Entscheidungsstichwort (Thema)
Totschlag
Leitsatz (amtlich)
Die vorübergehende Überlastung einer ordentlichen Strafkammer (als Voraussetzung für die Bildung einer Hilfsstrafkammer) ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, bei dessen Anwendung dem Präsidium ein weiter Beurteilungsspielraum zusteht. Ein Verstoß gegen den Grundsatz des gesetzlichen Richters liegt erst dann vor, wenn offen zutage liegt, daß die Überlastung nicht bloß vorübergehend ist, und daher die Entscheidung über die Bildung der Hilfsstrafkammer als objektiv willkürlich erscheint.
Normenkette
GG Art. 101 Abs. 1 S. 2; GVG § 60
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Lübeck vom 15. Februar 1999 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels sowie die den Nebenklägerinnen im Revisionsverfahren erwachsenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Von Rechts wegen
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags in Tateinheit mit Waffendelikten zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt und die Tatwaffe eingezogen, weil er in der Nacht zum 1. Juni 1998 seine Ehefrau in der ehelichen Wohnung nach einem Streit erschossen hatte. Mit seiner wirksam auf die Anfechtung des Strafausspruchs beschränkten Revision (vgl. BGHSt 38, 4; BGHR StPO § 344 I Beschränkung 9) beanstandet er das Verfahren und rügt die Verletzung sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.
Es ist zweifelhaft, ob die Rüge eines Verstoßes gegen §§ 261, 252, 52 StPO zulässig erhoben ist. Sie ist jedenfalls unbegründet. Das Landgericht durfte, nachdem die Töchter des Angeklagten in der Hauptverhandlung von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO Gebrauch gemacht hatten, den Ermittlungsrichter zeugenschaftlich über die von den Töchtern vor ihm gemachten Aussagen vernehmen (BGHSt 36, 384, 385 m.w.Nachw.). Als Vernehmungsbehelf durften dem Ermittlungsrichter seine Vernehmungsprotokolle – notfalls durch Vorlesen – vorgehalten werden (st. Rspr., BGH StV 1994, 413). Gleiches gilt für die jeweils im richterlichen Vernehmungsprotokoll in Bezug genommenen Protokolle über die vorangegangenen polizeilichen Vernehmungen. Auf den Inhalt dieser Protokolle hatten die Zeuginnen vielfach Bezug genommen und zu Einzelheiten jeweils daran anknüpfend vor dem Ermittlungsrichter weitere Bekundungen gemacht.
Näherer Erörterung bedarf die Verfahrensrüge, mit der der Angeklagte geltend macht, seinem gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, § 16 Satz 2 GVG) entzogen worden zu sein. Im übrigen ist die Revision unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
Die Besetzungsrüge ist im wesentlichen auf folgendes gestützt:
Mit Beschluß vom 22. Dezember 1998 richtete das Präsidium des Landgerichts Lübeck wegen Überlastung der Strafkammer I – Schwurgericht – durch die Strafsachen gegen Dres. M. und gegen B. mit Wirkung vom 23. Dezember 1998 die mit einem Vorsitzenden Richter und zwei beisitzenden Richtern besetzte Hilfsstrafkammer X – Hilfsschwurgericht – ein. Dem neuen Spruchkörper wies es alle bei der Strafkammer I anhängigen Verfahren mit Ausnahme der Strafsachen zu, in denen der Name des oder der Angeklagten mit den Buchstaben B, M und S beginnt, und bestimmte, daß es im übrigen bei der Zuständigkeit der Strafkammer I verbleibe, ebenso hinsichtlich zurückverwiesener Strafsachen und derer, in denen die Hauptverhandlung bereits begonnen hat. Die Tätigkeit der Hilfsstrafkammer sollte grundsätzlich mit dem Ende der Hauptverhandlung in den ihr übertragenen Strafsachen abgeschlossen sein. Ebenfalls am 22. Dezember 1998 faßte das Präsidium des Landgerichts Lübeck Beschluß über den Geschäftsverteilungsplan für das Jahr 1999. Danach ist die Strafkammer I – wie bereits in den vorausgegangenen Geschäftsjahren – zuständig für die Schwurgerichtssachen, außerdem für Beschwerden in Strafsachen sowie für Sicherungsverfahren im Sinne des § 413 StPO einschließlich insoweit anfallender Beschwerden, soweit nicht die Zuständigkeit der Jugendkammer gegeben ist. Sie ist – wie übrigens alle Kammern des Landgerichts Lübeck – mit einem Vorsitzenden Richter und zwei beisitzenden Richtern besetzt, die mit der Hälfte ihrer Arbeitskraft zugleich der Strafvollstreckungskammer V angehören. Die vom Präsidium am Tag der Beschlußfassung über die Geschäftsverteilung 1999 angeordnete Einrichtung der Hilfsstrafkammer X – Hilfsschwurgericht – wird im Geschäftsverteilungsplan aufrechterhalten.
