Entscheidungsstichwort (Thema)
Körperverletzung mit Todesfolge
Leitsatz (amtlich)
Zum Festnahmerecht nach § 127 Abs. 1 Satz 1 StPO.
Normenkette
StPO § 127 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Arnsberg vom 8. Juni 1999 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts Hagen zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Seine auf die Sachbeschwerde gestützte Revision hat Erfolg.
1. Nach den Feststellungen sprach der als Ladendetektiv in einem Kaufhaus tätige Angeklagte den Kunden D., bei dem er „glaubte, gesehen zu haben”, daß er einige Compact Discs (CDs) in seine Jackentasche gesteckt hatte, hinter der Kasse an, wobei er sich als Detektiv auswies. Als der 13 kg schwerere und 13 cm größere D. sich der Feststellung seiner Personalien widersetzte, nach dem Angeklagten schlug – oder ihn beiseite schob – und die Flucht ergriff, verfolgte ihn der Angeklagte und sprang ihn von hinten an, wobei er seinen linken Arm um dessen Hals legte. Durch den Anprall gingen beide zu Boden. Während der Angeklagte versuchte, den in die „Unterlage” geratenen D. „am Boden zu fixieren”, rief er um Hilfe und forderte D. „mehrfach auf, sich zu ergeben und zum Zeichen der Aufgabe mit der Hand auf den Boden zu schlagen”. D. zeigte jedoch „keine derartige Reaktion”. Der „wenige Augenblicke” später hinzukommende Inhaber eines Schuhreparaturstandes, R., hielt die rechte Hand des D. und, als dieser mit den Beinen um sich schlug, auch ein Bein fest. „Wenige Minuten” danach trat der Leiter des Kaufhauses, M., hinzu. Er drückte den rechten Arm des D., den R. „kaum noch” festhalten konnte, mit seinem Knie zu Boden; ferner veranlaßte er, daß die Polizei verständigt wurde. „Während der gesamten Zeit hielt der Angeklagte den Hals des D. weiter in seiner linken Armbeuge, wobei er den ertappten Dieb über einen Zeitraum von mindestens drei Minuten ohne Unterlaß derart würgte, daß diesem die Luftzufuhr vollständig abgeschnitten wurde” (UA 8). Die ein- oder zweimal gestellte Frage des M., „ob der Mann noch Luft bekomme”, bejahte der Angeklagte. Als wenige Minuten später der Polizeibeamte P. erschien, forderte M. diesen auf, dem D. Handfesseln anzulegen, da sich „D. nach dem Eindruck des … M. weiterhin derart stark zur Wehr setzte, daß er ihn mit seinem rechten Arm anhob”. Nachdem M. und R. den „nunmehr regungslos am Boden liegenden D.” losgelassen hatten, diesem Handfesseln angelegt worden waren und auch der Angeklagte D. losließ, drehte P. dessen „reglosen Körper” um. Das Gesicht des D. war blau verfärbt; er war infolge der Strangulation durch den Angeklagten erstickt. In seiner Jacke wurden fünf CDs gefunden, die aus dem Kaufhaus stammten und nicht bezahlt worden waren.
2. Nach Auffassung des Landgerichts hat der Angeklagte den D. nach § 127 Abs. 1 Satz 1 StPO vorläufig festnehmen und am Boden „fixieren”, nicht aber einen Würgegriff anlegen dürfen. Gegen diesen habe D. vielmehr ein Notwehrrecht zugestanden. Durch die „Körperverletzung in Form des Würgens” habe der Angeklagte den Tod des D. fahrlässig verursacht, weshalb er der Körperverletzung mit Todesfolge schuldig sei. Ein Erlaubnisirrtum sei ausgeschlossen, weil der Angeklagte sich nicht über den Umfang der rechtlichen Grenzen eines Rechtfertigungsgrundes geirrt habe.
3. Diese Bewertung wird von den Feststellungen nicht getragen. Entscheidend für die Frage einer möglichen Rechtfertigung des Angeklagten bzw. für einen darauf bezogenen Irrtum seinerseits sind Reihenfolge und Intensität von Angriff und Abwehr zu dem Zeitpunkt, als D. zu Boden gegangen war.
