Leitsatz (amtlich)
1. Auch bei der Bemessung des Schmerzensgeldes in Arzthaftungssachen kann der Gesichtspunkt der Genugtuung nicht grundsätzlich außer Betracht bleiben. Auch wenn bei der ärztlichen Behandlung das Bestreben der Behandlungsseite im Vordergrund steht, dem Patienten zu helfen und ihn von seinen Beschwerden zu befreien, stellt es unter dem Blickpunkt der Billigkeit einen wesentlichen Unterschied dar, ob dem Arzt grobes - möglicherweise die Grenze zum bedingten Vorsatz berührendes - Verschulden zur Last fällt oder ob ihn nur ein geringfügiger Schuldvorwurf trifft. Ein dem Arzt aufgrund grober Fahrlässigkeit unterlaufener Behandlungsfehler kann dem Schadensfall sein besonderes Gepräge geben.
2. Grobe Fahrlässigkeit ist allerdings nicht bereits dann zu bejahen, wenn dem Arzt ein grober Behandlungsfehler unterlaufen ist. Ein grober Behandlungsfehler ist weder mit grober Fahrlässigkeit gleichzusetzen noch kommt ihm insoweit eine Indizwirkung zu.
Normenkette
BGB § 253 Abs. 2
Verfahrensgang
OLG Düsseldorf (Entscheidung vom 26.09.2019; Aktenzeichen I-8 U 2/16) |
LG Duisburg (Entscheidung vom 14.12.2015; Aktenzeichen 2 O 167/13) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 26. September 2019 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Berufung der Klägerin gegen die Abweisung ihres Antrags auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes aus übergegangenem Recht ihres verstorbenen Ehemannes nebst Zinsen zurückgewiesen worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Rz. 1
Die Klägerin nimmt die Beklagte, soweit in der Revisionsinstanz noch von Interesse, aus übergegangenem Recht ihres verstorbenen Ehemanns (nachfolgend: Patient) auf Zahlung eines Schmerzensgeldes wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung in Anspruch.
Rz. 2
Der am 29. Dezember 1936 geborene Patient wurde am 1. November 2008 nach Aspiration von Nahrung notfallmäßig in das von der Beklagten betriebene Krankenhaus eingeliefert. Der Patient wurde im Krankenhaus aufgenommen und es wurde ihm Blut abgenommen. Um 15.07 Uhr wurde eine Röntgenaufnahme des Thorax durchgeführt, die darauf hindeutete, dass etwas mit dem Herzen nicht in Ordnung war. Um 15.33 Uhr wurde ein EKG aufgezeichnet, das ST-Streckensenkungen zeigte, die einen Herzinfarkt sehr nahelegten. Das EKG wurde zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt ausgewertet; der auswertende Arzt dokumentierte ein "pathologisches" Ergebnis und vermerkte "Posteriorinfarkt möglich" sowie differentialdiagnostisch "Vorderwandischämie". Um 15.37 Uhr lagen die Laborwerte vor; diese zeigten einen deutlich erhöhten Troponin-Wert. Der Patient wurde auf die Normalstation verlegt, wo es gegen 16.30 Uhr zu einer kardialen Dekompression und zum Kammerflimmern mit anschließendem Herzstillstand kam. Nach der Reanimation des Patienten wurde um 18.13 Uhr eine Herzkatheter-Untersuchung begonnen, im Rahmen derer der Patient mit zwei Stents versorgt wurde. Er verstarb am nächsten Morgen gegen 7.30 Uhr nach einem erneuten Herzstillstand.
Rz. 3
Mit der Klage hat die Klägerin, soweit in der Revisionsinstanz noch von Interesse, die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes in einer Größenordnung von 30.000 € aus übergegangenem Recht ihres verstorbenen Ehemannes begehrt. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht die Beklagte verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 2.000 € zu zahlen. Die weitergehende Berufung hat es zurückgewiesen. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihren Antrag auf Zahlung eines darüber hinausgehenden angemessenen Schmerzensgeldes weiter.
Entscheidungsgründe
I.
