Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtsbeugung
Tenor
Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 30. September 1997 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit die Angeklagten H, He, P und Sch betroffen sind.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an das Landgericht Neuruppin zurückverwiesen.
– Von Rechts wegen –
Gründe
Das Landgericht hat fünf Richter und zwei Staatsanwälte der DDR vom Vorwurf der (teilweise in Tateinheit mit Freiheitsberaubung begangenen) Rechtsbeugung freigesprochen. Die auf die Sachrüge gestützten Revisionen der Staatsanwaltschaft richten sich gegen den Freispruch der Staatsanwältin He und des Staatsanwaltes P sowie des erstinstanzlichen Richters H und des Vorsitzenden des Berufungsgerichts Sch. Die Revisionen haben Erfolg. Die Freisprüche von drei beisitzenden Richtern am Berufungsgericht hat die Staatsanwaltschaft nicht angefochten.
A.
In den Jahren 1976/1977 und 1979 wurden in der DDR zwei Gerichtsverfahren gegen den Regimekritiker Professor Robert Havemann durchgeführt.
Im November 1976 verurteilte das Kreisgericht Fürstenwalde Havemann auf Antrag des Staatsanwalts P zu einer Aufenthaltsbeschränkung auf dessen Grundstück in Grünheide. Die Berufung Havemanns verwarf das Bezirksgericht Frankfurt (Oder) im Januar 1977 unter Vorsitz des Richters Sch. Der Vollzug der Aufenthaltsbeschränkung endete im Mai 1979.
Im Mai/Juni 1979 wurde Havemann auf Antrag des Staatsanwalts P durch den Direktor des Kreisgerichts Fürstenwalde H wegen Devisenvergehen zu einer Geldstrafe verurteilt. Seine Berufung wurde im Juni 1979 vom Bezirksgericht Frankfurt (Oder) unter Vorsitz des Richters Sch verworfen. Die Staatsanwältin beim Generalstaatsanwalt He war im Ermittlungsverfahren tätig geworden und hatte einen Strafbefehl beantragt.
Die Gerichtsverfahren waren nach den Feststellungen des Landgerichts Teil einer Verfolgung Havemanns als politischer Gegner. Die Durchführung beider Gerichtsverfahren basierte auf einer umfassenden Abstimmung der obersten Justizorgane – Oberstes Gericht (OG), Generalstaatsanwaltschaft der DDR und Justizministerium – mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS), in die teilweise auch der Generalsekretär der SED und Staatsratsvorsitzende Erich Honecker eingeschaltet war. Das Landgericht hat indes nicht festgestellt, daß die Angeklagten ihre eigenen Entscheidungen – die sie selbst für rechtlich zutreffend gehalten hätten – in Abstimmung mit dem MfS getroffen hätten. Auch ist das Landgericht nicht davon überzeugt, daß sie jedenfalls die Abstimmung der obersten Justizorgane mit dem MfS oder auch nur dessen Aktivitäten gekannt hätten. Das Landgericht hat daher auch insoweit – im Hinblick auf Art und Weise der Durchführung der Verfahren – keine Rechtsbeugung angenommen.
Im einzelnen hat das Landgericht folgende Feststellungen getroffen:
I. Vorgeschichte der Gerichtsverfahren
Der 1982 verstorbene Naturwissenschaftler Robert Havemann war 1943 als Widerstandskämpfer vom Volksgerichtshof unter dem Vorsitz Freislers zum Tode verurteilt worden und hatte das Kriegsende im Zuchthaus Brandenburg erlebt, wo auch Erich Honecker inhaftiert war. Nach dem Krieg war Havemann Prorektor an der Humboldt-Universität geworden; er war SED-Mitglied und Mitglied der DDR-Volkskammer. Nachdem er sich über die Entwicklung in der DDR kritisch geäußert hatte, wurde er 1964 aus der SED ausgeschlossen und aus seinem beruflichen Wirkungskreis entlassen. Sein endgültiger Bruch mit den Regierenden der DDR erfolgte 1968 aus Anlaß der Niederschlagung des Prager Frühlings. Spätestens jetzt durfte er seine Ansichten in der DDR nicht mehr publizieren.
Von 1964 bis zu seinem Tode führte das MfS zu Havemann den „Operativen Vorgang Leitz”; auf ihn waren im Laufe der Zeit insgesamt mehr als 200 Inoffizielle Mitarbeiter angesetzt. Über nahezu 20 Jahre wurde sein gesellschaftliches und privates Leben intensiv überwacht. Die Untersuchungsabteilung des MfS – offizielles Untersuchungsorgan für strafrechtliche Ermittlungen nach § 88 Abs. 2 Nr. 2 StPO-DDR – suchte immer wieder nach Möglichkeiten, Havemann strafrechtlich zu verfolgen. Anlaß war unter anderem ein Interview Havemanns im österreichischen Fernsehen im Juni 1975, welches das MfS als staatsfeindliche Hetze nach § 106 StGB-DDR bewertete. Hier kam es zu einer Kontaktaufnahme des MfS mit der Abteilung I der Generalstaatsanwaltschaft. Der Generalstaatsanwalt versicherte in einem Schreiben an Honecker, man werde „in enger Zusammenarbeit mit Genossen Mielke … das weitere Verhalten von Havemann im Auge behalten.” Die Hauptabteilung IX des MfS erarbeitete in diesem Zusammenhang sogenannte Einschätzungsberichte, in der Regel nach direkter Weisung des Ministers für Staatssicherheit, Erich Mielke. Die Einschätzungsberichte waren vielfach auch Grundlage für Vorschläge an Erich Honecker; dieser hatte bis dahin strafrechtliche Maßnahmen gegen Havemann stets abgelehnt. Durch eine Tuberkulose-Erkrankung als Folge seiner Inhaftierung in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft war Havemanns Gesundheit stark beeinträchtigt; er galt als nicht uneingeschränkt haftfähig.
