Verfahrensgang
Nachgehend
Tenor
Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 4. Oktober 2021 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit die Angeklagten E., J., P. und S. freigesprochen worden sind.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten J. wegen versuchter räuberischer Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und Sachbeschädigung - unter Einbeziehung einer früheren Verurteilung - zu einer Einheitsjugendstrafe von vier Jahren und den Angeklagten S. wegen gefährlicher Körperverletzung - ebenfalls unter Einbeziehung einer früheren Verurteilung - zu einer Einheitsjugendstrafe von einem Jahr und elf Monaten verurteilt. Im Übrigen hat es die Angeklagten J., S., E. und P. vom Vorwurf der Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung freigesprochen und den Angeklagten E. und P. für die erlittene Untersuchungshaft eine Entschädigung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen zugesprochen. Die Staatsanwaltschaft wendet sich mit ihren auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revisionen gegen die Freisprüche der Angeklagten.
I.
Rz. 2
Mit ihrer unverändert zugelassenen Anklage hat die Staatsanwaltschaft den Angeklagten zur Last gelegt, die Nebenklägerin in den frühen Morgenstunden des 15. Oktober 2019 auf einem Parkplatz in A. entsprechend einem gemeinsam gefassten Tatplan entkleidet, mit ihr gegen ihren erkennbaren Willen den Oral-, Vaginal- und Analverkehr vollzogen, sie mit ihren Fingern vaginal penetriert, auf Oberkörper und Gesicht der Nebenklägerin ejakuliert und das Geschehen teilweise gefilmt zu haben. Anschließend hätten die Angeklagten und die Nebenklägerin die Örtlichkeit verlassen. Die Nebenklägerin habe blutende Verletzungen an der Scheide sowie Bauch- und Unterbauchschmerzen erlitten, was die Angeklagten zumindest billigend in Kauf genommen hätten.
II.
Rz. 3
Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
Rz. 4
1. In der Nacht auf den 15. Oktober 2019 traf die Nebenklägerin nach telefonischer Verabredung in der Innenstadt von A. den Angeklagten E.. Diesen hatte sie einige Wochen zuvor kennengelernt und war mit ihm bereits körperlich intim geworden. Nach dem Austausch körperlicher Zärtlichkeiten trafen sie gegen 1.30 Uhr auf eine Gruppe, bestehend aus den Angeklagten P., J. und S.. Während der Angeklagte E. die drei jungen Männer zumindest teilweise kannte, waren sie der Nebenklägerin unbekannt. Gemeinsam setzte man sich auf Bänke vor einem bereits geschlossenen Lokal und unterhielt sich. Dabei saß die Nebenklägerin teilweise rittlings auf dem Schoß des Angeklagten E. und tauschte mit ihm Liebkosungen aus. Von dieser Szene machte der Angeklagte P. mit seiner Handykamera ein Foto. Nachfolgend kam es dazu, dass mehrere Angeklagte der Nebenklägerin mit deren Einverständnis einen „Klaps auf den Po“ gaben.
Rz. 5
Im Lauf der Unterhaltung brachte der Angeklagte E. zur Sprache, ob man nicht gemeinsam einen „Fünfer“ machen wolle. Wie sich das Gespräch weiter entwickelte, konnte die Strafkammer nicht feststellen. Feststellbar war lediglich, dass sich die Gruppe unter freiwilliger Begleitung der Nebenklägerin gemeinsam zu einem ca. 40 Meter entfernten Parkplatz begab, wo sie sich blickgeschützt an einer flachen, terrassenförmig angelegten Steintreppe am Rande einer bewachsenen Grünfläche versammelten.