Der Angeklagte, dessen Strafverfahren zu den auf das Hilfsschwurgericht übertragenen Sachen gehört, hält die Bildung einer Hilfsstrafkammer zeitgleich mit der Beschlußfassung über die Geschäftsverteilung für das unmittelbar folgende Geschäftsjahr für unzulässig. Er macht darüber hinaus geltend, daß die Strafkammer I nicht, wie dies für die Schaffung einer Hilfsstrafkammer vorausgesetzt werden müsste, lediglich vorübergehend überlastet gewesen sei, sondern daß wegen des Großverfahrens gegen Dres. M., aber auch allein schon aufgrund der anderen anhängigen Strafsachen eine dauernde Überlastung vorgelegen habe, der durch die Verteilung der Schwurgerichtssachen auf eine oder mehrere ordentliche (institutionelle) Strafkammern, nicht aber durch die Bildung einer Hilfsstrafkammer hätte abgeholfen werden dürfen. In der Vorgehensweise des Präsidiums sieht der Beschwerdeführer einen Verstoß gegen das die Geschäftsverteilung bestimmende Stetigkeitsprinzip sowie – wegen der Belastung der Richter der Strafkammer I mit Strafvollstreckungssachen – gegen die Konzentrationsmaxime für Schwurgerichtssachen.
In seinen vom Senat erbetenen Stellungnahmen vom 17. November 1999 und 6. Dezember 1999 hat der Präsident des Landgerichts Lübeck mitgeteilt, daß die Strafkammer I durch die Bildung einer weiteren Hilfsschwurgerichtskammer zum 1. Juli 1999 und durch die Entlastung des Kammervorsitzenden und eines Beisitzers von Aufgaben der Strafvollstreckungskammer zum 1. Juli bzw. 16. August 1999 nochmals entlastet wurde, daß sich aber bereits Ende September 1999 abzeichnete, daß die Überlastung der Strafkammer I gegen Ende des Jahres beendet sein würde. Die Hauptverhandlung in dem Strafverfahren gegen Dres. M. hat Anfang November 1999 begonnen und stand Anfang Dezember 1999 kurz vor dem Abschluß.
1. Durchgreifende Bedenken gegen die Zulässigkeit der Rüge nach § 338 Nr. 1 b StPO bestehen nicht. Der Beschwerdeführer hat den Besetzungseinwand in der Hauptverhandlung rechtzeitig in der vorgeschriebenen Form (§ 222 b Abs. 1 StPO) erhoben (vgl. BGHSt 44, 161, 162/163) und hat dies in der Revisionsbegründung unter Mitteilung des den Besetzungseinwand zurückweisenden Gerichtsbeschlusses ausreichend dargelegt (vgl. zu den Anforderungen BGHR StPO § 344 II 2 Besetzungsrüge 2). Insbesondere ergibt sich aus dem Revisionsvorbringen, daß der Besetzungseinwand noch vor der Verlesung des Anklagesatzes und damit vor der Vernehmung des Angeklagten zur Sache geltend gemacht worden ist.