Am 13. November 1976 hatte Wolf Biermann in Köln ein Konzert gegeben; am 16. November 1976 wurde die zuvor schon geplante Ausbürgerung des Liedermachers vollzogen. Am 17. November 1976 wurde über westliche Medien eine Protesterklärung von bekannten Künstlern der DDR veröffentlicht, der sich weitere Personen anschlossen. Am 18. November 1976 protestierte Havemann in einem privaten Schreiben an Honecker. Am 22. November 1976 erschien im Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL ein Artikel Havemanns zur Ausbürgerung Biermanns, in dem Havemann auch die Verhältnisse in der DDR kritisierte („Diktatur einer Handvoll Politiker”) und sich für die Gewährung von Grundrechten in einem „demokratischen Sozialismus” im Sinne des Eurokommunismus aussprach. Daraufhin hielt es das MfS am 25. November 1976 für erforderlich, gegen Havemann gerichtlich vorzugehen. Am darauffolgenden Tag sprach das Kreisgericht Fürstenwalde im beschleunigten Verfahren unter Vorsitz der inzwischen verstorbenen Richterin Ky eine Aufenthaltsbeschränkung aus.
II. Aufenthaltsbeschränkungs-Verfahren
1. Vorbereitung durch das MfS
a) Die Hauptabteilung IX – Arbeitsgruppe Recht – des MfS verfaßte ein Schriftstück „Zu den rechtlichen Möglichkeiten, Robert Havemann … eine Aufenthaltsbeschränkung aufzuerlegen”. Rechtsgrundlage sollte die Verordnung über Aufenthaltsbeschränkung (ABVO) vom 24. August 1961 (GBl. DDR II 343) sein. Diese Überlegungen wurden vom stellvertretenden Leiter der Hauptabteilung IX des MfS gebilligt.
Die einschlägigen Bestimmungen der ABVO in der Fassung vom 12. Januar 1968 (GBl. DDR I 97) lauteten:
§ 2 Durch die Aufenthaltsbeschränkung wird dem Verurteilten der Aufenthalt an bestimmten Orten der Deutschen Demokratischen Republik untersagt. Die Organe der Staatsmacht sind aufgrund des Urteils berechtigt, den Verurteilten zum Aufenthalt in bestimmten Orten oder Gebieten zu verpflichten.
§ 3 (1) Auf Verlangen der örtlichen Organe der Staatsmacht kann, auch ohne daß die Verletzung eines bestimmten Strafgesetzes vorliegt, durch Urteil des Kreisgerichts einer Person die Beschränkung ihres Aufenthalts auferlegt werden, wenn durch ihr Verhalten der Allgemeinheit oder dem Einzelnen Gefahren entstehen, oder die öffentliche Sicherheit und Ordnung bedroht ist. § 2 dieser Verordnung findet Anwendung.
(2) (aufgehoben)
(3) Die Bestimmungen der Strafprozeßordnung finden entsprechende Anwendung.
Das MfS kam in Nr. 1 „Rechtsgrundlage” zu der Rechtsansicht, die Verordnung schließe es nicht aus, den Aufenthalt – im Sinne eines Aufenthaltsgebotes – auf ein Grundstück zu begrenzen. Bei Nr. 2 „Verfahrensweise” heißt es u. a.:
„Durch einen verantwortlichen Staatsanwalt der Abteilung I des Generalstaatsanwalts der DDR wird das Verlangen des Rates des Kreises Fürstenwalde auf Aufenthaltsbeschränkung bei dem … Kreisgericht Fürstenwalde vertreten. In einem beschleunigten Verfahren wird Havemann gemäß § 3 der genannten Verordnung verurteilt, zeitlich unbefristet sein Grundstück in Grünheide … nicht zu verlassen. Das Verfahren ist sofort durchzuführen. Havemann kann zur Durchführung des Verfahrens vorgeführt werden.”
b) Am Folgetag, dem 26. November 1976, erging ein Beschluß des Rats des Kreises Fürstenwalde, das Verlangen auf Verurteilung Havemanns zur Aufenthaltsbeschränkung auf dessen Grundstück in Grünheide zu stellen. Dem zuständigen Bezirksstaatsanwalt in Frankfurt (Oder) war durch einen Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft telefonisch angekündigt worden, daß der Rat des Kreises ein entsprechendes Verlangen bei dem Kreisstaatsanwalt stellen und letzterer direkt von der Generalstaatsanwaltschaft angeleitet werde.