Rz. 6
Zwischen der Nebenklägerin und dem Angeklagten E. begannen intime Berührungen. Sodann traten auch die weiteren Angeklagten hinzu und stellten sich um die Nebenklägerin herum auf. Ob diese zu diesem Zeitpunkt einen entgegenstehenden Willen im Hinblick auf die sich anbahnende Gruppensexualität hatte und diesen äußerte oder anderweitig kenntlich machte, hat die Strafammer nicht feststellen können. Im weiteren Verlauf kam es zur teilweisen Entkleidung der Nebenklägerin, die Angeklagten E., J. und P. zogen ihre Hosen herunter und entblößten ihr Genital. Ob die Nebenklägerin an deren Gliedern manipulierte, hat die Strafkammer nicht festzustellen vermocht.
Rz. 7
Der Angeklagte P. forderte die Nebenklägerin sodann auf, ihm „einen zu blasen“. Ob die Nebenklägerin dies nicht wollte und daraufhin ihren entgegenstehenden Willen äußerte oder anderweitig kenntlich machte, hat die Strafkammer nicht festzustellen vermocht. Ebensowenig, ob der Angeklagte P. zu diesem oder zu einem späteren Zeitpunkt die Nebenklägerin durch Halten und Bewegen ihres Kopfes dazu brachte, seinen Penis in den Mund zu nehmen und Bewegungen auszuführen. Festgestellt hat das Landgericht jedoch, dass es zum Oralverkehr kam und die Nebenklägerin im weiteren Verlauf jedenfalls mittels Wegdrücken, womöglich auch verbal, zum Ausdruck brachte, dass sie diesen nicht mehr weiter ausführen wolle. Ob der Angeklagte P. den Oralverkehr ungeachtet dessen fortsetzte oder dieser daraufhin unmittelbar endete, hat nicht festgestellt werden können.
Rz. 8
In der Folge kam es zu weiteren sexuellen Handlungen unter Beteiligung der übrigen Angeklagten, wobei sich deren chronologische Abfolge und Handlungszusammenhänge, insbesondere das Zusammenspiel von Aktion und Reaktion, nicht hat feststellen lassen. Die Angeklagten J. und S. manipulierten zu unterschiedlichen Zeitpunkten an der Scheide der Nebenklägerin, wobei jedoch nicht hat festgestellt werden können, ob die Nebenklägerin vor der jeweiligen sexuellen Handlung oder währenddessen einen entgegenstehenden Willen bildete und diesen verbal oder auf andere Weise für die Angeklagten erkennbar zum Ausdruck brachte. Infolge der Manipulation durch den Angeklagten S. kam es zu einer Schmierblutung, woraufhin der Angeklagte S. seinen Finger angewidert aus der Scheide herauszog und mit einem Taschentuch der Nebenklägerin säuberte. Zu weiteren sexuellen Handlungen, namentlich Vaginal- oder Analverkehr bzw. deren jeweiligem Versuch, hat die Strafkammer keine sicheren Feststellungen treffen können.
Rz. 9
Zum Ende des Geschehens lag die Nebenklägerin auf dem Boden. Während einer der Angeklagten, vermutlich der Angeklagte S., noch an ihrer Scheide manipulierte und die anderen Angeklagten neben ihr standen, stellte sich der Angeklagte P. breitbeinig über ihrem Oberkörper auf, nahm sein erigiertes Glied aus der Hose heraus und kam nach kurzem Onanieren zum Samenerguss. Das Sperma traf auf den Oberkörper und das Gesicht der Nebenklägerin sowie auf einen überhängenden Zweig. Die Nebenklägerin verharrte währenddessen weitgehend regungslos mit abgewandtem Gesicht und geschlossenen Augen am Boden liegend. Dieses Geschehen zeichnete der Angeklagte P. mit seiner Handykamera auf Video auf.
Rz. 10
Kurz danach kam auch der Angeklagte J. zum Samenerguss und ejakulierte auf den Körper der Nebenklägerin. Im Anschluss daran filmte er mit seiner Handykamera die regungslos am Boden liegende Nebenklägerin und schob während der Videoaufzeichnung deren Top samt Büstenhalter beiseite.
