Leitsatz (amtlich)
›Zur Frage, unter welchen Umständen ärztliche Versäumnisse bei der diagnostischen Abklärung von Krankheitssymptomen (hier: Beschwerden an Bein und Hüfte nach Kaiserschnittoperation) als grobe Behandlungsfehler zu werten sind.‹
Tatbestand
Die Klägerin wurde am 14. Januar 1981 im Krankenhaus K., dessen Träger der Erstbeklagte ist, mittels Kaiserschnitt entbunden. Einige Tage danach klagte sie über starke Schmerzen in der linken Hüfte, die in das Bein ausstrahlten. Eine gynäkologische Untersuchung ergab keinen auffälligen Befund. Der Zweitbeklagte, Chefarzt der gynäkologischen. Abteilung des Krankenhauses, zog daraufhin den Chirurgen Dr. A. hinzu. Dieser untersuchte die Klägerin am 22. Januar 1981, wobei die Patientin wiederum über starke Schmerzen im Hüftgelenksbereich klagte; die Hüfte war bei der Untersuchung stauchungsempfindlich. Dr. A. ließ eine Röntgenaufnahme (Beckenübersicht) fertigen, die unauffällig war. Daraufhin verordnete er das Schmerzmittel Dolo Neurobion und zusätzlich ab 23. Januar 1981 Voltaren. Als die Schmerzen der Klägerin sich nicht wesentlich besserten - sie hatte ab 23. Januar 1981 zudem subfebrile Temperaturen -, erhielt sie, wiederum auf Anordnung von Dr. A., vom 30. Januar 1981 an drei mal täglich ein Gramm des Antibiotikum "Amoxypen". Am 1. Februar 1981 führte der Oberarzt Dr. G. die Entlassungsuntersuchung der Klägerin durch, bei der diese nicht über Schmerzen klagte. Sie wurde am 2. Februar 1981 aus der Klinik entlassen. Im Arztbrief an den Hausarzt heißt es dazu abschließend: "Wir haben Frau C. am 2.2.1981 bei Wohlbefinden beschwerdefrei in Ihre weitere hausärztliche Betreuung entlassen".
Die Klägerin litt in der Folgezeit an starken Schmerzen im Bein und im Hüftbereich. Sie konsultierte ihren Hausarzt, der sie am 17. Februar 1981 in die orthopädische Abteilung des St. J. -Krankenhauses in L. überwies. Dort wurde am 20. Februar 1981 bei einer Röntgenuntersuchung eine eitrige Hüftgelenksentzündung (Koxitis) im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert, durch die der Knorpelbelag von Hüftpfanne und Hüftgelenk bereits völlig zerstört worden war. Es wurde daraufhin eine operative Revision des linken Hüftgelenks durchgeführt. Zurückgeblieben ist eine Gehbehinderung der Klägerin infolge Hüftversteifung und geringer Beinverkürzung.
Die Klägerin, der ihre Arbeitsstelle am 17. Juni 1981 wegen Arbeitsunfähigkeit gekündigt worden ist, verlangt von den Beklagten Ersatz ihrer materiellen und immateriellen Schäden, die auf die Hüftversteifung zurückzuführen sind. Sie wirft dem Zweitbeklagten eine grob fehlerhafte Behandlung im Krankenhaus des Erstbeklagten vor. Ihrer Ansicht nach hätte er die Koxitis bei ordnungsgemäßem ärztlichen Vorgehen rechtzeitig erkennen und behandeln können, wodurch die eingetretenen Schäden am Hüftgelenk hätten vermieden werden können.
Die Beklagten haben im wesentlichen vorgetragen, die Klägerin sei fehlerfrei behandelt worden.