2. Einschaltung der Staatsanwaltschaft
Der Kreisstaatsanwalt P wurde am Morgen desselben Tages von dem – inzwischen verstorbenen – Leiter der Abteilung I der Generalstaatsanwaltschaft Wi in Fürstenwalde aufgesucht; dabei wurde ihm das Verlangen des Rates des Kreises übergeben. Wi erteilte P den Auftrag, einen dem Verlangen entsprechenden Antrag bei dem Kreisgericht Fürstenwalde zu stellen. Zugleich besprachen sie den Inhalt des Artikels Havemanns im SPIEGEL. P sah nach den Feststellungen des Tatrichters die materiellen Voraussetzungen für eine Aufenthaltsbeschränkung als erfüllt an. Auf seine Nachfrage wegen des Aufenthaltsgebotes auf das Grundstück versicherte ihm Wi, diese Auslegung sei möglich; das hielt P nach Auffassung des Tatrichters für vertretbar. Aufgrund von Durchführungsbestimmungen zur ABVO sah er sich – so der Tatrichter – zudem verpflichtet, das Verlangen des Kreises ohne eigenes Prüfungsrecht zu vertreten. Wi wies P ferner darauf hin, daß er die Durchführung eines – bei Vorliegen eines Geständnisses möglichen – beschleunigten Verfahrens beantragen solle. P stellte deshalb noch am selben Tag beim Kreisgericht Fürstenwalde einen entsprechenden Antrag.
3. Verfahren vor dem Kreisgericht
a) Am Nachmittag dieses Tages, um 15:15 Uhr, wurde Havemann durch Volkspolizisten dem Kreisgericht zugeführt. Um 15:40 Uhr begann die Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren unter Vorsitz der Richterin Ky (Inoffizielle Mitarbeiterin des MfS), an der P mitwirkte. Auf Antrag von P wurde die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Havemann bestätigte, den SPIEGEL-Artikel verfaßt zu haben, bestritt allerdings, darin zu Handlungen gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufgerufen zu haben. Auf Antrag von P verkündete die Vorsitzende das – mit einem Absatz begründete – Urteil, mit dem eine Aufenthaltsbeschränkung auf das Grundstück in Grünheide ausgesprochen wurde. Um 16:20 Uhr wurde die Verhandlung geschlossen. P übersandte seine Verfahrensunterlagen weisungsgemäß der Generalstaatsanwaltschaft. Die Vorsitzende verfügte die Anfertigung von Urteilsausfertigungen für das OG, die Generalstaatsanwaltschaft und das MfS.
b) Ein Schreiben Havemanns an das Kreisgericht vom Folgetag, dem 27. November 1976, mit dem er Einsicht in das Hauptverhandlungsprotokoll begehrte, wurde vom Kreisgericht an die Kreisdirektion des MfS in Fürstenwalde mit der Bitte weitergeleitet, „die zuständigen Genossen im Ministerium hiervon in Kenntnis zu setzen und über den weiteren Verfahrensweg zu entscheiden”.
c) Rechtsanwalt B legte am 29. November 1976 im Auftrag Havemanns beim Kreisgericht Berufung ein. Am 30. November 1976 erschien Wi in Absprache mit dem MfS bei Havemann, der sich gerade mit B über die Berufungsbegründung beriet, und erklärte sinngemäß, er sei bevollmächtigt mitzuteilen, das Urteil werde nicht weiter vollstreckt, sofern Havemann seine Kontakte zu den Massenmedien abbreche. Gleichwohl überbrachte B die Berufungsbegründung an das Kreisgericht, in der er unter anderem das beschleunigte Verfahren und die Art und Weise der Aufenthaltsbeschränkung („käme einer Haft gleich”) beanstandete.
Noch am selben Tag verschaffte sich die Bezirksverwaltung des MfS Kenntnis von der Berufungsbegründung und leitete den Text an die Zentrale in Berlin weiter. Rechtsanwalt B wurde in das Justizministerium zitiert; dort wurde ihm mitgeteilt, daß er mit sofortiger Wirkung aus dem Anwaltskollegium ausgeschlossen sei. Mit der Abwicklung seiner Kanzlei wurde Rechtsanwalt C betraut, ein Inoffizieller Mitarbeiter des MfS.
4. Berufungsverfahren
a) Der Entscheidung über die Berufung ging eine exakte Abstimmung voraus. In zwei undatierten Maßnahmeplänen („Maßnahmepläne zur Berufung gegen das Urteil …”) skizzierte das MfS das Vorgehen. Darin heißt es u. a.:
„Es sollte die Möglichkeit wahrgenommen werden, die Berufung durch Beschluß als offensichtlich unbegründet zu verwerfen. Damit bekräftigt das Bezirksgericht die Rechtmäßigkeit des Urteils des Kreisgerichts Fürstenwalde. Mit dem Beschluß (Anlage) wird zugleich die Haltlosigkeit der Berufung nachgewiesen. Diese Verfahrensweise schließt die Möglichkeit aus, daß Havemann in einer Berufungsverhandlung eine Basis finden könnte, seine DDR-feindliche Position zu vertreten.”