2. Die Verfahrensbeschwerde dringt jedoch in der Sache nicht durch.
Auf der Grundlage des mit dem Besetzungseinwand in der Hauptverhandlung unterbreiteten und die revisionsrechtliche Beurteilung zugleich begrenzenden Sachverhalts begegnen die Einrichtung der Hilfsstrafkammer X – Hilfsschwurgericht – des Landgerichts Lübeck und die Regelung ihrer Zuständigkeit keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
a) Grundsätzlich unterliegt die Gesetzmäßigkeit der Aufstellung und Abänderung der Geschäftsverteilung der Nachprüfung des Revisionsgerichts (BGHSt 3, 353, 355). Dieser Nachprüfung sind jedoch Grenzen gesetzt, die aus der eigenverantwortlichen Stellung des Präsidiums als Gremium verwaltungsunabhängiger Selbstorganisation der Gerichte und aus der Besonderheit der ihm übertragenen Aufgaben folgen. Der Beurteilung durch das Präsidium muß wegen der Notwendigkeit flexibler, an die konkrete Situation angepaßter und auf wesentliche Veränderungen zeitnah reagierender Entscheidungen schon deshalb ein gewisser Vorrang zukommen, weil es mit den persönlichen und sachlichen Gegebenheiten im Gericht sowie mit den örtlichen Verhältnissen im Gerichtsbezirk, insbesondere was den Anfall von Strafverfahren und anderen Rechtssachen angeht, aufgrund längerer Erfahrung besonders vertraut ist und damit über Entscheidungsgrundlagen verfügt, die dem sachverhaltsferneren Revisionsgericht durch dienstliche Äußerungen und andere Mittel des Freibeweises nur unvollkommen vermittelt werden können. Hinzu kommt, daß die Entscheidungen über die Geschäftsverteilung wesentlich von der Bewertung zukünftiger Entwicklungen insbesondere im Geschäftsanfall bestimmt sind und solche vorausschauenden Beurteilungen ihrer Natur nach eine ins einzelne gehende Richtigkeitskontrolle nicht zulassen. Aus diesen Gründen ist die Regelung der Geschäftsverteilung, soweit es an bindenden rechtlichen Regeln fehlt, dem pflichtgemäßen Ermessen des Präsidiums überlassen. Im Bereich rechtlicher Einzelnormierung muß den dargelegten Besonderheiten dadurch Rechnung getragen werden, daß dem Präsidium bei der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe ein weiter Beurteilungsspielraum zugebilligt wird. Um einen solchen unbestimmten Rechtsbegriff handelt es sich bei der Voraussetzung vorübergehender Überlastung der ordentlichen (institutionellen) Strafkammer, von der die im Gesetz nicht ausdrücklich vorgesehene, aber nach allgemeiner Meinung in der Rechtsprechung (auch im Bereich der Spezialspruchkörper wie dem Schwurgericht) zulässige Einrichtung einer Hilfsstrafkammer abhängt (vgl. u.a. BGHSt 41, 175, 178; 33, 303, 304; 31, 389, 390/391; 10, 179, 181, jew. m.w.Nachw.). Der weite Berurteilungsspielraum, der dem Präsidium insoweit zugebilligt werden muß, bezieht sich nicht nur auf die Feststellung der – hier unstreitigen – Überlastung der ordentlichen Strafkammer, sondern auch auf die wesentlich von einer Prognose beeinflußte Beurteilung, ob die Überlastung von Dauer ist, mithin eine Verteilung der zur Überlast führenden Geschäfte auf andere ordentliche Kammern verlangt, oder ob sie lediglich vorübergehender Natur ist, so daß ihr mit der Bildung einer Hilfsstrafkammer abgeholfen werden darf. Dahinstehen kann dabei, ob die Zubilligung eines Beurteilungsspielraums dazu zwingt, daß die tatsächlichen Grundlagen einer solchen Änderungsentscheidung des Präsidiums revisionsgerichtlicher Nachprüfung grundsätzlich entzogen werden (vgl. BGH NJW 1956, 111; BGH NJW 1976, 60; Schäfer in Löwe/Rosenberg StPO 23. Aufl. § 21 e GVG Rdn. 42; Hanack in Löwe/Rosenberg StPO 24. Aufl. § 338 Rdn. 22; KMR-Paulus § 338 Rdn. 35). Ein durchgreifender Rechtsmangel ist jedenfalls erst dann begründet, wenn offen zutage liegt, daß die Mehrbelastung von Dauer und nicht bloß vorübergehend ist, und daher die Entscheidung über die Bildung der Hilfsstrafkammer als objektiv willkürlich erscheint (BGHSt 31, 389, 392; vgl. auch BGH bei Holtz MDR 1981, 455; BGH, Urt. vom 9. Mai 1961 – 1 StR 103/60 –, UA S. 5; vom 7. November 1979 – 2 StR 398/79 –, UA S. 6/7 und vom 11. April 1979 – 1 StR 752/77 –, UA S. 7; Kissel GVG 2. Aufl. § 60 Rdn. 13; a.A. Frisch NStZ 1984, 86; zweifelnd Katholnigg JR 1983, 520). Ein solcher Fall ist hier bei Zugrundelegung des mit dem ursprünglichen Besetzungseinwand übereinstimmenden tatsächlichen Revisionsvorbringens – nicht aber auch der damit verbundenen Wertungen – noch nicht festzustellen.