Rz. 4
Das Berufungsgericht hat es als behandlungsfehlerhaft angesehen, dass der Patient nicht spätestens nach Ablauf von 10 Minuten nach dem am Aufnahmetag um 15.33 Uhr aufgezeichneten EKG, zumindest aber nach Ablauf von 10 Minuten nach dem um 15.37 Uhr vorliegenden Laborergebnis unverzüglich auf den nächsten freien Katheterplatz verbracht worden sei. Sowohl das erstellte EKG als auch die Auswertung des abgenommenen Bluts durch das Labor hätten innerhalb eines Zeitraums von 10 Minuten befundet werden müssen. Werde ein EKG für indiziert gehalten und geschrieben, müsse die Aufzeichnung, auch wenn die klinische Symptomatik primär keinen Herzinfarkt nahegelegt habe, vom Arzt in einem sinnvollen Zeitraum - lege artis nach 10 Minuten - befundet werden. Aus dem EKG habe sich der hochgradige Verdacht auf einen Herzinfarkt ergeben. Dementsprechend habe der das EKG auswertende Arzt ein "pathologisches" Ergebnis dokumentiert und dort unter "Bemerkungen" niedergelegt: "Posteriorinfarkt möglich" und differentialdiagnostisch "Vorderwandischämie". Betrachte man die EKG- und die Laborwerte zusammen, so handle es sich per definitionem um einen Herzinfarkt; bei solcher Diagnose müsse der Patient sofort auf den nächsten freien Katheterplatz verbracht werden. Entgegen dem ärztlichen Standard sei die Katheter-Untersuchung nicht spätestens gegen 16.00 Uhr, sondern erst um 18.13 Uhr begonnen worden. In der Person des Patienten liegende oder sonstige die Verzögerung rechtfertigende Gründe seien weder vorgetragen noch ließen sie sich feststellen.
Rz. 5
Der Behandlungsfehler habe zu dem um 16.30 Uhr aufgetretenen Kammerflimmern und schließlich zum Tod des Patienten geführt. Die spätestens um 15.43 Uhr (EKG) bzw. 15.47 Uhr (Labor) ärztlich auszuwertenden Ergebnisse "haben", wenn sie überhaupt rechtzeitig ausgewertet worden seien, - oder "hätten", wenn sie nicht rechtzeitig ausgewertet worden seien, - ein Ergebnis erbracht, das zu einer weiteren Maßnahme, nämlich zum schnellstmöglichen Kathetern, Anlass gegeben habe oder gegeben hätte.
Rz. 6
Die danach gebotene unverzügliche weitere Befunderhebung in Form der Herzkatheter-Untersuchung hätte eine koronare Dreigefäßerkrankung, insbesondere eine hochgradige ostiumnahe RCA-Stenose ergeben, auf die sofort während der Herzkatheter-Untersuchung hätte reagiert werden müssen. Das Unterlassen einer solchen Reaktion wäre angesichts des lebensbedrohlichen Befunds grob fehlerhaft gewesen. Dies werde bestätigt durch die weitere Äußerung des Sachverständigen, dass es, wenn ein Katheterplatz frei sei und Fachärzte zur Verfügung ständen, nicht verständlich (nach Ampelfarben im roten Bereich) sei, wenn ein Patient mit der hier zu stellenden Diagnose nicht sofort auf den Katheterplatz komme. Auf die hier vorliegenden bzw. zu erwartenden EKG- und Laborbefunde hätte zwingend reagiert werden müssen; eine fehlende Reaktion sei bzw. wäre grob fehlerhaft gewesen. Der Behandlungsfehler sei auch grundsätzlich geeignet gewesen, den am nächsten Morgen eingetretenen Tod des Patienten herbeizuführen. Das Kammerflimmern wäre wahrscheinlich vermieden worden; es hätte jedenfalls besser behandelt werden können und die Überlebenschance des Patienten verbessert, wenn er bereits gegen 16.00 Uhr auf dem Katheterplatz gewesen wäre.
