren zugrunde lag ein Antrag der Fraktion der SPD, nach dem § 78a Satz 1 StGB dahin neu gefaßt werden sollte, daß bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung die Verjährung nicht vor Vollendung des 18. Lebensjahres des Opfers beginne (BTDrucks. 12/2975). Wäre dieser Entwurf Gesetz geworden, käme in Altfällen eine Berücksichtigung vor dem Inkrafttreten des Gesetzes gelaufener Verjährungszeiten keinesfalls in Frage. In der Beratung des Rechtsausschusses äußerte dazu der Vertreter des Bundesjustizministeriums, Ministerialdirigent von Bülow, aus der Systematik der Verjährungsvorschriften empfehle es sich, Abweichungen von dem Grundsatz, daß die Verjährung mit der Beendigung der Tat zu laufen beginne, besser im Rahmen des § 78b zu regeln; zugleich gab er zu überlegen, für Altfälle eine Regelung zu treffen, wobei bei gravierenden Taten bisher üblicherweise darauf abgestellt worden sei, daß es eine sog. kleine Rückwirkung geben solle, daß also Taten erfaßt würden, die beim Inkrafttreten des Gesetzes bereits begangen, aber noch nicht verjährt seien. Diese Vorschläge wurden angenommen (Protokoll der 92. Sitzung des Rechtsausschusses vom 20. Oktober 1993) und schließlich auch so Gesetz. Eine sachliche Änderung des ursprünglichen Entwurfs sollte damit nicht verbunden sein, auch für nicht verjährte Altfälle sollte die Regelung uneingeschränkt gelten, was sich aus den Ausführungen des Vertreters des Bundesjustizministeriums, gegen die keine Einwände erhoben wurden, unzweifelhaft ergibt.
Diese Neuregelung der Verjährung von Straftaten nach den §§ 176 bis 179 StGB hält der Senat für verfassungsrechtlich unbedenklich (vgl. BVerfGE 25, 269, 284, 289 ff.). Daß aufgrund der vom Gesetzgeber gewählten Lösung über das Ruhen der Frist ein bereits vor ihrem Inkrafttreten verstrichener Zeitraum gleichsam im Nachhinein wieder entfällt, berührt keine schutzwürdige Vertrauensposition des Angeklagten. Denn der Gesetzgeber wäre im Blick auf die kriminalpolitischen Gründe für die Neuregelung auch nicht gehindert gewesen, die Verjährungsfrist – auch die bereits laufende – lediglich zu verlängern (zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit insoweit vgl. BVerfGE 25, 269, 289 ff.). Daß er einen anderen rechtsdogmatischen Weg beschritten hat (Ruhenslösung), bedingt in der praktischen Wirkung für den Angeklagten keinen erheblichen Unterschied.
2. Die verhängten Einzelfreiheitsstrafen von jeweils acht Monaten liegen zwar im untersten Bereich des Strafrahmens, lassen jedoch Rechtsfehler nicht erkennen. Im Ergebnis das gleiche gilt für die Gesamtfreiheitsstrafe. Die zu Gunsten des Angeklagten angeführte Erwägung, daß eine Vielzahl der Taten – allerdings nicht nahezu alle, wie das Landgericht meint – im Zeitpunkt der Entscheidung verjährt gewesen wären, wenn nicht durch das 30. Strafrechtsänderungsgesetz am 30. Juni 1994 die Regelung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB in Kraft getreten wäre, ist nicht zu beanstanden (vgl. BGHR StGB § 78b Abs. 1 Ruhen 5).
Daß die Strafkammer für alle Einzelfälle die gleiche Einzelstrafe von acht Monaten Freiheitsstrafe verhängt hat, gibt zu rechtlichen Bedenken keinen Anlaß, weil die Tatbegehung in fast allen Fällen gleich oder vergleichbar war.
Schließlich greift auch der Einwand nicht durch, die Gesamtstrafe sei wegen der geringen Erhöhung der Einsatzstrafe trotz des Vorliegens zahlreicher gleich schwerwiegender weiterer Taten rechtsfehlerhaft. Bei der Gesamtstrafenbildung nach § 54 Abs. 1 Satz 2 StGB ist die bloße Zusammenzählung der verwirkten Einzelstrafen nicht maßgebend (BGHR StGB § 54 Abs. 1 Bemessung 5).
Unterschriften
Schäfer, Maul, Granderath, Boetticher, Schluckebier
Fundstellen
Haufe-Index 556618 |
NStZ 2000, 251 |