Entscheidungsstichwort (Thema)
sexueller Mißbrauch von Kindern
Tenor
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 22. Juli 1999 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
– Von Rechts wegen –
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes in fünf Fällen und wegen schweren sexuellen Mißbrauchs von Kindern zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat keinen Erfolg.
I.
Verfahrensrechtlich macht der Beschwerdeführer in dreifacher Hinsicht wegen Verletzung des § 247 StPO den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO geltend.
1. Soweit er die unzulängliche Begründung des Beschlusses der Strafkammer beanstandet, durch den seine Entfernung aus dem Sitzungssaal während der Vernehmung der beiden geschädigten kindlichen Zeugen angeordnet worden ist, genügt das Revisionsvorbringen nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Der Beschwerdeführer hat den beanstandeten Beschluß nicht vollständig vorgetragen. Dieser beschränkte sich nicht – wie gerügt – auf die Anordnung der Entfernung, dieser Anordnung war vielmehr das Zitat einer Vorschrift (§ 247 „Abs. 1” Satz 2 StPO) beigefügt. Ob diese denkbar knappste Form der Begründung hier ausgereicht hätte – was bei zweifelsfrei gegebener Anwendbarkeit der Norm nicht undenkbar ist (vgl. BGHR StPO § 247 Satz 2 – Begründungserfordernis 2 m.w.N.; dazu Basdorf in Festschrift für Hannskarl Salger 1995 S. 203, 204) –, vermag der Senat wegen des unvollständigen Revisionsvortrags nicht zu prüfen.
Im übrigen hat der Beschwerdeführer ferner unterlassen vorzutragen, daß der Vater eines der kindlichen Zeugen darum gebeten hatte, den Angeklagten während der Vernehmung seines Sohnes abtreten zu lassen. Auch dieser Umstand wäre im Rahmen der Rüge nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO mitzuteilen gewesen; denn die nähere Begründung eines Beschlusses nach § 247 StPO könnte sich durch den Zusammenhang mit einer darauf gerichteten Erklärung, nicht anders als nach entsprechender Antragstellung (vgl. – zu § 338 Nr. 6 StPO, § 174 GVG – BGH, Urteil vom 9. Juni 1999 – 1 StR 325/98 –, zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt, NStZ 1999, 474 m.w.N.), im Einzelfall erübrigen. Auch ob dies hier in Betracht gekommen wäre, hat der Senat in der Sache nicht zu überprüfen.
2. Die Rüge, der Vermerk über die Entschuldigung einer Zeugin hätte nicht während der nach § 247 StPO angeordneten Abwesenheit des Angeklagten verlesen werden dürfen, ist jedenfalls unbegründet. Die beanstandete Verlesung war ersichtlich ausschließlich eine Freibeweiserhebung zur Erreichbarkeit weiterer Beweismittel, damit kein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung, der ohne Vorliegen eines Ausnahmegrundes unbedingt die Anwesenheit des Angeklagten erfordert hätte (vgl. BGHR StPO § 247 – Abwesenheit 17).
3. Auch die Beanstandung, die Verhandlung über die Entlassung des kindlichen Zeugen S. M. sei zu Unrecht in Abwesenheit des Angeklagten erfolgt, greift nicht durch. Diese Rüge scheitert ebenfalls an § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO.
a) Ihr liegt folgendes prozessuale Geschehen zugrunde: Nachdem S. M. vernommen worden war, ist ihm zwar gestattet worden, den Sitzungssaal zu verlassen, bevor der Angeklagte wieder vorgeführt worden ist. Der Zeuge ist aber nicht etwa entlassen worden, sondern der Angeklagte ist zunächst nach § 247 Satz 4 StPO über den wesentlichen Inhalt der Aussage des kindlichen Zeugen unterrichtet worden. Danach ist – was die Revision nicht mitteilt – zunächst die Mutter des anderen kindlichen Zeugen Mo in Anwesenheit des Angeklagten vernommen und entlassen worden. Anschließend ist der Angeklagte in Ausführung des Beschlusses nach § 247 Satz 2 StPO wieder aus dem Sitzungssaal entfernt worden. Darauf ist zunächst S. M. ergänzend befragt worden – worüber, ergibt sich weder aus dem Protokoll, noch wird es von der Revision mitgeteilt –; anschließend ist er nach erneuter Anordnung seiner Nichtvereidigung (§ 60 Nr. 1 StPO) nunmehr sofort „im Einverständnis sämtlicher Beteiligter” entlassen worden. Dann ist in fortdauernder Abwesenheit des Angeklagten Mo vernommen worden. Dieser Zeuge ist erst entlassen worden, nachdem der wieder anwesende Angeklagte über seine Aussage und die ergänzenden Angaben des Zeugen S. M. unterrichtet worden war.