Rz. 7
Unter Berücksichtigung der Vorerkrankungen und der sich aus der Behandlungsdokumentation ergebenden Umstände sei ein Schmerzensgeld in Höhe von 2.000 € angemessen und ausreichend. Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes sei zu berücksichtigen gewesen, dass sich einerseits der Zustand des durch die vorangegangene Aspirationspneumonie und den bereits im Gange befindlichen Herzinfarkt geschwächten Patienten durch das vermeidbare Kammerflimmern weiter verschlechtert habe, andererseits der Patient bereits am Folgetag gegen 7.30 Uhr verstorben sei. Es sei davon auszugehen, dass der Patient die Verschlechterung seines Zustands und den damit verbundenen Geschehensablauf teilweise miterlebt habe. Allerdings seien schmerzensgeldrelevante Umstände, die unter Berücksichtigung der intensivmedizinischen und operativen Versorgung ein höheres Schmerzensgeld als 2.000 € rechtfertigten, nicht hervorgetreten. Das Maß des den behandelnden Ärzten vorzuwerfenden Verschuldens stehe bei der Abwägung zur Höhe des Schmerzensgeldes regelmäßig nicht im Vordergrund, so dass allein ein grober Fehler noch nicht schmerzensgelderhöhend sei. Maßgeblich bei der Bemessung des Schmerzensgeldes in Arzthaftungssachen sei nicht die Genugtuungs-, sondern die Ausgleichsfunktion des Schmerzensgeldes, weil bei einem - auch fehlerhaft handelnden - Arzt regelmäßig das Bestreben im Vordergrund stehe, dem Patienten zu helfen, und nicht, diesem Schaden zuzufügen. Besonderheiten biete der vorliegende Sachverhalt insoweit nicht.
II.
Rz. 8
Diese Erwägungen halten der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.
Rz. 9
1. Aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden und von der Revision als ihr günstig nicht angegriffen ist allerdings der Ausgangspunkt des Berufungsgerichts, wonach der Klägerin aus übergegangenem Recht ihres verstorbenen Ehemanns ein Anspruch auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes aus § 280 Abs. 1 Satz 1, § 253 Abs. 2 BGB wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung gegen die Beklagte zusteht, weil die dringend gebotene Herzkatheter-Untersuchung nicht spätestens gegen 16.00 Uhr, sondern erst um 18.13 Uhr begonnen wurde mit der Folge, dass es um 16.30 Uhr zum Kammerflimmern und am Folgetag zum Tod des Patienten kam.
Rz. 10
2. Die Revision rügt aber mit Erfolg, dass die Bemessung der Höhe des Schmerzensgeldes von Rechtsfehlern beeinflusst ist. Sie beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht dem Gesichtspunkt der Genugtuung hierbei keine Bedeutung beigemessen hat und deshalb der Behauptung der Klägerin im nachgelassenen Schriftsatz nicht nachgegangen ist, das Unterlassen unverzüglichen Katheterns nach Vorliegen der EKG- (15.33 Uhr) und Laborergebnisse (15.37 Uhr) sei ein grober Behandlungsfehler und eine "grob fahrlässige Nichtreaktion" der behandelnden Ärzte.
Rz. 11
a) Gemäß § 253 Abs. 2 BGB kann, wenn wegen einer Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung Schadensersatz zu leisten ist, auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld gefordert werden (Schmerzensgeld). Das Schmerzensgeld hat nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung rechtlich eine doppelte Funktion. Es soll dem Geschädigten einen angemessenen Ausgleich bieten für diejenigen Schäden, die nicht vermögensrechtlicher Art sind (Ausgleichsfunktion). Es soll aber zugleich dem Gedanken Rechnung tragen, dass der Schädiger dem Geschädigten für das, was er ihm angetan hat, Genugtuung schuldet (Genugtuungsfunktion, st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 16. September 2016 - VGS 1/16, BGHZ 212, 48, Rn. 48; vom 6. Juli 1955 - GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, juris Rn. 14, jeweils mwN).