Eine Überlastung der als Schwurgericht zuständigen Strafkammer I ist zwar zweifelsfrei durch die ursprünglich beim Landgericht Kiel anhängige und durch den Senat an das Landgericht Lübeck durch Urteil vom 15. November 1996 – 3 StR 79/96 (BGHSt 42, 301) – verwiesene Strafsache gegen Dres. M. wegen Mordes eingetreten. Der Senat, der aufgrund des vorausgegangenen Revisionsverfahrens mit dem besonderen Umfang und der Schwierigkeit jener Strafsache vertraut ist, teilt jedoch nicht die mit der Revision vertretene Auffassung, es sei offensichtlich, daß allein schon die mit der Strafsache gegen Dres. M. eingetretene Überlastung nicht bloß vorübergehend, sondern von Dauer sei. Vielmehr erscheint die dem Präsidiumsbeschluß über die Bildung der Hilfsstrafkammer X ersichtlich zugrundeliegende Beurteilung, nach der vorgenommenen Entlastung werde die Strafkammer I in der Lage sein, die Strafsache gegen Dres. M. im Geschäftsjahr 1999 abzuschließen, als aus damaliger Sicht noch vertretbar und nicht im Sinne objektiver Willkür als offensichtlich verfehlt. Daß angesichts der verfahrenserleichternden Klärungen und Vorgaben, die sich aufgrund des Revisionsverfahrens in jener Strafsache ergeben haben, nicht die Dauer der früheren Hauptverhandlung vor dem Schwurgericht des Landgerichts Kiel von zwei Jahren als bestimmender Maßstab für die im Dezember 1998 getroffene Beurteilung des voraussichtlichen zeitlichen Aufwands für die Bewältigung der Umfangsache zugrunde gelegt werden durfte, findet seine Bestätigung auch in der aus dem Protokoll der Präsidiumssitzung vom 22. November 1999 ersichtlichen tatsächlichen Entwicklung dieses Verfahrens. Ohnehin ist die Tätigkeit der Hilfsstrafkammer X nicht durch den Abschluß jener Umfangstrafsache, sondern durch die Erledigung der ihr übertragenen Strafsachen (nach Darstellung der Revision: fünf Strafverfahren) begrenzt; daß diese Aufgaben nicht vor Abschluß des Geschäftsjahrs 1999 bewältigt werden könnten, will auch die Revision offensichtlich nicht geltend machen.
