Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches OLG (Urteil vom 14.07.1994)

LG Lübeck (Urteil vom 10.08.1992)

 

Tenor

Auf die Revision des beklagten Landes wird das Urteil des 11. Zivilsenats des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in Schleswig vom 14. Juli 1994 aufgehoben, soweit zum Nachteil des beklagten Landes entschieden worden ist.

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil der 10. Zivilkammer des Landgerichts Lübeck vom 10. August 1992 wird in vollem Umfang zurückgewiesen.

Die Klägerin hat die Kosten der Rechtsmittelzüge zu tragen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Die Klägerin, Verwaltungsangestellte des Finanzamts Lübeck, begehrt von dem beklagten Land Schadensersatz wegen eines Glatteisunfalls, den sie auf dem Parkplatz des Behördenhochhauses Lübeck erlitten hat, als sie sich am Morgen des 22. Februar 1991 von ihrem dort abgestellten Pkw zum Parkplatzausgang begab, um zu ihrem Arbeitsplatz im Behördenhochhaus zu gelangen. Sie stützt ihren Anspruch darauf, daß sie gestürzt sei, weil die Fahrbahnen des Parkplatzes weder von Schnee und Glätte befreit noch mit abstumpfenden Stoffen bestreut gewesen seien. Das beklagte Land beruft sich auf die Anspruchssperre nach § 636 RVO.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, weil die Anspruchssperre des § 636 RVO eingreife. Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht der auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes gerichteten Klage teilweise stattgegeben, hinsichtlich der Klage auf Feststellung der Verpflichtung des Landes, der Klägerin jeden durch den Unfall verursachten materiellen oder immateriellen Schaden zu ersetzen, die Berufung aber zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt das beklagte Land sein Begehren auf vollständige Abweisung der Klage weiter.

 

Entscheidungsgründe

Die zugelassene Revision des beklagten Landes führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückweisung der Berufung der Klägerin in vollem Umfang.

Die Revision beanstandet nicht die Annahme einer Pflichtverletzung bei der Sicherung des Verkehrs auf dem Parkplatz, auf dem die Klägerin verunglückt ist. Sie wendet sich jedoch mit Erfolg gegen die Ablehnung einer Haftungsbegrenzung nach §§ 636, 637 RVO.

I.

Die Auffassung des Berufungsgerichts, eine Haftungsbegrenzung nach § 636 RVO sei ausgeschlossen, weil die Klägerin ihren Unfall bei Teilnahme am allgemeinen Verkehr erlitten habe, hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

1. Bei der Beurteilung der Frage, ob ein Unfall bei der Teilnahme am allgemeinen Verkehr eingetreten ist, hebt der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung vornehmlich darauf ab, ob der Verletzte den Unfall als normaler Verkehrsteilnehmer oder als Betriebsangehöriger erlitten hat (vgl. BGHZ 116, 30 [33 f.] m.w.N.). Dabei hat der Bundesgerichtshof stets betont, der Begriff der Teilnahme am allgemeinen Verkehr sei in dem Sinne relativ zu verstehen, daß es darauf ankommt, ob der Unfall sich im Verhältnis zwischen Schädiger und Geschädigtem als innerbetrieblicher bzw. innerdienstlicher Vorgang darstellt. Ein Unfall ist bei der „Teilnahme am allgemeinen Verkehr” eingetreten, wenn der Geschädigte nicht in seinem innerbetrieblichen oder innerdienstlichen Verhältnis zum Schädiger von dem Unfall betroffen worden ist (vgl. BGH a.a.O. S. 34 m.w.N.). Entscheidend ist, ob in dem Unfall das betriebliche Verhältnis zwischen dem Schädiger und dem Geschädigten sich manifestiert oder ob insoweit zur dienstlichen bzw. betrieblichen Beziehung zwischen beiden kein oder nur ein loser Zusammenhang bestanden hat (vgl. BGH a.a.O.).

Eine Teilnahme am allgemeinen Verkehr ist deshalb insbesondere dann zu verneinen, wenn ein Vorgang durch die Organisation (Werkverkehr, Einsatz eines betriebseigenen Fahrzeugs, Fahrt oder Gang auf dem Werksgelände) als innerbetrieblicher bzw. innerdienstlicher gekennzeichnet ist oder wenn er durch Anordnung des Unternehmers oder Dienstherrn zur betrieblichen bzw. dienstlichen Aufgabe erklärt worden ist (vgl. BGHZ 116, 30 [35]).