Rz. 12
Dabei steht zwar regelmäßig der Ausgleichsgedanke im Vordergrund. Im Hinblick auf diese Zweckbestimmung des Schmerzensgeldes bildet die Rücksicht auf Größe, Heftigkeit und Dauer der Schmerzen, Leiden und Entstellungen die wesentliche Grundlage bei der Bemessung der billigen Entschädigung (BGH, Beschlüsse vom 16. September 2016 - VGS 1/16, BGHZ 212, 48, Rn. 49, 54; vom 6. Juli 1955 - GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, juris Rn. 15, 19). Da das Gesetz jedoch eine billige Entschädigung fordert, kann der Ausgleichszweck nicht allein maßgebend für das Ausmaß der Leistung sein. Das alleinige Abstellen auf den Ausgleichsgedanken ist unmöglich, weil sich immaterielle Schäden nicht und Ausgleichsmöglichkeiten nur beschränkt in Geld ausdrücken lassen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. September 2016 - VGS 1/16, BGHZ 212, 48, Rn. 46 f., 60; vom 6. Juli 1955 - GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, juris Rn. 15, 17; Senatsurteil vom 29. November 1994 - VI ZR 93/94, BGHZ 128, 117, juris Rn. 14). Die Genugtuungsfunktion bringt eine durch den Schadensfall hervorgerufene persönliche Beziehung zwischen Schädiger und Geschädigtem zum Ausdruck, die es aus der Natur der Sache heraus gebietet, alle Umstände des Falles in den Blick zu nehmen und, sofern sie dem einzelnen Schadensfall sein besonderes Gepräge geben, bei der Bestimmung der Leistung zu berücksichtigen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. September 2016 - VGS 1/16, BGHZ 212, 48, Rn. 49, 51, 55, 70; vom 6. Juli 1955 - GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, juris Rn. 19; Senatsurteil vom 29. November 1994 - VI ZR 93/94, BGHZ 128, 117, juris Rn. 14). Zu diesen Umständen gehört auch der Grad des Verschuldens des Schädigers (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. September 2016 - VGS 1/16, BGHZ 212, 48 Rn. 51, 55; vom 6. Juli 1955 - GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, Rn. 16, 20; Senatsurteile vom 16. Februar 1993 - VI ZR 29/92, VersR 1993, 585 Ls. und juris Rn. 13; vom 12. Juli 2005 - VI ZR 83/04, VersR 2005, 1559, juris Rn. 41, insoweit in BGHZ 163, 351 nicht abgedruckt; vom 10. Februar 2015 - VI ZR 8/14, VersR 2015, 590 Rn. 8).
Rz. 13
b) Mit diesen Grundsätzen ist die Auffassung des Berufungsgerichts, bei der Bemessung des Schmerzensgeldes in Arzthaftungssachen komme dem Gesichtspunkt der Genugtuung grundsätzlich keine Bedeutung zu, nicht zu vereinbaren. Auch wenn bei der ärztlichen Behandlung das Bestreben der Behandlungsseite im Vordergrund steht, dem Patienten zu helfen und ihn von seinen Beschwerden zu befreien, stellt es unter dem Blickpunkt der Billigkeit einen wesentlichen Unterschied dar, ob dem Arzt grobes - möglicherweise die Grenze zum bedingten Vorsatz berührendes - Verschulden zur Last fällt oder ob ihn nur ein geringfügiger Schuldvorwurf trifft (vgl. G. Müller, VersR 1993, 909, 915). So kann ein dem Arzt aufgrund grober Fahrlässigkeit unterlaufener Behandlungsfehler dem Schadensfall sein besonderes Gepräge geben (vgl. OLG Oldenburg, GesR 2018, 790, juris Rn. 30; OLG Köln, VersR 2003, 860, juris Rn. 15; dasselbe, VersR 2013, 113, juris Rn. 40; OLG Naumburg, VersR 2002, 1295, juris Rn. 127; dasselbe, VersR 2008, 415, juris Rn. 4; OLG Koblenz VersR 1989, 629, juris Rn. 34; OLG Saarbrücken NJW 1975, 1467, 1468; MünchKommBGB/Oetker, 8. Auflage, § 253 Rn. 48; jurisPK-BGB/Vieweg/Lorz, § 253 Rn. 82 [Stand: 1. Juni 2021]; Soergel-Ekkenga/Kuntz, BGB 13. Aufl., § 253 Rn. 20; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, 7. Aufl., Rn. 311, 374; aA OLG Bremen, VersR 2003, 779, juris Rn. 4, 7; Grüneberg/ders., 81. Aufl., § 253 Rn. 4 und NK-BGB/Huber, 4. Aufl., § 253 Rn. 27).