Auch bei Berücksichtigung der allgemeinen, unabhängig vom Strafverfahren gegen Dres. M. bestehenden Geschäftslage der Strafkammer I war es, gemessen an dem mit der Revision geltend gemachten Sachverhalt, für den maßgeblichen Zeitpunkt der Einrichtung der Hilfsstrafkammer nicht offensichtlich, daß die Überlastung von Dauer und nicht nur vorübergehend sein werde. Außer dem Verfahren gegen Dres. M. waren nach den zum Inhalt der Revision gemachten Unterlagen bei der (einzigen) Schwurgerichtskammer des Landgerichts Lübeck im Monat März 1998 noch insgesamt neun und im Oktober 1998 sieben Strafsachen anhängig, die nach Umfang und Schwierigkeit vom Vorsitzenden der Schwurgerichtskammer in Schreiben an das Präsidium näher erläutert sind. Auch auf dieser Grundlage ist eine dauerhafte Überlastung, der nicht durch die Bildung einer Hilfsstrafkammer hätte abgeholfen werden dürfen, selbst dann nicht offengelegt, wenn die Geschäftslage der Schwurgerichtskammer dazu in Verhältnis gesetzt wird, daß ihre Richter mit der Hälfte ihrer Arbeitskraft noch der Strafvollstreckungskammer V angehören. Anderes folgt nicht schon daraus, daß nach der mit der Revision mitgeteilten Eingabe eines Verteidigers eine andere im März 1997 und damit etwa zeitgleich mit der Umfangsache gegen Dres. M. bei der Strafkammer I eingegangenen Strafsache wegen vorrangiger Haftsachen noch im April 1998 nicht terminiert war. Gleiches gilt insoweit, als in Berichten des Leitenden Oberstaatsanwalts in Lübeck unterstellt ist, daß die Schwurgerichtskammer zur Bewältigung ihrer Überlastung mit Haftsachen in vermehrtem Umfang zum Mittel der Haftverschonung gegriffen habe, und weiter darauf hingewiesen ist, daß das Oberlandesgericht Schleswig in Haftprüfungsentscheidungen nach § 121 Abs. 1 StPO die Überlastung als „noch” vorübergehend bezeichnet hat. Daraus kann zwar gefolgert werden, daß eine Überlastung der Strafkammer I vorlag, der das Präsidium schon wesentlich früher hätte abhelfen müssen; daraus kann jedoch noch nicht geschlossen werden, daß eine Überlastung gegeben war, die offensichtlich nicht durch die Bildung einer vorübergehend tätigen Hilfsstrafkammer beseitigt werden konnte. Im übrigen hat der Begriff der bloß vorübergehenden (oder kurzfristigen), für die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft nach § 121 Abs. 1 StPO unschädlichen Überlastung des zuständigen Spruchkörpers (vgl. BGHSt 38, 43) eine andere Bedeutung als bei der Frage der Einrichtung einer Hilfsstrafkammer. Daß in früheren Sitzungsprotokollen des Präsidiums noch Anfang Dezember 1998 – offenbar wegen der Aussicht auf Zuweisung zwei weiterer Richter im Januar 1999 – die Erwartung festgehalten ist, daß vom Landgerichtspräsidenten eine weitere Schwurgerichtskammer eingerichtet wird, mag zwar deutlich machen, daß es um einen Grenzfall in der Beurteilung geht, ob die Belastung von Dauer oder nur vorübergehend ist. Die demgegenüber veränderte Beurteilung, die dem Präsidiumsbeschluß vom 22. Dezember 1998 ersichtlich zugrundeliegt, wird dadurch jedoch nicht im Sinne objektiver Willkür offensichtlich unvertretbar.