Dieser Prozeßablauf erweist hinlänglich, daß der Strafkammer klar war, daß sie zur erforderlichen Wahrung des Fragerechts des Angeklagten grundsätzlich gehindert war, einen in Abwesenheit des Angeklagten vernommenen Zeugen zu entlassen, bevor der Angeklagte zuvor über den wesentlichen Inhalt der in seiner Abwesenheit erfolgten Aussage unterrichtet war. Beide Kinder sind nicht etwa unmittelbar nach ihrer jeweiligen Zeugenaussage entlassen worden. Nach dem Verhandlungsablauf liegt nahe, daß Gegenstand der für die Rüge allein maßgeblichen ergänzenden Befragung von S. nur ein eng begrenzter, nach der vorangegangenen umfassenden Vernehmung einzig offen gebliebener Vorgang – etwa ein vom Angeklagten gemutmaßtes verspätetes Heimkommen der Kinder (vgl. UA S. 11) – gewesen ist. Dabei liegt nicht fern, daß sich die Prozeßbeteiligten unter Einschluß des Angeklagten nach dessen erster Information gemäß § 247 Satz 4 StPO und nach Verständigung über jene ergänzende Befragung einig waren, daß der Zeuge hiernach sofort entlassen werden könnte. Hierauf deutet das gerichtliche Vorgehen im übrigen hin, mit dem auf die ausreichende Wahrung der Informations- und Verteidigungsbedürfnisse des Angeklagten bei Anwendung des § 247 StPO Bedacht genommen worden ist, zudem der Vermerk über das Einverständnis „sämtlicher” Beteiligter mit der Entlassung, der ein vorab erklärtes Einverständnis des bei Entlassung noch vorübergehend abwesenden Angeklagten nicht ausschließt, schließlich auch der Umstand, daß der Angeklagte nach seiner abschließenden Unterrichtung gemäß § 247 Satz 4 StPO nicht etwa eine weitere ergänzende Befragung eines der kindlichen Zeugen verlangt hat.
Bei einer solchen besonders gelagerten Fallgestaltung hätte die Revision hier den Gegenstand der ergänzenden Befragung des kindlichen Zeugen S. M. mitteilen müssen. Allein hierdurch wäre bei der hier gegebenen Sachlage zu belegen – oder aber eben naheliegend zu widerlegen – gewesen, ob der nach jener Befragung sofort erfolgten Entlassung eine Verhandlung vorausgegangen ist, die – im Sinne der herkömmlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, auf die sich der Beschwerdeführer beruft (vgl. nur BGHR StPO § 338 Nr. 5 – Angeklagter 23 m.w.N.) – ein wesentlicher, von der Anordnung nach § 247 StPO nicht erfaßter Teil der Hauptverhandlung war, der nicht in Abwesenheit des Angeklagten hätte erfolgen dürfen (vgl. entsprechend zur Vortragspflicht nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO bei etwas anderer, aber hinsichtlich der Wesentlichkeit der Entlassungsverhandlung ähnlich gelagerter Fallgestaltung: BGHR StPO § 247 – Abwesenheit 18 m.w.N.).