a) Das Landgericht geht zutreffend davon aus, daß das Handeln des Angeklagten zunächst durch das Festnahmerecht nach § 127 Abs. 1 Satz 1 StPO gerechtfertigt war. Als Ladendetektiv hatte der Angeklagte zwar keine polizeilichen Rechte und Funktionen; er durfte aber solche Handlungen vornehmen, die „jedermann” gestattet sind (vgl. Wache in KK/StPO 4. Aufl. § 163 Rdn. 7). Da sich sein Tatverdacht – durch Auffinden der entwendeten CDs in der Jackentasche des D. – bestätigt hat, kommt es auf die umstrittene Frage, ob eine Festnahme nach § 127 Abs. 1 Satz 1 StPO nur zulässig ist, wenn eine Straftat wirklich begangen worden ist (vgl. hierzu Kargl NStZ 2000, 8 ff. m.w.N.), nicht an. Der Angeklagte hatte D. „auf frischer Tat” noch am Tatort betroffen. Da D., auf den Diebstahl angesprochen, zu flüchten versuchte, war der Angeklagte befugt, ihn vorläufig festzunehmen, auch wenn – wozu sich das Landgericht nicht äußert – D. keinen räuberischen Diebstahl, sondern nur einen Diebstahl begangen hatte; denn § 127 Abs. 1 Satz 1 StPO – der an die „Frische” und nicht an die „Schwere” der Tat anknüpft (so zutreffend Kargl aaO S. 14; Schröder Jura 1999, 10, 11; vgl. auch § 127 Abs. 3 StPO) – gilt unabhängig von der Gewichtigkeit der Tat und vom Wert der Beute bei allen Verbrechen oder Vergehen (vgl. RGSt 17, 127; BayObLGSt 1986, 52, 55; Borchert JA 1982, 338, 344; Krause in AK/StPO § 127 Rdn. 11; a.A. Hilger in Löwe/Rosenberg StPO 25. Aufl. § 127 Rdn. 19 m.w.N.; für „offenkundige Bagatellfälle” auch Schröder aaO S. 12; anders auch bei Ordnungswidrigkeiten, s. § 46 Abs. 3 Satz 1 OWiG). Allerdings gestattet das Recht zur Festnahme nicht die Anwendung eines jeden Mittels, das zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist, selbst wenn die Ausführung oder Aufrechterhaltung der Festnahme sonst nicht möglich wäre. Das angewendete Mittel muß vielmehr zum Festnahmezweck in einem angemessenen Verhältnis stehen. Unzulässig ist es daher regelmäßig, die Flucht eines Straftäters durch Handlungen zu verhindern, die zu einer ernsthaften Beschädigung seiner Gesundheit oder zu einer unmittelbaren Gefährdung seines Lebens führen (vgl. BGH NStZ-RR 1998, 50; BGHR StGB § 32 Abs. 1 Putativnotwehr 1 [jeweils zum Schußwaffengebrauch]; Schroeder JuS 1980, 336, 337; Kargl aaO S. 14 f.; Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO 44. Aufl. § 127 Rdn. 14). Dazu gehört auch das lebensgefährdende Würgen eines auf frischer Tat Betroffenen. Der durch § 127 StPO geschützte staatliche Strafanspruch hat nämlich grundsätzlich hinter der Gesundheit des Straftäters zurückzutreten. Der Norm eine weiter gehende Befugnis zu entnehmen ist zudem entbehrlich, weil dann, wenn sich der Festzunehmende dem Einsatz zulässiger Mittel mit Gewalt widersetzt, dem Festnehmenden § 32 StGB mit weiter reichenden Notwehrbefugnissen zur Seite steht (vgl. Arzt in FS für Kleinknecht 1985 S. 1, 10, 12; Borchert aaO; Schröder aaO S.12; Boujong in KK/StPO 4. Aufl. § 127 Rdn. 5, 28; Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 127 Rdn. 17).
b) Nach diesen Grundsätzen durfte der Angeklagte den flüchtenden D. von hinten anspringen, zu Fall bringen und am Boden „fixieren”. Die hiermit verbundene Freiheitsberaubung und Nötigung war gerechtfertigt (vgl. BGH, Urteil vom 11. Januar 1983 – 1 StR 742/82; BayObLGSt 1959, 38, 41; 1986, 52, 55; OLG Hamm NStZ 1998, 370). Selbst wenn – wie das Landgericht meint – in dem „Anspringen” und „Niederreißen” eine Körperverletzung liegen sollte, war diese nach Lage der Sache unvermeidlich und als Folge des erforderlichen Zugriffs durch § 127 Abs. 1 Satz 1 StPO gedeckt (vgl. RGSt 34, 443, 446; KG VRS 19, 114, 115; OLG Karlsruhe NJW 1974, 806, 807; OLG Stuttgart NJW 1984, 1694, 1695; Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 127 Rdn. 14; einschränkend Jescheck/Weigend Lehrbuch des Strafrechts AT 5. Aufl. S. 398 f. Fn. 31; a.A. Arzt aaO S. 10 f.).