b) Das Vorgehen des Präsidiums ist auch nicht unter dem Gesichtspunkt der in § 74 Abs. 2 GVG zum Ausdruck kommenden Konzentrationsmaxime in revisionsrechtlich erheblicher Weise fehlerhaft. Nach diesem Grundsatz sind die sogenannten Schwurgerichtssachen (möglichst) beieiner Strafkammer als Schwurgericht zu konzentrieren und sie müssen in den Fällen, in denen dies wegen des großen Anfalls solcher Strafsachen nicht möglich ist, so auf mehrere Schwurgerichtskammern verteilt werden, daß sie den eindeutigen Schwerpunkt in der Zuständigkeit dieser Spruchkörper ausmachen (vgl. BGHSt 27, 349; 34, 379, 380; BGH NJW 1978, 1594). Dahingestellt bleiben kann dabei, ob im Hinblick auf die identische Besetzung der Strafkammer I (Schwurgericht) und der Strafkammer V (Strafvollstreckungskammer) mit je der Hälfte der Arbeitskraft der Richter aus dem Sinn der Konzentrationsmaxime trotz der formalen Trennung in zwei Spruchkörper überhaupt abgeleitet werden kann, daß das Präsidium, bevor es das Hilfsschwurgericht bildete, die im Schwurgericht tätigen Richter von ihren Aufgaben in der Strafvollstreckungskammer hätte freistellen müssen. Darauf kommt es deshalb nicht entscheidend an, weil der durch die Strafsache gegen Dres. M. eingetretenen Überlastung der Strafkammer I durch die Freistellung ihrer Richter von den Aufgaben in der Strafvollstreckungskammer allein nicht wirksam hätte begegnet werden können. Den diesbezüglichen Ausführungen des Präsidenten des Landgerichts liegt erkennbar der Umstand zugrunde, daß angesichts der Unterschiede zwischen Schwurgerichtssachen und Strafvollstreckungssachen (Umfang, Vorbereitungszeit, Erfordernis von sächlichen und sonstigen personellen Mitteln) die Freistellung der Richter von Aufgaben der Strafvollstreckungskammer nicht zu einer gleichwertigen Steigerung der Arbeitskapazität des Schwurgerichts geführt hätte. Es hätte mithin in jedem Fall eine Hilfsstrafkammer gebildet werden müssen. Die Möglichkeit, daß dann weniger Strafsachen auf die Hilfsstrafkammer übertragen worden wären und das vorliegende Verfahren u.U. in der Zuständigkeit der Strafkammer I verblieben wäre, macht die angegriffene Entscheidung des Präsidiums nicht im Sinne objektiver Willkür unvertretbar und ist nicht geeignet, eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter zu begründen.
c) Auch die Art und Weise, wie das Präsidium die Geschäfte zwischen der Strafkammer I und der neu eingerichteten Hilfsstrafkammer X verteilt hat, unterliegt keinen durchgreifenden Bedenken. Die dabei zu beachtenden Grundsätze (vgl. BGHSt 44, 161, 165 ff.; 11, 106, 107 f.; 7, 23, 25; BGHR StPO § 338 Nr. 1 Geschäftsverteilungsplan 2; BGH bei Holtz MDR 1981, 455; BGH NJW 1976, 60) sind eingehalten worden; eine unzulässige Einzelfallzuweisung liegt nicht vor. Die Änderung der bisherigen Geschäftsverteilung darf bereits anhängige Verfahren erfassen und kann darauf beschränkt sein (vgl. BGHSt 44, 161, 168; BGHR StPO § 338 Nr. 1 Geschäftsverteilungsplan 2 m.w.Nachw.). Daß die Änderung erkennbar bestimmte Strafverfahren betraf, hinderte die Anordnung des Präsidiums nicht (vgl. BGH bei Holtz MDR 1981, 455). Entscheidend ist, daß diese Verfahren nach allgemeinen Kriterien der Hilfsstrafkammer X zugewiesen worden sind. Als praktisch unvermeidbare Folge einer zulässig auf bereits anhängige Verfahren bezogenen Änderung der bisherigen Geschäftsverteilung muß es im Interesse einer zügigen und sachgerechten Bewältigung der Geschäfte hingenommen werden, daß die konkreten Auswirkungen einer solchen Regelung auf bestimmte Verfahren für das Präsidium absehbar waren (vgl. BGHSt 44, 161, 168; BGH bei Holtz MDR 1981, 455).