Das Landgericht hat die Beklagten unter Abweisung der weitergehenden Klage zur Zahlung einer monatlichen Verdienstausfallrente von 1.409,75 DM und eines Schmerzensgeldes in Höhe von 20.000,-- DM verurteilt. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht die Klage abgewiesen. Mit der Revision begehrt die Klägerin die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
I. Das Berufungsgericht äußert - dies im Gegensatz zu den Feststellungen des Landgerichts - Zweifel daran, ob die Schmerzen der Klägerin während ihres Aufenthaltes im Krankenhaus K. Symptome einer beginnenden Koxitis gewesen sind, läßt diese Frage dann aber ebenso dahinstehen wie diejenige, ob dem zweitbeklagten Gynäkologen und dem als Konsiliarius hinzugezogenen Chirurgen Dr. A. fehlerhafte Unterlassungen bei der diagnostischen Abklärung der Schmerzen zur Last fallen. Es verneint nämlich das Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers der Ärzte, wobei es wesentlich darauf abstellt, daß diesen kein fundamentaler Diagnoseirrtum unterlaufen sei und daß auch der Sachverständige Prof. R. das Unterlassen weiterer diagnostischer Maßnahmen nicht als aus ärztlicher Sicht schlechterdings unvertretbar bezeichnet hat. Deshalb sei, so meint das Berufungsgericht, die Klägerin mit dem Nachweis belastet, daß durch weitere Untersuchungen während ihrer stationären Behandlung im Krankenhaus K. die Diagnose "eitrige Koxitis" hätte gestellt werden müssen und daß eine dann einsetzende Behandlung zu einer komplikationslosen Heilung ohne Dauerschäden geführt hätte. Dieser Nachweis sei ihr nicht gelungen.
II. Die dagegen gerichteten Revisionsangriffe sind begründet und führen zur Aufhebung des angefochtenen Urteils. Das Berufungsgericht hat die Voraussetzungen für Beweiserleichterungen hinsichtlich des Kausalverlaufes bei Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers, insbesondere beim Unterlassen dringend gebotener Befunderhebungen, verkannt und hat deshalb den Sachverhalt nicht ausreichend aufgeklärt.
1. Für das Revisionsverfahren ist, da das Berufungsgericht dies letztlich offen läßt, zugunsten der Klägerin davon auszugehen, daß die behandelnden Ärzte des beklagten Krankenhausträgers, nämlich den zweitbeklagten Gynäkologen und den als Konsiliarius hinzugezogenen Chirurgen Dr. A., der Vorwurf eines Behandlungsfehlers trifft, weil sie die Ursache der von der Klägerin geklagten Schmerzen im linken Hüftbereich nicht ausreichend abgeklärt haben, so daß die ungezielte Therapie der postoperativ aufgetretenen Beschwerden unter der Verdachtsdiagnose Lumbago mittels Gabe von Schmerzmitteln und eines Antibiotikums unzureichend und unwirksam war.
a) Die Revision weist mit Recht darauf hin, daß der Sachverständige Prof. R. die Behandlung der von der Klägerin im Hüftbereich geklagten Schmerzen im Krankenhaus K. als "unzureichend und fehlerhaft" bezeichnet hat. Er vermißt eine weitere diagnostische Abklärung dieser Beschwerden, nachdem die erste klinische Untersuchung und die Röntgenaufnahme des Beckens keinen weiteren Aufschluß gegeben hatten. Mindestens sei, so meint der Sachverständige, die Erstellung eines "kleinen Labors" erforderlich gewesen (also etwa eine Blutsenkung), ferner gegebenenfalls Röntgenschichtaufnahmen, Szintigraphie, Computer-Tomographie oder Überweisung der Patientin in eine orthopädische oder chirurgische Klinik, ferner eine Überwachung der Antibiotikum-Behandlung. Damit übereinstimmend hat der in erster Instanz als sachverständige Zeuge gehörte Orthopäde Dr. R. die Ansicht vertreten, man hätte in K. in Kenntnis der tatsächlichen Umstände mehr tun müssen, mindestens aber eine klinische Untersuchung durchführen müssen. Das alles deutet darauf hin, daß die Ärzte des Krankenhauses K. sich hier gerade nicht mit der Verdachtsdiagnose eines Lumbago hätten begnügen dürfen, so daß die ungezielte Verordnung eines Schmerzmittels und später eines Antibiotikums keine ausreichende ärztliche Reaktion auf das Beschwerdebild der Klägerin war. Vielmehr war, wie nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. R. mindestens nahe liegt, auch von vornherein an einen entzündlichen Prozeß im Bereich der geklagten Schmerzen zu denken, der gerade während eines Krankenhausaufenthaltes und nach einer Operation eine den Ärzten bekannte Erscheinung darstellt. Der Umstand, daß der Klägerin schließlich ein Antibiotikum gegeben wurde, zeigt übrigens, daß auch der Zweitbeklagte und der Chirurg Dr. A. an diese Möglichkeit gedacht haben. Schon eine einfache Blutsenkung, also eine medizinische Routineuntersuchung, hätte insoweit weiterführende Erkenntnisse mit sich bringen können, wie mangels entgegenstehender Feststellungen im Berufungsurteil angenommen werden muß. Dann hätte sich möglicherweise der Verdacht auf eine beginnende Koxitis verstärken müssen, und es hätten weitere diagnostische und therapeutische Maßnahmen in diese Richtung hin angeordnet werden müssen.