c) Die Feststellungen des Landgerichts zum weiteren Geschehensablauf sind jedoch unklar. Sie lassen nämlich nicht erkennen, von wem das Angriffsverhalten ausging, nachdem die beiden Kontrahenten zu Boden gegangen waren:
In seiner rechtlichen Würdigung verweist das Landgericht auf das Festhalten am Boden und dasanschließende Anlegen des Würgegriffes am Hals. Dies spricht ebenso wie die Bejahung einer Notwehrlage für D. durch das Schwurgericht für einen nicht mehr in einem angemessenen Verhältnis zum Festnahmezweck stehenden und deshalb durch § 127 Abs. 1 Satz 1 StPO nicht mehr gedeckten vom Angeklagten ausgehenden Angriff.
Das Urteil enthält aber auch Anhaltspunkte, die auf eine aktive – tätliche – Gegenwehr des D. schon gegen das bloße Festhalten am Boden hinweisen: So sind der Hilferuf und vor allem die mehrfache Aufforderung des Angeklagten – gleich zu Beginn der Auseinandersetzung –, sich zu ergeben und dies mit der Hand anzuzeigen, kaum anders verständlich, als daß sich D. aktiv gegen seine Festnahme zur Wehr gesetzt hat. Dementsprechend teilt das Landgericht in den Feststellungen auch mit, der Angeklagte habe „versucht”, seinen Gegner am Boden zu fixieren und dessen rechten Arm festzuhalten. Für ein tätliches, von D. ausgehendes Angriffsverhalten am Boden könnte auch sprechen, daß dieser mit den Beinen um sich schlug, noch bevor der Kaufhausleiter M. hinzutrat.
d) Die Verurteilung wegen Körperverletzung mit Todesfolge wäre dann rechtlich zutreffend, wenn der Angeklagte im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung, ohne durch die Gegenwehr des D. in eine Notwehrlage versetzt und im Rahmen eigenen Notwehrrechts dazu veranlaßt worden zu sein, den Würgegriff angelegt hätte (vgl. BGHSt 24, 356, 357 f.; BGH NJW 1991, 503, 504; BGHR StGB § 32 Abs. 2 Verteidigung 8; BGH, Urteil vom 11. Januar 1983 – 1 StR 742/82). Das wäre etwa der Fall, wenn D., ohne den Angeklagten tätlich anzugreifen, nur zu fliehen versuchte (vgl. RGSt 34, 443, 446). Hätte der Angeklagte dies erkannt, so hätte er der nach § 32 StGB gerechtfertigten, sich nämlich gegen das Würgen richtenden Abwehr des D. nicht mit der Fortsetzung des Würgens begegnen dürfen. Von einer solchen Notwehrlage des D. scheint das Landgericht ausgegangen zu sein (vgl. UA 18). Ein an sich möglicher Erlaubnisirrtum des Angeklagten (vgl. hierzu Wessels/Beulke Strafrecht AT 29. Aufl. Rdn. 482 ff.) wäre hier nur ein – vermeidbarer – Verbotsirrtum (§ 17 StGB), der eine Bestrafung wegen Körperverletzung mit Todesfolge nicht berührte (vgl. BGH GA 1969, 23, 24; NStZ 1987, 322; 1988, 269, 270).
e) Dagegen wäre der Angeklagte (nur) wegen fahrlässiger Tötung (§ 222 StGB) zu bestrafen, wenn sich D. gegen seine rechtmäßige „Fixierung” am Boden – gegen die ihm kein Notwehrrecht zustand (vgl. BGH StV 1993, 241, 242; BGH, Beschluß vom 25. Mai 1998 – 5 StR 52/98; OLG Düsseldorf NStZ 1991, 599; OLG Hamm NStZ 1998, 370) – tätlich zur Wehr gesetzt hat oder wenn dies nicht ausgeschlossen werden kann. Gegen einen solchen Angriff des D. war der Angeklagte nämlich zur – zunächst unbeschränkten – Notwehr berechtigt. Er durfte in diesem Fall dasjenige Abwehrmittel wählen, das eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr gewährleistete (vgl. BGH GA 1968, 182, 183). Er war nicht gehalten, auf die Anwendung weniger gefährlicher Abwehrmittel zurückzugreifen, wenn deren Wirkung für die Abwehr zweifelhaft war; auf einen Kampf mit ungewissem Ausgang brauchte er sich nicht einzulassen (st.Rspr., vgl. BGHSt 24, 356, 358; 25, 229, 230; 27, 336, 337; BGH NStZ 1998, 508, 509 m.w.N.).