Dem Maßnahmeplan war eine – schreibtechnisch durch das MfS hergestellte – Kopie eines Entscheidungsentwurfs beigeheftet.
b) Mit Beschluß vom 4. Januar 1977 verwarf der Strafsenat des Bezirksgerichts Frankfurt (Oder) unter Vorsitz des Angeklagten Sch die Berufung durch Beschluß als offensichtlich unbegründet. Beschlußformel und Gründe sind bis auf wenige technische Abweichungen wortgleich mit dem Entscheidungsentwurf, der dem Maßnahmeplan des MfS beigeheftet war. Eine weitere Kopie jenes Entwurfs gelangte zu einem nicht näher aufklärbaren Zeitpunkt auch in die Gerichtsakten. In den Gründen der Entscheidung werden das beschleunigte Verfahren und die Aufenthaltszuweisung auf das Grundstück als zulässig bezeichnet.
Den geistigen Urheber des Beschlußentwurfs konnte das Landgericht nicht klären. Festgestellt ist, daß der Entwurf vor der Entscheidung durch das OG und das MfS geprüft und gebilligt worden war. Das Landgericht hält es für möglich, daß der Angeklagte Sch, der eine Kenntnis von den Aktivitäten des MfS bestritten hat, den – dem Maßnahmeplan des MfS beigehefteten – Beschlußentwurf verfaßt und an das OG weitergeleitet und daß das OG den Entwurf an das MfS zur Prüfung weitergegeben hat. Das Landgericht hält es weiter für möglich, daß das OG nach Abstimmung mit dem MfS dem Angeklagten Sch sein Einverständnis signalisiert hatte. Der Angeklagte Sch hat sich dahin eingelassen, daß nach seiner Erinnerung das OG seinem Entscheidungsentwurf zugestimmt habe. Festgestellt ist, daß er seinen Beisitzern in der Beratung erklärt habe, die Sache sei mit dem OG besprochen worden. Das Landgericht konnte sich indes nicht davon überzeugen, daß der Angeklagte Sch von der Abstimmung zwischen dem OG und dem MfS gewußt habe.
c) Der Beschluß des Bezirksgerichts wurde Havemann bekanntgegeben, jedoch nicht ausgehändigt. Am 24. Januar 1977 ging dem Rat des Kreises das Verwirklichungsersuchen des Kreisgerichts zu. Ohne daß sich der Rat damit weiter befaßte, wurde die Aufenthaltsbeschränkung durch Einheiten des MfS und der Volkspolizei – bei offizieller Zuständigkeit der Generalstaatsanwaltschaft – durchgeführt. Nach rund zweieinhalb Jahren, am 9. Mai 1979, verkündete die Generalstaatsanwaltschaft die Aufhebung der Beschränkung.
5. Verwirklichung der Entscheidung
Einheiten des MfS und der Volkspolizei überwachten aufgrund der Aufenthaltsbeschränkung – ergänzend zur verdeckten Überwachung – jahrelang offen das Grundstück der Havemanns in Grünheide. Havemann, seine Frau und die gemeinsame Tochter wurden beim Verlassen, die wenigen vom MfS zugelassenen Besucher Havemanns wurden beim Betreten des Grundstücks durch einen Wachposten kontrolliert. Den Ort Grünheide durfte Havemann, wenn überhaupt, nur in Begleitung eines Mitarbeiters des MfS verlassen; in diesem Fall wurde er ein weiteres Mal am Ortsausgang von Grünheide überprüft, wo abschließend entschieden wurde, ob er den Ort zu dem angegebenen Ziel verlassen durfte.
III. Devisen-Verfahren
Robert Havemann, dem die Veröffentlichung von Schriften in der DDR verwehrt worden war, erzielte Einkünfte in Form von Devisen durch Veröffentlichungen im Westen. So entstandene Ansprüche und Guthaben hatte er entgegen den Bestimmungen des Devisengesetzes der DDR nicht angemeldet. Bislang waren derartige, durch bekannte Künstler und Schriftsteller begangene Verstöße nicht verfolgt worden. Das änderte sich, als DDR-Schriftsteller, u. a. Stefan Heym, kritische Schriften im Westen veröffentlichten. Am 13. Februar 1979 beschloß das Politbüro der SED eine Verschärfung der Zoll- und Devisenbestimmungen. Schon davor kam es zur Einleitung von Ermittlungsverfahren, so sollten aus der Sicht der Staats- und Parteiführung sowie des MfS mißliebige Schriften verhindert werden.
Auch gegen Havemann wurde ein förmliches Ermittlungsverfahren eingeleitet. Offizielles Untersuchungsorgan war die Zollverwaltung, Abteilung Zollfahndung, die ihr Vorgehen mit der MfS-Untersuchungsabteilung abstimmte.