b) Soweit das Berufungsgericht Zweifel daran äußert, daß die Hüftschmerzen der Klägerin bereits Symptome der später festgestellten Koxitis waren, und diese Frage offen gelassen hat, ist für die Revisionsinstanz von der Richtigkeit der Behauptungen der Klägerin auszugehen. Mit dieser Begründung kann deshalb nicht schon die Ursächlichkeit eines Behandlungsfehlers für das Auftreten der Koxitis verneint werden. Das Berufungsgericht wird sich insoweit, falls es darauf ankommen sollte, jedenfalls nicht ohne Wiederholung der Beweisaufnahme über die entsprechenden Feststellungen des Landgerichtes hinwegsetzen dürfen. Der vom Berufungsgericht in diesem Zusammenhang weiter herausgestellte Umstand, daß die Klägerin bei der Abschlußuntersuchung keine Schmerzen geklagt hat, muß, sofern diese nunmehr wegen der vorangegangenen Medikamentation "erträglich" geworden waren, nicht notwendig bedeuten, daß die Klägerin tatsächlich keine Schmerzen verspürt hat. In diesem Zusammenhang wird gegebenenfalls zu prüfen sein, ob den untersuchenden Arzt angesichts der Krankengeschichte nicht die ärztliche Pflicht traf, die Klägerin nach etwaigen weiter bestehenden Schmerzen im Hüftbereich gezielt zu befragen.
2. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts kommt nach dem Sachverhalt, wie er für die Revisionsinstanz mindestens zu unterstellen ist, nach allem durchaus die Annahme eines groben Behandlungsfehlers in Betracht, was dann zur Beweiserleichterung für die Klägerin hinsichtlich des Ursachenzusammenhangs führen muß.
Das Berufungsgericht sieht das etwaige Fehlverhalten der Ärzte in einem Diagnoseirrtum. Ausgehend von der Rechtsprechung des erkennenden Senates, wonach ein Diagnoseirrtum nur dann als "grob" bezeichnet werden darf, wenn es sich um einen fundamentalen Diagnoseirrtum handelt (vgl. u.a. Senatsurteil vom 14. Juli 1981 - VI ZR 35/79 - VersR 1981, 1033), führt es aus, es sei weder dargetan noch ersichtlich, daß die Gefahr einer Hüftgelenkentzündung ernstlich in Erwägung hätte gezogen werden und daß sich den Ärzten die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen hätte aufdrängen müssen. Darüberhinaus habe der Sachverständige Prof. R. weder in seinem schriftlichen Gutachten noch bei seiner mündlichen Anhörung das Unterlassen einer weiteren diagnostischen Abklärung als aus ärztlicher Sicht schlechterdings unvertretbar bezeichnet.
a) Gegen diese Sicht des Berufungsgerichts bestehen in mehrfacher Hinsicht Bedenken.
aa) Der Vorwurf, den die Klägerin gegen die behandelnden Ärzte erhebt, richtet sich in Wahrheit nicht dagegen, daß diesen ein schwerer Diagnoseirrtum unterlaufen sei. Es geht vielmehr um die Frage, ob die Ärzte es grob fehlerhaft unterlassen haben, einer sich aufdrängenden Verdachtsdiagnose mit den dabei üblichen Befunderhebungen nachzugehen, und ob sie dann durch ungezielte Medikamentation das Krankheitsbild eher verschleiert haben (vgl. dazu u.a. Senatsurteile vom 21. September 1982 - VI ZR 302/80 - BGHZ 85, 212, 218 und vom 28. Mai 1985 - VI ZR 264/83 - VersR 1985, 886 f). Nicht die Fehlinterpretation von Befunden, sondern deren Nichterhebung und die Einleitung einer ungezielten Therapie stehen im Vordergrund. Es kommt mithin nicht darauf an, ob den behandelnden Ärzten ein fundamentaler Diagnoseirrtum unterlaufen ist. Das ist offenbar nicht der Fall, weil sie das Auftreten eines Entzündungsprozesses als Ursache für die Beschwerden der Klägerin mit in Betracht gezogen hatten.