Rz. 11
Während des gefilmten Geschehens brachte die Nebenklägerin jeweils einen gegebenenfalls entgegenstehenden Willen nicht erkennbar zum Ausdruck. Ob das vorher geschehen war, hat die Strafkammer nicht feststellen können. Ebenfalls hat sich nicht feststellen lassen, dass die Nebenklägerin zu diesem oder zu einem früheren Zeitpunkt des Geschehens aufgrund ihres körperlichen oder psychischen Zustands in der Bildung oder Äußerung eines Willens erheblich eingeschränkt oder hierzu nicht in der Lage gewesen wäre.
Rz. 12
Die Angeklagten waren zum Zeitpunkt des Geschehens teilweise erheblich alkoholisiert und standen unter dem Einfluss von Cannabis, wobei jedoch körperliche Ausfallerscheinungen nicht feststellbar waren.
Rz. 13
Nach dem Ende des Geschehens fragte die Nebenklägerin den Angeklagten E., warum er ihr nicht geholfen habe. Daraufhin begab sie sich gegen 3.00 Uhr in Begleitung der Angeklagten zu einem nahegelegenen Schnellrestaurant. Vor und im Schnellrestaurant kam es wiederholt - in unterschiedlichen personellen Konstellationen - zu Gesprächen zwischen der Nebenklägerin und den Angeklagten E., J. und P.. Letztlich entfernten sich die Angeklagten von der Örtlichkeit und die Nebenklägerin blieb allein in dem Schnellrestaurant zurück. Dort fiel sie aufgrund ihrer sichtbar schlechten psychischen Verfassung der Zeugin Sc. auf, welche sie ansprach und nach dem Grund ihres schlechten Zustands fragte. Nach mehrmaliger Nachfrage teilte die Nebenklägerin der Zeugin Sc. mit, dass sie „vergewaltigt“ worden sei. Die Zeugin schlug der Nebenklägerin vor, Strafanzeige zu erstatten, was diese zunächst ablehnte. Schließlich gelang es der Zeugin Sc. aber, sie zu überzeugen, und rief die Polizei herbei.
Rz. 14
Nach ihrem Eintreffen vernahm die Polizei die Nebenklägerin und sicherte am Ort des Geschehens Spuren. Die Nebenklägerin wurde in ein Krankenhaus transportiert und in Anwesenheit zweier Gynäkologen ausführlicher zu dem Vorfall vernommen. Bei der anschließenden gynäkologischen Untersuchung der Nebenklägerin wurde eine vaginale Schmierblutung diagnostiziert, Verletzungen im Vaginal-, Anal- oder Oralbereich wurden nicht festgestellt.
Rz. 15
In den frühen Morgenstunden wurden die Angeklagten durch Polizeibeamte aufgegriffen und in Gewahrsam genommen. Während die Angeklagten E. J. und S. in ihren polizeilichen Vernehmungen umfangreiche Angaben zu dem Vorfall machten, berief sich der Angeklagte P. auf sein Schweigerecht.
Rz. 16
Die Nebenklägerin war bereits vor dem Geschehen und der Zeit danach schwerwiegend psychisch erkrankt, seit November 2018 wurde unter anderem die Mehrfachdiagnose einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ gestellt. Nach dem verfahrensgegenständlichen Geschehen und auch nach Beginn der Hauptverhandlung kam es wiederholt zu stationären Klinikaufenthalten sowie Suizidversuchen der Nebenklägerin.
Rz. 17
2. Das Landgericht hat ausgeführt, nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei der Sachverhalt nicht vollständig aufzuklären gewesen. Die Angeklagten haben sich zum Tatvorwurf in der Hauptverhandlung nicht geäußert. Die Aussagen der Nebenklägerin seien nicht belastbar, da - in Übereinstimmung mit dem eingeholten aussagepsychologischen Gutachten - deren Aussagetüchtigkeit nicht positiv festgestellt werden könne, die Nebenklägerin wegen zum Teil unwahrer Angaben in der Hauptverhandlung nicht glaubwürdig und ihre Aussage von zahlreichen Konstanz-, Erinnerungs- und Konsistenzmängeln geprägt sei. Auch aufgrund der übrigen Beweismittel lasse sich kein Tatnachweis führen. Zwar ergäben sich aus den im Ermittlungsverfahren abgegebenen Einlassungen der Angeklagten Anhaltspunkte für ein nicht einvernehmliches Geschehen, aufgrund der Aussagen der Verhörpersonen, von denen einige nicht oder nur teilweise verwertbar seien, lasse sich jedoch kein konsistenter Geschehensablauf feststellen. Auch die übrigen Beweismittel und eine Gesamtschau sämtlicher Beweisanzeichen könnten ein Handeln gegen den erkennbaren Willen der Nebenklägerin nicht belegen.