d) Schließlich folgt auch nicht aus dem Zeitpunkt der Bildung der Hilfsstrafkammer X ihre Unzulässigkeit. Eine Änderung der Geschäftsverteilung wegen Überlastung des Spruchkörpers nach § 21 e Abs. 3 GVG ist grundsätzlich zu jedem Zeitpunkt des laufenden Geschäftsjahrs zulässig (vgl. Kissel GVG 2. Aufl. § 60 Rdn. 11). Soweit der Beschwerdeführer geltend macht, die ab 23. Dezember 1998 wirksame Bildung der Hilfsstrafkammer X habe vor Beginn des neuen Geschäftsjahrs 1999 keine praktische Wirkung entfalten können, übersieht er, daß die Entlastung insofern auch in tatsächlicher Hinsicht sofort eintreten konnte, als es Maßnahmen außerhalb der Hauptverhandlung und die vorbereitende Bearbeitung der Strafsachen angeht. Zudem ist es nach Auffassung des Senats ohnehin rechtlich nicht ausgeschlossen, eine Hilfsstrafkammer mit Wirkung vom Beginn eines neuen Geschäftsjahrs an einzurichten (so auch der Sache nach BGHSt 11, 106, 107) und die Bildung des neuen Spruchkörpers mit der Beschlußfassung über die Geschäftsverteilung für das anstehende Geschäftsjahr zu verbinden oder sogar formal zum Inhalt des neuen Geschäftsverteilungsplans zu machen. Die Regelung in § 21 e Abs. 1 Satz 2 GVG, wonach das Präsidium die Geschäftsverteilung vor Beginn des Geschäftsjahresfür dessen Dauer zu treffen hat, bedeutet nicht, daß das Präsidium bei der Beschlußfassung über die Geschäftsverteilung ausnahmslos nur solche Maßnahmen treffen dürfte, von denen zu erwarten ist, daß sie während des ganzen Geschäftsjahrs bestehen bleiben (Schäfer in Löwe/Rosenberg StPO 23. Aufl. § 21 e GVG Rdn. 27). Vielmehr ist diese Vorschrift ebenso wie das aus ihr abgeleitete Stetigkeitsprinzip wegen der sich aus der Praxis ergebenden Sachzwänge, denen sich auch der Gesetzgeber nicht entziehen kann (vgl. etwa Einteilung von Richtern auf Probe oder kraft Auftrags, die gemäß § 70 Abs. 2 GVG für eine kürzere Zeit als das Geschäftsjahr zugewiesen sind, oder von Richtern, die aus anderen Gründen im Laufe des Geschäftsjahrs absehbar ausscheiden werden), dahin zu verstehen, daß zwar grundsätzlich Anordnungen nur für die gesamte Dauer des Geschäftsjahrs getroffen werden dürfen, daß jedoch ausnahmsweise auch solche Regelungen zulässig sind, von denen mit Wahrscheinlichkeit oder Gewißheit vorauszusehen ist, daß sie im Laufe des Geschäftsjahrs geändert werden müssen (Schäfer aaO). Zu den zulässigen Ausnahmen gehört auch die Bildung einer Hilfsstrafkammer (Schäfer in Löwe/Rosenberg StPO 23. Aufl. § 60 Rdn. 8; Kissel GVG 2. Aufl. § 60 Rdn. 11; Schorn/Stanicki, Die Präsidialverfassung der Gerichte aller Rechtswege 2. Aufl. S. 141 für den Fall einer höchstens neun Monate dauernden Überlastung, im übrigen zweifelnd; a.A. Hamm StV 1981, 38, 39). Die gegenteilige Beurteilung würde nur dazu führen, daß die Entscheidung über die Bildung der Hilfsstrafkammer zu Lasten einer zügigen und sachgerechten Erledigung der anfallenden Geschäfte zeitlich verlagert werden müßte. Letzten Endes würde dies auf die Einhaltung einer bloßen Formalie hinauslaufen.
e) Daß die erkennende Hilfsstrafkammer X als – materiell gesehen – Vertretungsspruchkörper der Schwurgerichtskammer mit den für die Sitzung des Schwurgerichts ausgelosten Schöffen besetzt war, entspricht dem Gesetz (vgl. BGHSt 25, 174, 175; 41, 175, 178). Eigenständige, von der Frage der Zulässigkeit der Einrichtung der Hilfsstrafkammer unabhängige Gründe, weshalb die Mitwirkung dieser Schöffen unzulässig gewesen sein soll, werden mit der Revision nicht geltend gemacht.
Unterschriften
Kutzer, Miebach, Winkler, Pfister, von Lienen
Fundstellen
Haufe-Index 556731 |
NJW 2000, 1580 |
NStZ 2000, 219 |
NStZ 2000, 443 |
Nachschlagewerk BGH |
ZAP 2000, 406 |
wistra 2000, 185 |