1. Konzeption des MfS
Am 16. April 1979 fertigte die Hauptabteilung IX des MfS eine „Konzeption zur Durchführung des Ermittlungsverfahrens gegen Robert Havemann”, die von Erich Mielke bestätigt wurde. Das Original der Konzeption wurde später in Akten der Generalstaatsanwaltschaft aufgefunden. In dem Papier wurde das vom MfS vorgeschlagene Vorgehen der Ermittlungsbehörden detailliert beschrieben. Unter anderem wurde auch die Einleitung des Ermittlungsverfahrens durch die Zollverwaltung sowie die Durchsuchung und Beschlagnahme durch die Angeklagte He konzipiert. Die Angeklagte He war seit 1976 Sektorenleiterin der Abteilung Ia bei der Generalstaatsanwaltschaft der DDR, der sie schon vor 1961 angehört hatte. Ab 22. Mai 1979 wurde sie Leiterin der Abteilung Ia. Zum Vorgehen der Angeklagten He heißt es:
„Am 17.4.1979 um 9.00 Uhr wird Havemann auf seinem Grundstück in Grünheide … durch Genossin Staatsanwalt He … aufgesucht und mitgeteilt:
Herr Havemann! Gegen Sie wurde durch die Zollverwaltung … wegen des dringenden Verdachts der Begehung von Straftaten gegen das Devisengesetz gemäß § 17 Abs. 1 Ziff. 1, 2 ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. …”
Neben weiteren an He gerichteten „Vorschlägen” zu Mitteilungen gegenüber Havemann war auch aufgeführt, wie He Einwänden Havemanns begegnen sollte und daß sie ihn auf die Folge der Anordnung der Untersuchungshaft hinweisen sollte, falls er die Ermittlungen beeinträchtigen würde. Ferner wurden die Vernehmung der Ehefrau Havemanns und die Vernehmung Havemanns durch die Zollfahndung „vorgeschlagen”.
b) Am nächsten Tag, dem 17. April 1979, verfügte der Leiter der Zollfahndung, Zollrat Wu (MfS-Mitarbeiter und „Offizier im besonderen Einsatz”), die Einleitung des Ermittlungsverfahrens. Davon wurde die Angeklagte He – sie vertrat den erkrankten Abteilungsleiter – unterrichtet. Ihr war bekannt, daß die Zollverwaltung das Ermittlungsverfahren in Abstimmung mit den Untersuchungsorganen des MfS durchführte. Sie sprach auch mit den Mitarbeitern der Untersuchungsorgane des MfS und erörterte dabei Rechtsfragen und prozessuale Möglichkeiten. Das Landgericht hält es für möglich, daß sich daraus die Konzeption und die unten genannten Maßnahmepläne vom 23. April und 2. Mai 1979 ergeben haben. Das Landgericht hält es indes nicht für erwiesen, daß He sich daran ohne eigene Prüfung der Sach- und Rechtslage – sie hielt die Maßnahmen für rechtlich zulässig – orientiert habe.
2. Ermittlungen der Staatsanwaltschaft
Am 18. April 1979 ordnete He die Durchsuchung der Räume Havemanns in Grünheide und Berlin und die Beschlagnahme von Unterlagen an. Sie nahm selbst an den am 19. und 20. April 1979 erfolgten Durchsuchungen teil, wobei sie Havemann die Einleitung des Ermittlungsverfahrens eröffnete. Über 800 Gegenstände wurden beschlagnahmt, darunter zahlreiche Bücher, der Briefverkehr und die Schreibmaschine Havemanns. Die Durchsuchungen und die Beschlagnahme wurden richterlich bestätigt.
3. Maßnahmepläne und Konzeption des MfS
a) Am 23. April 1979 erstellte das MfS einen „Maßnahmeplan im Ermittlungsverfahren gegen Robert Havemann”. Dieser wird eingeleitet:
„In Fortführung der Verwirklichung der Konzeption … vom 16.4.1979 ist die Durchführung folgender Maßnahmen vorgesehen:”
Es folgen Ausführungen zur Beschuldigtenvernehmung Havemanns am 23. April durch die Zollverwaltung mit Vorgaben zu Art und Inhalt der Befragung. Ferner werden Ausführungen zur Zeugenvernehmung der Ehefrau und der Schwägerin Havemanns gemacht. Die Zeugenvernehmungen sollten durch Mitarbeiter des MfS durchgeführt werden, die durch Dienstausweise der Zollverwaltung legitimiert sein sollten, „wodurch auch weiterhin gewährleistet wird, daß sich alle Untersuchungshandlungen gegenüber Dritten als Maßnahmen der Zollverwaltung der DDR darstellten.”
Der aufsichtsführende Staatsanwalt werde über bestimmte Konten Havemanns Arrestbefehle erlassen und dies Havemann nach Abschluß der Beschuldigtenvernehmung verkünden.
b) Am 2. Mai 1979 erstellte das MfS einen weiteren Maßnahmeplan „in weiterer Verwirklichung der Konzeption”. Vorgesehen ist darin eine weitere Beschuldigtenvernehmung Havemanns durch die Zollverwaltung am 4. Mai 1979. Diese Vernehmung sollte auf der Grundlage eines „detaillierten Vernehmungsplanes” erfolgen. Auch sollte Havemanns Verbindungsmann M zeugenschaftlich durch Mitarbeiter des MfS vernommen werden, die Dienstausweise der Zollverwaltung mit sich führen sollten.
c) Am 15. Mai 1979 legte Mielke Erich Honecker eine von der MfS-Hauptabteilung IX ausgearbeitete „Konzeption zum Abschluß des Strafverfahrens gegen Robert Havemann” vor, die dieser nach gewissen Modifizierungen abzeichnete.
