Verfahrensgang
LG Marburg (Urteil vom 06.11.2002) |
Tenor
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Marburg vom 6. November 2002
- im Schuldspruch dahin geändert, daß die Verurteilung wegen des tateinheitlich begangenen sexuellen Mißbrauchs einer Schutzbefohlenen und wegen Beischlafs zwischen Verwandten entfällt,
- im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben und die Sache in diesem Umfang zu erneuter Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes in acht Fällen, davon in fünf Fällen in einem besonders schweren Fall und in diesen fünf Fällen jeweils in Tateinheit mit Beischlaf mit einem leiblichen Kind und in allen Fällen in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch einer Schutzbefohlenen zu einer zur Bewährung ausgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt; in einem Fall hat es das Verfahren wegen Verjährung eingestellt. Die Staatsanwaltschaft erstrebt mit ihrer vom Generalbundesanwalt vertretenen, auf den Strafausspruch beschränkten Revision eine höhere Strafe.
Nach den Feststellungen ist der Angeklagte bei seiner im Februar 1978 geborenen Tochter erstmals (in verjährter Zeit) im Jahre 1983 oder 1984 mit dem Finger in die Scheide eingedrungen. Im Zeitraum 1985 bis 1987 kam es zu drei gleichen Handlungen (Fälle 2 bis 4). 1987 hat der Angeklagte mit seiner neunjährigen Tochter in Gegenwart anderer Zechgenossen erstmals den Geschlechtsverkehr ausgeübt und sie dabei defloriert, einer der anderen Männer hat ebenfalls sexuelle Handlungen an dem Kind vorgenommen (Fall 5). In der Folge kam es bis 1991 in vier weiteren Fällen zur Ausführung des Geschlechtsverkehrs mit dem Kind (Fälle 6 bis 9). Der Angeklagte, der seit 1981 zunehmend dem Alkohol zugesprochen und sich spätestens seit 1985 zu einem Spiegeltrinker mit einem täglichen Konsum von ein bis zwei Flaschen Schnaps entwickelt hatte, unterzog sich noch vor dem 14. Geburtstag der Geschädigten einer Entziehungskur, die er erfolgreich durchstand. Danach kam es zu keinen weiteren Übergriffen. Das Familienleben entwickelte sich äußerlich normal, das Tatgeschehen wurde jedoch totgeschwiegen. Die Geschädigte unternahm mit 14 und mit 17 Jahren einen Selbstmordversuch und leidet seit zehn Jahren unter einer schweren posttraumatischen Belastungs- und Borderline-Störung, die mehrfache stationäre Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken und ambulante Therapien erforderte und zum Abbruch einer von ihr angestrebten Berufsausbildung führte. Sie wurde im Ermittlungsverfahren richterlich vernommen, eine Sachverständigenbegutachtung mußte wegen des schlechten psychischen Zustands der Geschädigten abgebrochen werden. Eine Vernehmung in der Hauptverhandlung war nicht möglich, da bereits ihre bisherigen Aussagen im Verfahren zu einer erheblichen psychischen Belastung der Geschädigten geführt hatten und bei einer erneuten Vernehmung mit einer weiteren Verschlechterung, auch mit erneuten suizidalen Handlungen zu rechnen war. Ihre Aussage wurde durch Verlesung des richterlichen Protokolls in die Hauptverhandlung eingeführt.
Das Landgericht ist aufgrund der zur Tatzeit bestehenden Alkoholkrankheit des Angeklagten in allen Fällen von einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit ausgegangen und hat gegen den geständigen Angeklagten unter Anwendung des nach § 49 Abs. 1, 21 StGB gemilderten Strafrahmens wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch einer Schutzbefohlenen (§ 176 Abs. 1 StGB aF, § 174 Abs. 1 StGB) in den Fällen 2 bis 4 jeweils Einzelstrafen von sechs Monaten und wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch einer Schutzbefohlenen und Beischlaf mit einem leiblichen Kind (§ 176 Abs. 3 Nr. 1 StGB aF; §§ 174 Abs. 1, 173 Abs. 1 StGB) im Fall 5 eine Einzelstrafe von einem Jahr und sechs Monaten und in den Fällen 6 bis 9 jeweils Freiheitsstrafen von acht Monaten verhängt.