III.
Rz. 18
Die wirksam auf die Freisprüche beschränkten Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft haben im Umfang der Anfechtung Erfolg.
Rz. 19
1. Die dem Freispruch der Angeklagten zugrundeliegende Beweiswürdigung hält - auch eingedenk des beschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 18. Mai 2021 - 1 StR 144/20, juris Rn. 30; vom 4. Juni 2019 - 1 StR 585/17, juris Rn. 27 und vom 30. Januar 2019 - 2 StR 500/18, juris Rn. 14; jeweils mwN) - sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
Rz. 20
a) Die der Wertung der Strafkammer, die Aussage der Nebenklägerin sei nicht belastbar, zugrundeliegende Beweiswürdigung begegnet in mehrfacher Hinsicht durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
Rz. 21
aa) Soweit das Landgericht sich der Beurteilung der aussagepsychologischen Sachverständigen anschließt, dass „bereits die notwendige Aussagetüchtigkeit bei der Nebenklägerin nicht positiv festgestellt werden [könne]“, genügt das Urteil nicht den Darstellungsanforderungen.
Rz. 22
(1) Zieht der Tatrichter einen aussagepsychologischen Sachverständigen hinzu, ist zwar eine ins Einzelne gehende Darstellung von Konzeption, Durchführung und Ergebnissen der erfolgten Begutachtung regelmäßig nicht erforderlich; vielmehr ist es im Allgemeinen ausreichend, wenn die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und methodischen Darlegungen in einer Weise mitgeteilt werden, die zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit und sonstigen Rechtsfehlerfreiheit erforderlich sind. Das Urteil muss auch erkennen lassen, ob sich das Tatgericht dem Gutachten aus eigener Überzeugung angeschlossen hat und - gegebenenfalls - warum es ihm gefolgt ist (vgl. Senat, Beschluss vom 20. November 2019 - 2 StR 467/19, juris Rn. 10 mwN). Stützt sich das Tatgericht nämlich auf das Gutachten, so hat es dessen Ausführungen zuvor eigenverantwortlich zu prüfen (vgl. BGH, Beschluss vom 29. August 2018 - 1 StR 263/18, BGHR StPO § 261 Sachverständiger 13), andernfalls besteht die Besorgnis, das Gericht habe eine Frage, zu deren Beantwortung es eines besonderen Sachverständigenwissens bedurfte, ohne diese Sachkunde entschieden oder es habe das Gutachten nicht richtig verstanden (KK-StPO/Tiemann, 9. Aufl., § 261 Rn. 141 mwN).
Rz. 23
(2) Die vom Landgericht vernommene Sachverständige hat „als Erklärungsansatz ihrer Begutachtung“ die Diagnose einer Borderline-Störung der Nebenklägerin zugrundelegt und zur Begründung der Diagnose ihren „klinischen Eindruck“ angeführt. Diese Diagnose habe „weitreichende Konsequenzen für die Beurteilung der Aussagetüchtigkeit der Nebenklägerin“ und führe mangels Abgrenzbarkeit zwischen Realität und Einbildung dazu, dass „bereits die Aussagetüchtigkeit nicht sicher attestiert werden“ [könne].