Darin wurde über das Ermittlungsverfahren und dessen Ergebnis (detailliert aufgeführte Verstöße gegen das Devisengesetz) berichtet. Es wurde vorgeschlagen,
„das Verfahren mit einem auf eine Geldstrafe gerichteten Strafbefehl abzuschließen, wodurch Havemann jegliche Möglichkeiten entzogen würden, durch eine weitere Nichtmitwirkung das Verfahren zu verzögern oder in anderer Weise zu beeinträchtigen. Ein Strafbefehlsverfahren ist im vorliegenden Fall, obwohl Havemann nicht geständig ist, möglich und gesetzlich zulässig.”
Vorgeschlagen wurden auch eine Geldstrafe in Höhe von 10.000 Mark und die Einziehung einzelner Gegenstände. Sodann folgten Ausführungen zum weiteren Fortgang des Verfahrens. Das Ermittlungsverfahren sollte an den Generalstaatsanwalt der DDR, Abteilung II, abgegeben werden. Weiter hieß es:
„2. Durch den Generalstaatsanwalt der DDR wird das Verfahren an den Staatsanwalt des Kreises Fürstenwalde mit der Maßgabe übergeben, beim Kreisgericht Fürstenwalde auf der genannten Rechtsgrundlage den Erlaß eines auf eine Geldstrafe in Höhe von 10.000,- Mark, die Einziehung des Videorecorders und des Geldbetrages von 430,- DM sowie die Ersatzeinziehung von 38.275,63 Mark gerichteten Strafbefehls gegen Robert Havemann zu beantragen.
3. Durch das Kreisgericht Fürstenwalde wird am 25.5.1979 der Strafbefehl erlassen und dieser Havemann am gleichen Tage durch den Sekretär des Kreisgerichts persönlich zugestellt. In diesem Zusammenhang wird Havemann aufgefordert, seine im Ausland befindlichen Devisen bei der Staatsbank anzumelden. Sollte Havemann gegen den Strafbefehl innerhalb einer Woche keinen Einspruch einlegen, erlangt er Rechtskraft.
4. Im Falle eines Einspruchs Havemanns gegen den Strafbefehl wird vom Kreisgericht Fürstenwalde in der Zeit vom 11.6. bis 15.6.1979 die Hauptverhandlung angeordnet. Die Hauptverhandlung, deren qualifizierte Vorbereitung und Durchführung über den Generalstaatsanwalt und das Oberste Gericht der DDR sowie das Ministerium der Justiz zu gewährleisten ist, wird beim vorliegenden Sachverhalt gerichtsüblich geführt, wobei zur Verhinderung von Provokationen durch von Havemann über den Prozeßtermin informierte Personen der Gerichtssaal durch einen auszuwählenden Personenkreis besetzt wird. In der DDR akkreditierten Journalisten ausländischer Publikationsorgane wird … die Teilnahme an der Hauptverhandlung verwehrt. Da bei Verhandlungen vor dem Kreisgericht kein Verteidigerzwang besteht, kann Havemann, der die Bestellung eines bei den Gerichten der DDR zugelassenen Rechtsanwaltes ablehnt, sich selbst verteidigen. Im Ergebnis der gerichtlichen Hauptverhandlung wird der gleiche Strafausspruch erfolgen. Legt Havemann gegen das Urteil Berufung ein, wird dieses durch das Bezirksgericht Frankfurt (Oder) durch Beschluß endgültig verworfen. In dem Fall, daß Havemann der Hauptverhandlung unentschuldigt fernbleibt, wird der Strafbefehl rechtskräftig.
5. Nach Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung werden die Geldstrafe sowie die Ersatzeinziehung auf der Grundlage der arretierten Konten Havemanns in einer Höhe von 120.629,91 Mark vollstreckt und der Arrestbefehl anschließend aufgehoben.”
Ferner war in der Konzeption die Einziehung von Gegenständen vorgesehen. Die vorgeschlagene Aberkennung als Verfolgter des Nationalsozialismus, die Entziehung der deswegen gewährten Ehrenpension und die Ersatzeinziehung lehnte Honecker ab. Schließlich war noch die Presseveröffentlichung vorformuliert:
„Frankfurt/Oder (ADN)
Gegen den Bürger Robert Havemann wurde am … vom Kreisgericht Fürstenwalde wegen Verstoßes gegen das Devisengesetz der DDR ein Strafbefehl in Höhe von 10.000,- Mark erlassen. Havemann hatte sich durch den ungenehmigten Abschluß von Verträgen und anderen Handlungen im Ausland ungesetzlich in den Besitz von Devisenwerten gebracht.”
Zollrat Wu verfaßte am selben Tag seinen Schlußbericht.