b) Im übrigen hält der Senat – einem früheren Lösungsvorschlag des 3. Strafsenats folgend (vgl. die soeben zitierte Entscheidung; vgl. hingegen andererseits die späteren Entscheidungen desselben Senats in BGHR StPO § 247 – Abwesenheit 19 sowie BGH, Beschluß vom 3. November 1999 – 3 StR 333/99 –) – die Verhandlung über die Entlassung eines Zeugen generell für keinen wesentlichen Teil der Hauptverhandlung; die Abwesenheit des Angeklagten dabei ist daher regelmäßig nicht geeignet, den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO zu begründen (vgl. Basdorf aaO S. 209 f.). Zur weiteren Ausschöpfung eines Beweismittels in Erfüllung der gerichtlichen Wahrheitsermittlungspflicht, insbesondere zur Ermöglichung einer etwa relevanten Konfrontation mit noch ausstehenden, zu erwartenden späteren Beweiserhebungen in der Hauptverhandlung und ergänzender Befragung durch die Prozeßbeteiligten, kann es angezeigt sein, nicht sofort nach Vernehmung eines Zeugen oder Sachverständigen dessen Entlassung (§ 248 StPO) anzuordnen. Damit bleiben eventuelle Zwangsmöglichkeiten gegen einen sich ohne Entlassung entfernenden Zeugen oder Sachverständigen eröffnet (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO 44. Aufl. § 248 Rdn. 1). Jener prozessuale Vorgang der Entlassung – einschließlich der Verhandlung mit den Prozeßbeteiligten hierüber – hat somit eher organisatorischen Charakter; wie die freibeweisliche Vorbereitung einer Beweiserhebung dient er hingegen nicht unmittelbar der Urteilsfindung. Wie jene (vgl. dazu oben 2) sollte er daher nicht als wesentlicher Teil der Hauptverhandlung verstanden werden, für den die durch § 338 Nr. 5 StPO garantierten unbedingten Anwesenheitspflichten gelten. Als wesentlich sind in diesem Zusammenhang vielmehr generell nur die der Urteilsfindung unmittelbar dienenden Verhandlungsteile, insbesondere Beweiserhebungen, anzusehen.
Solche Auslegung des Verfahrensrechts beschränkt nicht etwa das Fragerecht eines bei der Verhandlung über die Entlassung etwa abwesenden Angeklagten. Ihm ist vielmehr regelmäßig uneingeschränkt das Recht zuzubilligen, die erneute Vorladung eines ohne seine Anhörung entlassenen Zeugen oder Sachverständigen zum Zweck weiterer zulässiger Befragung zu verlangen. Mit der Revision kann er eine etwaige Versagung dieser Möglichkeit – über den relativen Revisionsgrund der Verletzung seines Fragerechts – beanstanden. Allein diese Auslegung des Verfahrensrechts erscheint dem Senat angemessen als Lösung von Fällen der vorliegenden Art im Revisionsverfahren, die regelmäßig im Spannungsfeld zwischen gebotener Wahrung aktiver Mitwirkungsbefugnisse des Angeklagten einerseits sowie Zeugen- und Opferschutz im Strafverfahren andererseits stehen.
Bei einer entsprechenden zulässig erhobenen Verfahrensrüge würde der Senat demgemäß eine Anfrage nach § 132 Abs. 3 GVG beschließen. Hier mangelt es an hinreichender Darlegung einer das Anwesenheitsrecht tangierenden Verletzung berechtigter Anhörungs- und Beteiligungsrechte des Angeklagten, die nach der bislang verbindlichen Rechtsprechung anderer Strafsenate von § 338 Nr. 5 StPO erfaßt würde. Eine Anfrage kann daher wegen fehlender Entscheidungserheblichkeit nicht erfolgen.
II.
Die Nachprüfung des angefochtenen Urteils auf die Sachrüge ergibt keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten. Die tatrichterliche Beweiswürdigung unterliegt keinen sachlichrechtlichen Bedenken. Dies gilt auch für das Strafmaß und die Versagung von Strafaussetzung zur Bewährung. Insbesondere ist im letzten Fall eines Verbrechens nach § 176 Abs. 1, § 176a Abs. 1 Nr. 4 StGB die Ablehnung eines minder schweren Falles nach § 176a Abs. 3 StGB ungeachtet der verhältnismäßig geringen Intensität der sexuellen Übergriffe, die der Tatrichter nicht verkannt hat, nicht rechtsfehlerhaft; die Argumente des Mißbrauchs zweier Kinder und der Tatbegehung noch in der Bewährungszeit nach einschlägiger Verurteilung konnten hierfür als maßgeblich herangezogen werden.
Unterschriften
Harms, Häger, Basdorf, Nack, Gerhardt
Fundstellen
Haufe-Index 556903 |
NStZ 2000, 328 |
StV 2000, 240 |