Rz. 24
Ob das Landgericht, insoweit der Sachverständigen folgend, bei der Nebenklägerin zu Recht vom Vorliegen einer Borderline-Störung ausgegangen ist, lässt sich anhand der Urteilsausführungen nicht nachvollziehen. Dem Senat erschließt sich bereits nicht, worauf im Einzelnen die Sachverständige ihren „klinischen Eindruck“ gestützt hat. Eine nähere Darlegung der dafür maßgeblichen Gesichtspunkte und Kriterien bzw. eine konkrete Einordnung von Symptomen in die internationalen psychiatrischen Klassifikationssysteme fehlt. Dies wäre aber schon im Hinblick darauf geboten gewesen, dass eine Borderline-Störung wegen des heterogenen Störungsbildes schwierig zu diagnostizieren ist und mit anderen Formen der Persönlichkeitsstörungen zusammentreffen kann (Dulz/Herpentz/Kernberg/Sachsse/Lenzenwenger/Depue, Handbuch der Borderlinestörungen, 2. Aufl., S. 94; Kröber, NStZ 1998, 80, 81). Soweit die Sachverständige ihren „klinischen Eindruck“ durch „die Klinikberichte“ bestätigt sieht, lässt sich diese Bewertung ebenfalls nicht nachvollziehen, da das Urteil auf die Vorbefunde durch bloße Mitteilung der Diagnosen aus zwei Arztbriefen und einem Entlassungsbericht rekurriert. Schließlich kann auch die wiedergegebene Einschätzung der Sachverständigen, diese Diagnosen seien schon deshalb tragfähig, weil ihr nicht bekannt sei, dass diese „einfach so“ vergeben werden, die nähere Darlegung der Vorbefunde und der dafür relevanten Kriterien nicht ersetzen.
Rz. 25
bb) Auch die Wertung des Landgerichts, die Angaben der Nebenklägerin seien „unabhängig von den seitens der Sachverständigen dargelegten aussagepsychologischen Bedenken“ nicht belastbar, weil „schon“ die persönliche Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin fehle, ist rechtsfehlerhaft.
Rz. 26
Insofern hat die Strafkammer darauf abgestellt, dass die Nebenklägerin im Rahmen ihrer Zeugenaussage in der Hauptverhandlung nachweislich die Unwahrheit zu einem früheren sexuellen Kontakt mit dem Angeklagten E. gesagt und sich in der Folge auf ihr Auskunftsverweigerungsrecht gemäß § 55 StPO berufen habe. Der in ihrer diesbezüglichen Aussage zu Tage getretene Widerspruch sei so „eklatant und schwerwiegend“, dass er „eine differenzierende Beurteilung der Glaubhaftigkeit einzelner Aussageinhalte nicht mehr [zulasse]“ und deshalb „die Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin insgesamt [entfalle]“.
Rz. 27
Diese Ausführungen lassen besorgen, dass das Landgericht nicht hinreichend bedacht hat, dass die „persönliche Glaubwürdigkeit“ allenfalls begrenzte Rückschlüsse auf die Glaubhaftigkeit der konkreten fallbezogenen Aussage zulässt. Bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage steht weniger die Frage nach einer allgemeinen Glaubwürdigkeit des Zeugen im Sinne einer dauerhaften personalen Eigenschaft im Vordergrund, sondern es geht vorrangig um die Analyse des Aussageinhalts, das heißt um eine methodische Beurteilung, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben einem tatsächlichen Erleben des Zeugen entsprechen (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 1999 - 1 StR 618/98, BGHSt 45, 164, 167; Urteil vom 5. Oktober 1993 - 1 StR 547/93, StV 1994, 64; Beschluss vom 11. Januar 2005 - 1 StR 498/04, NJW 2005, 1519, 1521; KK-StPO/Tiemann, 9. Aufl., § 261 Rn. 116 mwN). Es existiert kein Erfahrungssatz des Inhalts, dass einem Zeugen nur entweder insgesamt geglaubt oder insgesamt nicht geglaubt werden darf (vgl. BGH, Beschluss vom 27. November 2017 - 5 StR 520/17, juris Rn. 6; Beschluss vom 25. Juli 2019 - 1 StR 270/19, NStZ 2019, 746, 747; MüKo-StPO/Miebach, § 261 Rn. 225 mwN). Allerdings muss das Tatgericht eine belastende Aussage, wenn es dieser nur teilweise folgen will oder es die Aussage sogar in Teilen als bewusst falsch erachtet, nicht nur mit besonderer Sorgfalt würdigen, sondern es muss regelmäßig zudem außerhalb der Aussage liegende gewichtige Gründe benennen, die es ihm ermöglichen, der Zeugenaussage im Übrigen dennoch zu glauben (vgl. BGH, Beschluss vom 27. November 2017 - 5 StR 520/17, juris Rn. 6; Urteile vom 29. Juli 1998 - 1 StR 94/98, BGHSt 44, 153,159 und vom 17. November 1998 - 1 StR 450/98, BGHSt 44, 256 f.).