2. Zutreffend geht das Berufungsgericht allerdings davon aus, daß der Hin- und Rückweg eines Betriebsangehörigen zu und von seiner Arbeitsstätte in der Regel als Teilnahme am allgemeinen Verkehr von der Haftungsfreistellung der §§ 636, 637 RVO ausgeschlossen ist, weil normalerweise jeder Arbeitnehmer selbst dafür zu sorgen hat, daß er zu seiner Arbeitsstätte und von dort nach Hause kommt (stRspr; vgl. BGH a.a.O. S. 34). Etwas anderes gilt indes von dem Zeitpunkt an, in dem der Arbeitnehmer in den Organisationsbereich seines Arbeitgebers eintritt. Das Berufungsgericht hat zu Recht darauf abgestellt, ob der Unfall der Klägerin in einem Gefahrenkreis zugestoßen ist, für den ihre Zugehörigkeit zum Organisationsbereich ihrer Behörde im Vordergrund steht oder ob den Unfall nur ein loser äußerlicher Zusammenhang mit diesem dienstlichen Organisationsbereich verbindet, sie also „wie ein normaler Verkehrsteilnehmer” verunglückt ist (vgl. BGH, Urteil vom 12. März 1974 – VI ZR 2/73 – VersR 1974, 784, 785).

3. Die Auffassung des Berufungsgerichts, der Unfall habe sich nicht im Zusammenhang mit dem Dienstbetrieb und den dienstlichen Aufgaben der Klägerin ereignet, die Klägerin sei deshalb im Verhältnis zu dem beklagten Land wie jeder andere Verkehrsteilnehmer anzusehen, ist durch Rechtsirrtum beeinflußt.

Der von der Klägerin erlittene Unfall ereignete sich auf dem Behördenparkplatz, der zu dem Behördenhochhaus gehörte, in dem ihre Dienststelle und ihr Arbeitsplatz sich befanden. Dies schließt die geltend gemachten Ansprüche gegenüber dem beklagten Land aus; denn dieses beherrscht den Organisationsbereich, dem die Klägerin aufgrund ihrer dienstlichen Stellung als Verwaltungsangestellte des Finanzamts angehört (BGH, Urteil vom 12. März 1974 a.a.O. S. 785; Senatsurteil vom 27. April 1981 – III ZR 47/80 – VersR 1981, 849; Senatsbeschluß vom 26. März 1992 – III ZR 81/91 – BGHR BeamtVG § 46 Abs. 2 Satz 2 Verkehr, allgemeiner 2).

Der Umstand, daß der für Bedienstete und Besucher bestimmte Behördenparkplatz nicht – durch einen Zaun o.ä. und an der Einfahrt durch eine Schranke – abgesichert war, steht der Annahme, er gehöre zum Organisationsbereich der Behörde, ebensowenig entgegen wie die Tatsache, daß das beklagte Land es zeitweilig geduldet hat, daß auch einzelne andere Verkehrsteilnehmer ihre Kraftfahrzeuge dort abstellten. Dies alles ändert nichts daran, daß es sich dabei um den Organisationsbereich des beklagten Landes handelte, daß allein dieses darüber entschied, wer zu diesem Gelände Zutritt haben sollte und wie die Bedingungen des Fahrzeugverkehrs auf dem Gelände gestaltet wurden (vgl. BGH Urteil vom 19. Januar 1988 – VI ZR 199/87 – VersR 1988, 391). Da der Begriff der „Teilnahme am allgemeinen Verkehr” ein relativer ist, kommt es allein auf das Verhältnis des Bediensteten zu dem in Anspruch genommenen Schädiger an (Senatsurteile BGHZ 17, 65 [66]; 33, 339 [349]; 64, 201 [203]; BGH, Urteil vom 13. März 1973 – VI ZR 12/72 – VersR 1973, 467; Senatsurteil vom 10. März 1983 – III ZR 1/82 – VersR 1983, 636), mithin auf die Frage, ob die Teilnahme am allgemeinen Verkehr sich im Verhältnis gerade zu diesem nicht lediglich als innerdienstlicher Vorgang darstellt (Senatsurteil BGHZ 17, 65 [66]). Ob und wie das beklagte Land diesen Bereich gegen Einwirkungen von außen sicherte, ist sowohl für den Versicherungsschutz der Benutzer als auch für den Haftungsausschluß nach §§ 636, 637 RVO unerheblich. Diese Umstände waren für Anlaß und Auswirkungen des von der Klägerin erlittenen Unfalls auch ohne Bedeutung.

II.