Rz. 14
c) Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass grobe Fahrlässigkeit nicht bereits dann zu bejahen ist, wenn dem Arzt ein grober Behandlungsfehler unterlaufen ist. Ein grober Behandlungsfehler ist weder mit grober Fahrlässigkeit gleichzusetzen noch kommt ihm insoweit eine Indizwirkung zu (vgl. auch G. Müller, VersR 1993, 909, 915).
Rz. 15
aa) Grobe Fahrlässigkeit setzt einen objektiv schweren und subjektiv nicht entschuldbaren Verstoß gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt voraus. Diese Sorgfalt muss in ungewöhnlich hohem Maße verletzt und es muss dasjenige unbeachtet geblieben sein, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Ein objektiv grober Pflichtenverstoß rechtfertigt für sich allein noch nicht den Schluss auf ein entsprechend gesteigertes persönliches Verschulden. Vielmehr ist ein solcher Vorwurf nur dann gerechtfertigt, wenn eine auch subjektiv schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung vorliegt, die das in § 276 Abs. 2 BGB bestimmte Maß erheblich überschreitet (st. Rspr.; vgl. Senatsurteile vom 26. Juli 2016 - VI ZR 322/15, VersR 2016, 1464 Rn. 19; vom 10. Februar 2009 - VI ZR 28/08, VersR 2009, 558 Rn. 34). Damit sind auch Umstände zu berücksichtigen, die die subjektive, personale Seite der Verantwortlichkeit betreffen, und konkrete Feststellungen nicht nur zur objektiven Schwere der Pflichtwidrigkeit, sondern auch zur subjektiven Seite zu treffen (vgl. Senatsurteile vom 26. Juli 2016 - VI ZR 322/15, VersR 2016, 1464 Rn. 19; vom 10. Mai 2011 - VI ZR 196/10, VersR 2011, 916 Rn. 10; G. Müller, VersR 1993, 909, 915).
Rz. 16
bb) Demgegenüber kommt es für die Frage, ob ein grober Behandlungsfehler vorliegt, der zu einer Umkehr der Beweislast hinsichtlich der Ursächlichkeit dieses Fehlers für den eingetretenen Gesundheitsschaden führen kann, auf den Grad subjektiver Vorwerfbarkeit gegenüber dem Arzt nicht an. Entscheidend ist vielmehr, ob dem Arzt ein Fehler unterlaufen ist, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf. Maßgeblich ist damit nur, ob das ärztliche Verhalten eindeutig gegen gesicherte und bewährte medizinische Erkenntnisse und Erfahrungen verstieß (vgl. Senatsurteile vom 27. April 2004 - VI ZR 34/03, BGHZ 159, 48, juris Rn. 11; vom 26. November 1991 - VI ZR 389/90, VersR 1992, 238, juris Rn. 20; vom 20. September 2011 - VI ZR 55/09, VersR 2011, 1569, Rn. 10, 12). Denn die Annahme einer Beweislastumkehr nach einem groben Behandlungsfehler ist keine Sanktion für ein besonders schweres Arztverschulden. Sie hat ihren Grund vielmehr darin, dass das Spektrum der für den Misserfolg der ärztlichen Behandlung in Betracht kommenden Ursachen gerade wegen des Gewichts des Behandlungsfehlers und seiner Bedeutung für die Behandlung in besonderem Maße verbreitert und die Aufklärung des Behandlungsgeschehens deshalb in besonderer Weise erschwert worden ist, so dass der Arzt dem Patienten den Kausalitätsbeweis nach Treu und Glauben nicht zumuten kann (vgl. Senatsurteile vom 27. März 2007 - VI ZR 55/05, BGHZ 172, 1 Rn. 25; vom 20. September 2011 - VI ZR 55/09, VersR 2011, 1569, juris Rn. 12; vom 19. Juni 2012 - VI ZR 77/11, VersR 2012, 1176 Rn. 13; Senatsbeschluss vom 13. Oktober 2020 - VI ZR 348/20, MedR 2021, 647 Rn. 16).