Rz. 28
Dass die Nebenklägerin zu einem für die Einordnung des Tatgeschehens wesentlichen Umstand gelogen hat, führt daher zwar dazu, dass deren Angaben besonders kritisch zu prüfen sind, hat aber nicht zur Folge, dass alle weiteren - insbesondere tatbezogenen - Aussageinhalte per se als unglaubhaft anzusehen wären. Dies gilt umso mehr, als zahlreiche von der Nebenklägerin geschilderte Details, Aussagen und Geschehensabläufe mit den Einlassungen der Angeklagten und dem auf den Videos der Angeklagten zu sehenden Geschehen übereinstimmen.
Rz. 29
b) Darüber hinaus erweist sich die Beweiswürdigung zu der Frage, ob die sexuellen Handlungen gegen den erkennbaren Willen der Nebenklägerin erfolgt sind, als lückenhaft.
Rz. 30
Die Urteilsgründe lassen die gebotene eigenständige Erörterung vermissen, ob die jeweiligen Einlassungen der Angeklagten E., J. und S., die diese in polizeilichen Vernehmungen gegenüber den Verhörpersonen gemacht haben, soweit als Erinnerungsleistung der vernommenen Verhörpersonen verwertbar, jeweils für sich glaubhaft sind. Anstatt die Angaben der Angeklagten jeweils gesondert auf ihre Plausibilität und anhand des übrigen Beweisergebnisses auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen (vgl. BGH, Beschluss vom 12. November 2019 - 5 StR 451/19, juris Rn. 7; Urteil vom 5. November 2020 - 4 StR 381/20, NStZ 2021, 574), hat das Landgericht lediglich erörtert, ob sich aus Übereinstimmungen in den Einlassungen der Angeklagten ein konsistenter Geschehensablauf feststellen lässt, und sich aufgrund der insofern auftretenden „Widersprüche im Verhältnis der Einlassungen zueinander“ gehindert gesehen, konkrete Feststellungen zu treffen.
Rz. 31
aa) Im Rahmen der gebotenen Einzelwürdigung der Einlassungen wären insbesondere die aus den DNA-Untersuchungen gewonnenen Erkenntnisse in den Blick zu nehmen gewesen. Während die molekulargenetischen Untersuchungsergebnisse mit der selbstbelastenden Einlassung des Angeklagte E. zu seiner Handlung, in die Scheide der Nebenklägerin mit dem Mittelfinger eingedrungen zu sein, durchaus in Einklang zu bringen sind, stehen diese den Angaben des Angeklagten J. diametral entgegen. Der Angeklagte J. hat sich gegenüber dem Kriminalbeamten B. dahingehend eingelassen, die Nebenklägerin an Brust, Gesäß und Scheide angefasst zu haben und mit drei Fingern in ihre Vagina eingedrungen zu sein; auch habe er auf die am Boden liegende Nebenklägerin ejakuliert. Aus der molekulargenetischen Untersuchung ergibt sich jedoch, dass bei Analyse der Spermienfraktion in den bei der Nebenklägerin abgenommenen Abrieben „vorderes und hinteres Scheidengewölbe“, „Vagina“, „Anus“ und „Introitus vaginae“ Merkmale des Angeklagten J. festgestellt wurden. Auch konnte in der Kranzfurche des Angeklagten J. DNA der Nebenklägerin nachgewiesen werden. Diese molekulargenetischen Erkenntnisse, denen trotz der unzureichenden Darstellung Beweiswert zukommt (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 24. Februar 2022 - 6 StR 597/21, juris Rn. 6), drängen zu der Schlussfolgerung, dass der Angeklagte J. - entgegen seiner Einlassung - nicht nur mit den Fingern, sondern auch mit seinem Glied in die Vagina und den Anus der Nebenklägerin eingedrungen ist, bzw. dass Oralverkehr mit der Nebenklägerin stattgefunden hat.