Für einen objektiven Dritten in der Tatsituation des Angeklagten (vgl. BGH StV 1999, 143, 145) gab es hier zum – lediglich mit Körperverletzungswillen vorgenommenen – Anlegen des Würgegriffs keine mildere Handlungsalternative: Auf die mehrfache Aufforderung zu Beginn der auch vom Angeklagten gegenüber seinem größeren, schwereren und gewaltbereiten Gegner mit bloßer Körperkraft ausgetragenen Auseinandersetzung, sich durch Handzeichen zu ergeben, ist der zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewußtlose D. nämlich nicht eingegangen (vgl. hierzu BGH NStZ 1996, 29). Nichts anderes ergibt sich im Hinblick auf die hinzugekommenen Helfer R. und M., da es auch nach deren Eingreifen nicht gelang, D. zu beruhigen, und sich die Beteiligten erst vom Anlegen der Handfesseln durch die zwischenzeitlich eingetroffene Polizei Abhilfe versprachen.
Die Rechtfertigung des Würgegriffs entfiel jedoch objektiv, als D. in der zweiten Minute der Strangulation bewußtlos wurde und mit Erstickungskrämpfen reagierte. Der Angeklagte war jetzt, soweit Trutzwehr überhaupt erforderlich war, zur größtmöglichen Schonung angehalten (vgl. zu Schuldunfähigen BGHSt 3, 217, 218; BayObLG NStZ 1991, 433, 434; StV 1999, 147 f.; Wessels/Beulke aaO Rdn. 344; Tröndle/Fischer StGB 49. Aufl. § 32 Rdn. 19 m.w.N.). Im Verkennen dieses Sachverhalts läge für ihn ein Erlaubnistatbestandsirrtum (BGH NStZ 1987, 20; 1996, 29, 30; NJW 1995, 973; BGH, Beschluß vom 20. Juli 1999 – 1 StR 313/99). Er hätte nämlich nicht mehr getan, als er bei einer wirklich fortbestehenden Notwehrlage hätte tun dürfen (vgl. BGH NJW 1992, 516, 517 [ein drei bis fünf Minuten andauernder Würgegriff kann „in der angewandten Stärke und Dauer” die erforderliche Verteidigung gegen einen tätlichen Angriff sein]; s. ferner BGH NStZ 1983, 500; 1997, 96, 97). Die irrige Annahme eines rechtfertigenden Sachverhalts wäre wie ein den Vorsatz ausschließender Irrtum über Tatumstände nach § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB zu bewerten (st. Rspr.; vgl. nur BGHSt 3, 105, 106 f.; 194, 196; 31, 264, 286 f.; BGH NStZ 1996, 34, 35), so daß der Vorwurf (vorsätzlicher) Körperverletzung mit Todesfolge entfiele.
Der Irrtum des Angeklagten würde aber auf einer Außerachtlassung der gebotenen und ihm persönlich zuzumutenden Sorgfalt beruhen, so daß er wegen fahrlässiger Tötung zu bestrafen wäre (§ 16 Abs. 1 Satz 2 StGB; vgl. BGH NJW 1992, 516, 517; NStZ 1983, 453; 1987, 172; 1988, 269, 270). Ihm war nämlich die Gefährlichkeit des Würgegriffs bekannt, konkret erkennbar (dyspnoische Atembewegungen des D.) und durch die Frage des Kaufhausleiters M., „ob der Mann noch Luft bekomme”, zusätzlich deutlich vor Augen geführt worden.
4. Die Sache bedarf daher zur näheren Klärung des Geschehensablaufs erneuter Verhandlung und Entscheidung. Der Senat macht bei der Zurückverweisung von der Möglichkeit des § 354 Abs. 2 Satz 1 2. Alt. StPO Gebrauch.
Unterschriften
Meyer-Goßner, Kuckein, Athing, Solin-Stojanovi[cacute], Ernemann
Fundstellen
Haufe-Index 556843 |
BGHSt |
BGHSt, 378 |
NJW 2000, 1348 |
JurBüro 2000, 332 |
NStZ 2000, 603 |
Nachschlagewerk BGH |
JA 2000, 630 |
StV 2001, 258 |
StraFo 2000, 166 |
JURAtelegramm 2000, 215 |
Jb Sicherheitsgewerbe 2001 2001, 145 |
LL 2000, 173 |