Rz. 17
d) Der Rechtsfehler ist auch entscheidungserheblich.
Rz. 18
aa) Das Berufungsgericht hat einen groben Befunderhebungsfehler der behandelnden Ärzte bei der Bemessung des Schmerzensgeldes auf Seite 8 seines Urteils jedenfalls unterstellt. Dies ist ersichtlich seinen Ausführungen auf Seite 7 geschuldet, wo es die Notwendigkeit einer schnellstmöglichen Reaktion auf die um 15.33 Uhr und 15.37 Uhr vorliegenden und innerhalb von 10 Minuten auszuwertenden EKG- und Laborergebnisse dargestellt und sich die Ausführungen des Sachverständigen zu eigen gemacht hat, es sei, wenn ein Katheterplatz frei sei und Fachärzte zur Verfügung ständen, nicht verständlich, wenn ein Patient mit der hier zu stellenden Diagnose nicht sofort auf den Katheterplatz komme; auf EKG- und Laborbefunde, wie sie hier vorgelegen hätten bzw. zu erwarten gewesen seien, habe zwingend reagiert werden müssen; eine fehlende Reaktion sei als grob fehlerhaft zu bewerten.
Rz. 19
Zur subjektiven Vorwerfbarkeit des von ihm jedenfalls unterstellten groben Behandlungsfehlers hat das Berufungsgericht - aus seiner Sicht konsequent - keine Feststellungen getroffen. Es ist nicht auszuschließen, dass die mehr als zweistündige Verzögerung der unverzüglich durchzuführenden Herzkatheter-Untersuchung auf einer subjektiv schlechthin unentschuldbaren Pflichtverletzung der behandelnden Ärzte beruht, zumal nach den getroffenen Feststellungen ein in der Person des Patienten liegender oder sonstiger rechtfertigender Grund für die Verzögerung nicht festzustellen war.
Rz. 20
bb) Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung ist die Entscheidungserheblichkeit des dem Berufungsgericht unterlaufenen Rechtsfehlers nicht deshalb zu verneinen, weil der Patient am Folgetag verstorben ist.
Rz. 21
(1) Es fehlt nicht bereits an dem für die Zuerkennung eines Schmerzensgeldanspruchs erforderlichen immateriellen Schaden. Die Revisionserwiderung verweist zwar zu Recht darauf, dass die Vorschrift des § 253 Abs. 2 BGB nach der grundsätzlichen Wertung des Gesetzgebers weder für den Tod noch für die Verkürzung der Lebenserwartung eine Entschädigung in Geld vorsieht (vgl. Senatsurteil vom 12. Mai 1998 - VI ZR 182/97, BGHZ 138, 388, juris Rn. 19; Senatsbeschluss vom 18. Juni 2015 - VI ZR 430/13, juris Rn. 3). Hierauf hat das Berufungsgericht aber auch nicht abgestellt. Es hat vielmehr zu Recht die beim Patienten infolge des groben Behandlungsfehlers eingetretenen gesundheitlichen Folgen als eine von dem nachfolgenden Tod abgrenzbare immaterielle Beeinträchtigung angesehen, die einen Ausgleich in Geld nach Billigkeitsgrundsätzen erforderlich macht (vgl. Senatsurteil vom 12. Mai 1998 - VI ZR 182/97, BGHZ 138, 388, juris Rn. 19; Senatsbeschluss vom 18. Juni 2015 - VI ZR 430/13, juris Rn. 3). Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat der Patient die Verschlechterung seines Zustands und den damit verbundenen Geschehensablauf - mithin auch die um 16.30 Uhr eingetretene kardiale Dekompression, das Kammerflimmern mit anschließendem Herzstillstand und die erfolgreiche Reanimation - teilweise miterlebt. Auf der Grundlage dieser Feststellungen kann keine Rede davon sein, dass der Tod des Patienten nach den konkreten Umständen des Streitfalls derart im Vordergrund stände, dass eine immaterielle Beeinträchtigung durch die behandlungsfehlerbedingt eingetretene gesundheitliche Befindlichkeit als solche nicht fassbar wäre (vgl. Senatsurteil vom 12. Mai 1998 - VI ZR 182/97, BGHZ 138, 388, juris Rn. 14, 19).