Das Rechtsmittel führt – nach § 301 StPO insoweit zu Gunsten des Angeklagten – in allen Fällen zum Wegfall des neben dem sexuellen Mißbrauch eines Kindes tateinheitlich verwirklichten Delikts des sexuellen Mißbrauchs von Schutzbefohlenen und in den Fällen 5 bis 9 des weiteren tateinheitlich verwirklichten Deliktes des Beischlafs mit einem leiblichen Kind, da der Verfolgung insoweit das Verfahrenshindernis der Verjährung entgegensteht. Der letzte Geschlechtsverkehr mit der Geschädigten hatte 1991 stattgefunden, Verjährung war danach für das Delikt des § 174 StGB Ende 1996, für das Delikt des § 173 StGB Ende 1994 eingetreten. Zur Unterbrechung der Verjährung geeignete Handlungen sind erst im Jahre 2001 erfolgt. Verfahrenshindernisse sind von Amts wegen zu beachten, auch wenn bereits durch die Beschränkung des Rechtsmittels Teilrechtskraft eingetreten ist (BGHSt 11, 393, 395; 15, 203, 208, BGH NStZ 1994, 388, 389).
Der Strafausspruch hat keinen Bestand.
Bedenken begegnet schon die Anwendung des bei allen Taten nach §§ 49 Abs. 1, 21 StGB gemilderten Strafrahmens. Zur Begründung der verminderten Schuldfähigkeit hat das Landgericht lediglich ausgeführt, daß der Angeklagte „aufgrund der jeweils getrunkenen Mengen und aufgrund des damit einhergehenden üblichen Abbaus der Fähigkeiten, sich in andere Personen hineinzuversetzen, das eigene Tun wirklichkeitsgerecht einzuschätzen und sich nach moralischen Maßstäben zu verhalten”, in seiner Fähigkeit, das Unrecht seines Handelns einzusehen und sich nach dieser Einsicht zu richten, erheblich eingeschränkt war. Abgesehen davon, daß die Anwendung des § 21 StGB nicht auf beide Alternativen – Einsichts- und Steuerungsfähigkeit – zugleich gestützt werden kann (vgl. BGH NStZ 1995, 226), bleibt auch unklar, ob die Strafkammer die verminderte Schuldfähigkeit auf die jeweilige Alkoholisierung bei den einzelnen Taten oder auf ein durch die Alkoholsucht verursachtes Psychosyndrom oder auf ein Zusammenwirken beider Faktoren stützen will. Jedenfalls fehlen hinreichend konkrete Feststellungen zu einem – nicht fernliegenden – alkoholbedingten Persönlichkeitsabbau.
Aber auch innerhalb des gewählten Strafrahmens sind die Strafzumessungserwägungen zu beanstanden. Bei den ausgeworfenen Einzelstrafen hat die Strafkammer das Gewicht der Straftaten nicht angemessen berücksichtigt. Dies ergibt sich schon daraus, daß sie die Taten in den Fällen 2 bis 4 (Eindringen mit dem Finger in die Scheide des Kindes) als „Handlungen am unteren Rand der denkbaren sexuellen Handlungen” würdigt. Diese Wertung ist fehlerhaft. Auch wenn diese Handlungen nach dem zur Tatzeit geltenden Recht nicht den Regelfall eines besonders schweren Falls begründeten, handelte es sich um gravierende sexuelle Übergriffe, die nicht vergleichbar sind mit etwa einem Streicheln des Geschlechtsteils über der Kleidung. Dementsprechend hat der Gesetzgeber Handlungen dieser Art durch das 6. StrRG nach § 176 a Abs. 1 Ziff. 1 StGB als schweren sexuellen Mißbrauch eines Kindes qualifiziert. Zu Recht weist die Revision zudem daraufhin, daß auch die bagatellisierende Zumessungserwägung der Kammer, die Handlungen hätten dem Kind nicht körperlich weh getan, im Widerspruch zu den Feststellungen steht.
Aber auch die für die Beischlafshandlungen ausgeworfenen Einzelstrafen für die Fälle 6 bis 9 von jeweils acht Monaten – nur fünf Monate über der Mindeststrafe nach dem gemilderten Strafrahmen – und von einem Jahr sechs Monaten für die Deflorierung des neunjährigen! Kindes unter besonders erniedrigenden und verletzenden Umständen werden dem Unrechtsgehalt der Taten nicht gerecht. Entgegen der Auffassung der Kammer sind auch etwaige aus der Verdrängung und Verschweigung des Tatgeschehens in der Familie resultierende psychische Beeinträchtigungen dem Angeklagten in vollem Umfang zuzurechnen, weil auch sie ihren Grund in den Handlungen und dem weiteren Verhalten des Angeklagten haben, der bis zur Hauptverhandlung die Taten bestritten hat.
Für die neue Verhandlung weist der Senat vorsorglich darauf hin, daß er zu der in der Entscheidung des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 27. März 2003 – 3 StR 435/02 geäußerten Rechtsauffassung ebenfalls neigt, wonach bei einer auf verschuldeter Trunkenheit beruhenden erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit eine Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB in der Regel nicht in Betracht kommen sollte. Ein solcher Fall liegt allerdings nicht vor, wenn der Täter alkoholkrank ist.
Unterschriften
Rissing-van Saan, Detter, Bode, Otten, Roggenbuck
Fundstellen