Das Landgericht konnte weder feststellen, daß der Angeklagten He diese Konzeption vorgelegen habe, noch daß ihr die Abstimmung zwischen Honecker und Mielke zur Kenntnis gelangt sei.
d) Neben der Konzeption vom 15. Mai 1979 hatte das MfS vor Abschluß des Ermittlungsverfahrens noch einen undatierten „Maßnahmeplan zur Vorbereitung und zum Ablauf des Verfahrens gegen Havemann” erarbeitet. Dort hieß es u. a.:
„1. Die Akte wird mit dem Strafbefehlsantrag am 23.5.1979 dem Kreisgericht Fürstenwalde übergeben.
2. Verantwortlich für die Durchführung des Verfahrens ist als Einzelrichter Kreisgerichtsdirektor H [richtig H] (bzw. Richter Kü).
3. Der durch den Richter erlassene Strafbefehl wird Havemann am 25.5.1979 durch einen Boten des Kreisgerichts mit Zustellungsurkunde in die Wohnung gebracht.”
4. Strafbefehlsantrag durch die Staatsanwaltschaft
Nach Sichtung der beschlagnahmten Unterlagen verfügte He am 23. Mai 1979 die Rückgabe verschiedener Gegenstände. Ein weiterer Teil der Gegenstände wurde von der Innenverwaltung eingezogen. Sie verfügte ferner die Aufhebung von Arrestbefehlen, die sie verhängt hatte – ein Arrestbefehl blieb aufrechterhalten – und der von ihr angeordneten Postbeschlagnahme. Die beschlagnahmten Gegenstände leitete He zusammen mit ihrem Strafbefehlsantrag am 23. Mai 1979 an das Kreisgericht Fürstenwalde „zur Entscheidung gemäß § 19 Abs. 1 und 2 Devisengesetz” weiter.
Mit dem – von der Generalstaatsanwaltschaft – gestellten Strafbefehlsantrag vom selben Tag wurde Havemann beschuldigt, Devisenwerte im Ausland vorsätzlich nicht angemeldet und ohne Genehmigung den Umlauf von Devisenwerten veranlaßt zu haben (Vergehen nach § 17 Abs. 1 Nr. 1 und 2 Devisengesetz iVm. § 63 StGB-DDR). He beantragte eine Geldstrafe von 10.000 Mark und die Einziehung bestimmter Gegenstände gemäß § 19 Devisengesetz.
Der Strafbefehlsantrag wich in Teilen der inhaltlichen Begründung von der MfS-Konzeption ab. Auch stellte He – anders als in der Konzeption vorgesehen – den Strafantrag selbst. Jedenfalls aber war ihr – möglicherweise von der Zollverwaltung – vorgeschlagen worden, einen Strafbefehl über 10.000 Mark zu beantragen bzw. durch den Kreisstaatsanwalt P beantragen zu lassen. Diesem Vorschlag ist sie gefolgt, wobei das Landgericht nicht ausschließt, daß sie hierzu aufgrund eigener – von ihr für zutreffend gehaltener – rechtlicher Würdigung gekommen sei.
5. Verfahren bei dem Kreisgericht
a) Beim Kreisgericht Fürstenwalde wurde dessen Direktor, der Angeklagte H, mit der Sache befaßt. Dieser lud – abweichend von der Konzeption und dem Maßnahmeplan des MfS – Havemann am 25. Mai 1979 zu einer Aussprache (§ 271 Abs. 2 StPO-DDR) in das Gericht. In dieser Aussprache, die das MfS mit einem Tonband ohne Kenntnis Havemanns aufzeichnete, gab H ihm den Strafbefehlsantrag bekannt und gewährte ihm rechtliches Gehör. Am Ende der 20 Minuten dauernden Aussprache unterzeichnete und siegelte H den Strafbefehl; dagegen erhob Havemann Einspruch. Das Landgericht hat als nicht erwiesen angesehen, daß H Kenntnis von der Konzeption und dem Maßnahmeplan sowie von der Tonbandaufzeichnung gehabt habe. Es konnte auch nicht ausschließen, daß er das Strafbefehlsverfahren für zulässig und die Geldstrafe für angemessen gehalten und daß er aus sachlichen Motiven gehandelt habe.
b) Wegen des Einspruchs Havemanns erstellte das MfS noch am selben Tage – u. a. zur Vorlage an Mielke – eine „Information über die Durchführung des Strafbefehlsverfahrens gegen Robert Havemann”. Dort hieß es u. a.:
„Aufgrund der Einlegung des Einspruchs gegen den Strafbefehl sollte in weiterer Verwirklichung der Konzeption zum Abschluß des Strafverfahrens vom 15.5.1979 die Durchführung der gemäß § 274 StPO erforderlichen Hauptverhandlung vor dem Kreisgericht Fürstenwalde in der Zeit vom 11. bis 15.6.1979 erfolgen.
Nach Abstimmung mit dem Generalstaatsanwalt, dem Obersten Gericht und dem Ministerium der Justiz erfolgt hierzu ein gesonderter Prozeßvorschlag.”