Rz. 22
(2) Ohne Erfolg macht die Revisionserwiderung auch geltend, der Grad des Verschuldens des Schädigers dürfe im Falle des Versterbens des Geschädigten deshalb nicht in die Bemessung des Schmerzensgeldes einfließen, weil bei ihm ein Empfinden der Genugtuung nicht vorhanden sei. Soweit sich die Revisionserwiderung in diesem Zusammenhang auf das Senatsurteil vom 13. Oktober 1992 (VI ZR 201/91, VersR 1993, 327 juris Rn. 34, insoweit in BGHZ 120, 1 nicht abgedruckt; vgl. auch OLG Frankfurt, Urteil vom 31. Januar 2017 - 8 U 155/16, juris Rn. 39) beruft, übersieht sie, dass diese Entscheidung die besondere Fallgruppe der Zerstörung der Persönlichkeit des Verletzten durch Fortfall oder Vorenthalten der Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit betrifft, die einer eigenständigen Bewertung zugeführt werden muss (BGH, Beschluss vom 16. September 2016 - VGS 1/16, BGHZ 212, 48, Rn. 51; Senatsurteil vom 13. Oktober 1992 - VI ZR 201/91, BGHZ 120, 1, juris Rn. 31). Um eine derartige Fallgestaltung handelt es sich hier aber nicht. Wie bereits ausgeführt hat der Patient die Auswirkungen des Behandlungsfehlers auf seinen Gesundheitszustand und den damit verbundenen Geschehensablauf teilweise miterlebt, weshalb ein etwaiges schweres Verschulden der ihn behandelnden Ärzte nicht von vornherein als unerheblich angesehen werden kann (vgl. auch Senatsurteil vom 12. Mai 1998 - VI ZR 182/97, BGHZ 138, 388, juris Rn. 19 f.).
Rz. 23
Abgesehen davon hat der Senat bereits in seinem Urteil vom 16. Februar 1993 (VI ZR 29/92, VersR 1993, 585, Ls. und juris Rn. 13) an seiner von der Revisionserwiderung herangezogenen Aussage, in der besonderen Fallgruppe der Zerstörung der Persönlichkeit des Verletzten bestehe keine Notwendigkeit zu einer Erörterung der Frage, ob der Behandlungsfehler des auf Zahlung eines Schmerzensgeldes in Anspruch genommenen Arztes als grob zu bewerten sei, nicht festgehalten. Er hat vielmehr ausgeführt, dass der Richter auch in diesen Fällen bei der Schmerzensgeldbemessung den Grad des Verschuldens des Schädigers berücksichtigen könne (Senatsurteil vom 16. Februar 1993 - VI ZR 29/92, VersR 1993, 585 Ls. und juris Rn. 13). Dem sind die Vereinigten Großen Senate des Bundesgerichtshofs in ihrem Beschluss vom 16. September 2016 (VGS 1/16, BGHZ 212, 48 Rn. 51) gefolgt.
Rz. 24
(3) Soweit die Revisionserwiderung der Genugtuungsfunktion schließlich unter Hinweis auf das Senatsurteil vom 23. Mai 2017 (VI ZR 261/16, BGHZ 215, 117 Rn. 18) die Bedeutung absprechen möchte, übersieht sie, dass dieses Urteil nicht den Schmerzensgeldanspruch, sondern den auf den Schutzauftrag aus Artikel 1 und 2 Abs. 1 GG zurückgehenden Anspruch auf Zahlung einer Geldentschädigung wegen Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts betrifft (vgl. auch Senatsurteil vom 29. November 2021 - VI ZR 258/18, juris Rn. 10 zVb in BGHZ), der in Voraussetzungen und Rechtsfolgen eigenen Regeln folgt (vgl. Senatsurteil vom 23. Mai 2017 - VI ZR 261/16, BGHZ 215, 117 Rn. 14).
III.
Rz. 25
Das Berufungsurteil war deshalb aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, damit es die erforderlichen Feststellungen treffen kann (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
Seiters |
|
von Pentz |
|
Oehler |
|
Klein |
|
Böhm |
|
Fundstellen