bb) Nach den Ausführungen unter 1. ist jedenfalls für die Revisionsinstanz davon auszugehen, daß entgegen der Ansicht des Berufungsgerichtes bei der Klägerin nach aller medizinischer Erfahrung auch ein entzündlicher Prozeß als Ursache für ihre Beschwerden in Betracht gezogen werden mußte. Dafür war, wie den Ausführungen des Sachverständigen entnommen werden kann, ohne Bedeutung, ob ein Zusammenhang gerade zwischen einer Kaiserschnittoperation und dem Auftreten einer Koxitis nach der Operation in der medizinischen Literatur beschrieben worden war oder nicht, weil mit bakteriellen Infektionen nach einer Operation in einer Klinik stets gerechnet werden muß.
cc) Schon gar nicht kann es darauf ankommen, ob der Sachverständige Prof. R. das Verhalten des Zweitbeklagten und des Chirurgen Dr. A. als schlechterdings unvertretbar bezeichnet hat. Es geht bei der Frage, ob ein Behandlungsfehler als "grob" anzusehen ist, um eine juristische Wertung, die nicht der Sachverständige, sondern das Gericht aufgrund der ihm unterbreiteten Fakten zu treffen hat (vgl. dazu u.a. das Senatsurteil vom 3. Dezember 1985 - VI ZR 106/84 - VersR 1986, 366, 367).
dd) Soweit die Haftung des Zweitbeklagten in Frage steht, werden ihm etwa zurechenbare ärztliche Versäumnisse nicht von vornherein dadurch weniger schwerwiegend, weil er den Chirurgen Dr. A. als Konsiliarius hinzugezogen hatte. Auch er mußte, wie jedenfalls für die Revisionsinstanz anzunehmen ist, als chirurgisch tätiger Gynäkologe über das dafür erforderliche medizinische Grundwissen verfügen, mußte also wissen, wie zu verfahren ist, wenn postoperativ Komplikationen auftreten. Ratschläge des Konsiliarius entbanden ihn nicht von einer eigenen verantwortlichen Prüfung.
b) Danach kommt, was gegebenenfalls durch eine weitere Befragung des Sachverständigen zu klären ist, entgegen der Ansicht des Berufungsgerichtes die Annahme eines groben Behandlungsfehlers des Zweitbeklagten und des Chirurgen Dr. A. in Betracht, der vor allem in dem Unterlassen gebotener diagnostischer Maßnahmen zur Abklärung der Ursachen der Beschwerden der Klägerin liegen kann, die wie z.B. das sogenannte "kleine Labor" überdies zu den medizinischen Routinemaßnahmen gehören dürften. Darüberhinaus wird das Berufungsgericht, was bisher nicht geschehen ist, in Anwendung der zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung ihm noch nicht bekannten neueren Rechtsprechung des erkennenden Senates zu den beweisrechtlichen Konsequenzen bei schuldhaft unterlassenen, medizinisch zweifelsfrei gebotenen Befunden (Senatsurteil vom 3. Februar 1987 - VI ZR 56/86 - BGHZ 99, 391 = NJW 1987, 1482 ff = VersR 1987, 1089) zu prüfen haben, ob unter diesem rechtlichen Gesichtspunkt der Klägerin Beweislasterleichterungen zum Ursachenverlauf bis hin zu einer Umkehr der Beweislast zugute kommen können. Hätten im Streitfall schon einfache Befunderhebungen Aufschluß über einen entzündlichen Krankheitsprozeß bei der Klägerin geben können, wäre die Erhebung solcher Befunde gerade geschuldet gewesen wegen des Risikos einer solchen Erkrankung und hätten daraus ärztliche Konsequenzen für die weitere Behandlung der Klägerin gezogen werden müssen, müßte die Unaufklärbarkeit des Ursachenzusammenhangs zwischen dem Unterlassen einer rechtzeitigen Therapie und der weitgehenden Zerstörung des Hüftgelenks der Klägerin zu Lasten der Beklagten gehen. Daß die dann in Betracht kommenden Therapiemaßnahmen grundsätzlich geeignet gewesen wären, den Eintritt des Gesundheitsschadens der Klägerin zu verhindern, ist den bisherigen Ausführungen des Sachverständigen zu entnehmen und für die Revisionsinstanz ebenfalls zu unterstellen.
3. Das angefochtene Urteil beruht auf den dargelegten Rechts- und Verfahrensfehlern. Es ist nicht auszuschließen, daß das Berufungsgericht nach der gebotenen weiteren Aufklärung des Sachverhaltes unter Beachtung der aufgezeigten Rechtsgrundsätze zu dem Ergebnis kommen kann, daß die Schadensersatzklage der Klägerin begründet ist.
Fundstellen
Haufe-Index 2992915 |
NJW 1988, 1513 |
DRsp I(125)330c |
MDR 1988, 397 |
VersR 1988, 293 |