Dem Haftungsausschluß nach § 636 RVO steht auch nicht entgegen, daß die Klägerin Angestellte des Finanzamts, die Wahrnehmung der Verkehrssicherungspflicht auf dem gemeinsamen Behördenparkplatz aber der Polizeidirektion Schleswig-Holstein übertragen war.

Das beklagte Land als Träger der Behörde, die in dem Behördenhochhaus das Hausrecht ausübte, ist auch im Verhältnis zu den Bediensteten des Finanzamtes als (einheitlicher) „Unternehmer” i.S. der §§ 636, 637 RVO anzusehen. Es ist Träger sowohl des Finanzamtes als einer Landesfinanzbehörde (§ 2 Abs. 1 Nr. 3 FVG) als auch der in demselben Gebäude untergebrachten Polizeidirektion. Nach der gemeinsamen Hausordnung oblag die Wahrnehmung des Hausrechts dem Leiter der Polizeidirektion, soweit es nicht durch die Leiter der anderen Dienststellen in ihrem Organisationsbereich ausgeübt wurde. Dementsprechend nahmen Mitarbeiter der Polizeidirektion die Aufgaben des Winterdienstes im Bereich des Behördenhochhauses einschließlich des Behördenparkplatzes wahr.

Die den Mitarbeitern der Polizeidirektion auferlegte Aufgabe diente der Sicherheit der Bediensteten aller in dem Behördenhochhaus untergebrachten Dienststellen des beklagten Landes. Damit ist der erforderliche innere Bezug zu der Gefahrengemeinschaft gegeben, die der Träger der zuständigen Behörde und die in den Behörden tätigen Personen bilden (vgl. zu diesem Merkmal für einen [Mit-]Unternehmer: BGH, Urteil vom 1. Dezember 1981 – VI ZR 219/80 – VersR 1982, 270; vgl. auch Senatsurteil vom 10. März 1983 – III ZR 1/82 – VersR 1983, 636 [637] – und Senatsbeschluß vom 22. Februar 1989 – III ZR 234/88 S. 7, insoweit in VersR 1990, 404 nicht veröffentlicht).

Dementsprechend hat der Senat das Haftungsprivileg des § 636 RVO sogar einem mit dem Träger eines Kindergartens nicht identischen Landesjugendwohlfahrtsverband als Träger des aufsichtführenden Landesjugendamtes (Senatsurteil von 2. April 1992 – III ZR 103/91 – BGHR RVO § 637 Kindergartenunfall 1) sowie einer mit dem Schulträger nicht identischen Schulverwaltung zugute kommen lassen, wenn diese nicht auf die Beseitigung einer Gefahrenlage hingewirkt haben, die für die Kinder bzw. Schüler im Rahmen des Kindergarten- bzw. Schulbetriebes und seiner Vor- und Nachwirkungen entstanden war (Urteil vom 27. April 1981 – III ZR 47/80 – VersR 1981, 849; vgl. auch BGHZ 63, 313 [314]; 64, 201 [202]). Soweit die Behörden des beklagten Landes in Erfüllung gemeinsamer Ziele tätig werden, sind sie demnach „Mitunternehmern” vergleichbar (vgl. BGH, Urteil vom 1. Dezember 1981 a.a.O.). Dies gilt jedenfalls dann, wenn die aufsichtführende Polizeibehörde – wie hier – an Ort und Stelle, in dem „Unternehmen” selbst, Aufsichtsaufgaben wahrnimmt, die den für ein Unternehmen Verantwortlichen treffen.

Der vorliegende Fall ist damit anders gelagert als der dem Senatsurteil vom 10. März 1983 – III ZR 1/82 – VersR 1983, 636 – zugrundeliegende. Dort ging es um einen Unfall, auf einer öffentlichen Straße; die von dem städtischen Tiefbauamt wahrzunehmende Straßenverkehrssicherungspflicht stand in keiner besonderen Beziehung zum Betrieb der Schule an der die Straße vorbeiführte. Hier geht es dagegen um die Verkehrssicherung auf einem mehreren Behörden dienenden gemeinsamen Parkplatz; die Polizeidirektion nahm daher zugleich stellvertretend die an sich auch dem Finanzamt obliegende Verkehrssicherungspflicht auf dem Parkplatz wahr.

III.

Das Berufungsurteil kann daher nicht bestehen bleiben.

Der Senat kann in der Sache abschließend entscheiden, weil die Sache nach den getroffenen Feststellungen zur Endentscheidung reif ist.

 

Unterschriften

Rinne, Engelhardt, Werp, Streck, Schlick

 

Fundstellen

Haufe-Index 1679899

NJW 1995, 1558

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