Rz. 32
Hierzu verhalten sich die Urteilsgründe nicht. Zwar geht die Jugendkammer bei Würdigung der Behauptungen der Angeklagten J. und S. zum (versuchten) Analverkehr des Angeklagten E. auf die molekulargenetischen Untersuchungsergebnisse ein. Das Landgericht kommt dabei zum Ergebnis, dass diese die Behauptungen der beiden Angeklagten nicht hätten bestätigen können und geeignet seien, „teilweise“ Zweifel an den Einlassungen der Angeklagten J. und S. zu wecken. Es bleibt allerdings offen, wie die Jugendkammer die Aussagen der Angeklagten J. und S. im Übrigen wertet, und in welchen Teilen sie den Einlassungen folgt oder nicht.
Rz. 33
bb) Auch soweit das Landgericht ihrer Würdigung des Gesamtgeschehens die Einlassung des Angeklagten J. zugrunde gelegt hat, die Nebenklägerin habe an den Geschlechtsteilen der Angeklagten manipuliert, unterlässt sie die gebotene Wertung, ob diesen Angaben gefolgt werden kann. Zudem setzt sie sich mit den Urteilsgründen im Übrigen in Widerspruch, wonach „die Kammer nicht hat feststellen können, ob die Nebenklägerin an den Gliedern der Angeklagten manipulierte“.
Rz. 34
cc) Die fehlende Würdigung der jeweiligen Einlassungen der Angeklagten betrifft auch den Schluss des Landgerichts, „das Verhalten der Nebenklägerin sei (…) nicht widerlegbar von erheblichen Ambivalenzen geprägt gewesen“. Soweit sich die Jugendkammer dabei auf die Einlassung des Angeklagten S. stützt, übersieht sie zum einen, dass sie dessen Einlassung zu der Tat vom selben Tag zu Lasten des Geschädigten G. als unwahre „Schutzbehauptung“ gewertet hat. Zum anderen verkennt sie, dass die Einlassung in sich widersprüchlich ist. Denn der Angeklagte S. hat gegenüber der Kriminalbeamtin Sch. von „Nein-Rufen“ der Nebenklägerin und einem „Wegdrücken der Angeklagten P. und J. durch sie“ berichtet, gleichzeitig aber herausgestellt, dass die Nebenklägerin „normal und lustig“, „willig und notgeil“ gewesen sei und „ihm erst am Ende in den Sinn gekommen sei, dass sie dies nicht gewollt haben könnte“.
Rz. 35
2. Das Urteil beruht auf den aufgezeigten Rechtsfehlern (§ 337 Abs. 1 StPO). Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Landgericht bei rechtsfehlerfreier Beweiswürdigung zu einer Verurteilung der Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung gelangt wäre. Die Sache bedarf daher - naheliegend unter Hinzuziehung eines anderen aussagepsychologischen Sachverständigen - neuer Verhandlung und Entscheidung.
Franke |
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RiBGH Prof. Dr. Eschelbach ist urlaubsbedingt an der Unterschrift gehindert. |
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Meyberg |
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Grube |
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Schmidt |
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Fundstellen
Haufe-Index 15946577 |
StV 2024, 291 |