Darauf fand eine Abstimmung zwischen OG, Generalstaatsanwalt und Justizministerium sowie dem MfS statt und führte zu dem vom MfS gefertigten Prozeßvorschlag („Vorschlag zur Durchführung der gerichtlichen Hauptverhandlung gegen Robert Havemann vor dem Kreisgericht Fürstenwalde”) vom 4. Juni 1979, den Mielke durch handschriftlichen Vermerk genehmigte. Dort hieß es u. a.:
„Es wird vorgeschlagen, die nach der am 25.5.1979 erfolgten Einlegung des Einspruchs Robert Havemanns gegen den erlassenen Strafbefehl gemäß § 274 StPO erforderliche Hauptverhandlung vor dem Kreisgericht Fürstenwalde am 14.06.1979 gerichtsüblich durchzuführen.
Im Rahmen der Vorbereitung und Durchführung der Hauptverhandlung ist vorgesehen: …
2. Die Hauptverhandlung beginnt am 14.6.1979 um 8.00 Uhr und wird in einem 10 bis 12 Zuhörer fassenden Verhandlungsraum durchgeführt. Mit Beginn der Dienstzeit im Kreisgericht um 7.30 Uhr werden die Plätze des Raumes durch Mitarbeiter des MfS eingenommen. … Personen, die an der Hauptverhandlung teilnehmen wollen, werden mit Ausnahme der Ehefrau und des Arztes Havemanns mit der Begründung unzureichenden Platzes abgewiesen. …
4. Die Strafkammer des Kreisgerichts Fürstenwalde führt die Hauptverhandlung als Schöffenverhandlung unter Vorsitz des Direktors, Genossen H, in Anwesenheit des Staatsanwaltes des Kreises Fürstenwalde, Genossen P, durch. Zu Beginn der Hauptverhandlung erfolgt durch den Vorsitzenden eine Darlegung des vorangegangenen Geschehens (Aussprache und Verkündung des Strafbefehls, Gründe für dessen Erlaß und Einspruch Havemanns). Anschließend wird die auf die Sache konzentrierte Beweisaufnahme vorgenommen, wobei aufgrund des bisherigen Verhaltens Havemanns zu erwarten ist, daß ihm die begangenen Devisenstraftaten auf der Grundlage der Sachbeweise nachgewiesen werden müssen, ohne daß er selbst geständig ist. … Im Ergebnis der Beweisaufnahme wird der Staatsanwalt seinen auf eine Geldstrafe in Höhe von 10 000,- Mark gerichteten Strafantrag aufrechterhalten. Sollte Havemann im Verlaufe der Beweisaufnahme oder des ihm zustehenden letzten Wortes feindlich-provokative, nicht den Gegenstand des Strafverfahrens betreffende Äußerungen machen, wird er vom Vorsitzenden verwarnt und ihm bei Fortsetzung seines Verhaltens das Wort entzogen. Legt Havemann gegen das Urteil innerhalb der Berufungsfrist von einer Woche Berufung ein, erfolgt ca. 14 Tage später deren Verwerfung durch Beschluß des Bezirksgerichtes Frankfurt/Oder, wonach das Urteil rechtskräftig wird.
5. …Entscheidet sich Havemann jedoch für die Beauftragung eines in der DDR zugelassenen Rechtsanwaltes und teilt er dies dem Gericht vor dem 14.6.1979 mit, wird die Hauptverhandlung für den 20.6.1979 erneut angesetzt.
6. Über den Verlauf der Hauptverhandlung wird in Ergänzung des Protokolls eine Schallaufzeichnung gefertigt.
Der vorliegende Vorschlag ist mit dem Generalstaatsanwalt, dem Obersten Gericht und dem Ministerium für Justiz abgestimmt.”
Eine Kopie des Prozeßvorschlages wurde später in den Akten der Generalstaatsanwaltschaft aufgefunden. Zur Umsetzung leitete das OG die unteren Gerichtsinstanzen an, ohne daß das Landgericht insoweit die näheren Einzelheiten klären konnte.
c) Am nächsten Tag, dem 5. Juni 1979, bestimmte H den Beginn der Hauptverhandlung auf den 14. Juni 1979. Zur Vorbereitung der Hauptverhandlung bot ihm der Vorsitzende des Berufungssenats des Bezirksgerichts, der Angeklagte Sch, seine „Konsultation” an. Nachdem H das – von beiden für zulässig erachtete – Angebot Sch s angenommen hatte, wurde eine detaillierte schriftliche „Verhandlungskonzeption” erstellt.
Sie enthielt eine – in direkter Rede abgefaßte – Sprechanweisung für H nach Art eines „Drehbuchs” zur Befragung Havemanns – teilweise anhand eines Fragenkatalogs (auch eine von einer Schöffin zu stellende Frage war wörtlich vorformuliert), Vorgaben für von H anzuordnende verhandlungsleitende Verfügungen und die einzuführenden Beweismittel. Es wurden Varianten möglichen Verhaltens Havemanns (etwa Antrag auf einen „internationalen” Verteidiger) durchgespielt. Die Verhandlung sollte öffentlich sein, wegen „Besetzung des Verhandlungssaales” sollten aus „Platzmangel” jedoch nur die Ehefrau, der Arzt und ein eventueller Verteidiger Havemanns zugelassen werden. Drei – vom Verhalten Havemanns abhängige – Urteilsvoten waren entworfen worden.
Das Landgericht hält es für möglich, daß Sch und H Verhandlungskonzeption und Voten selbst oder unter Anleitung oder zumindest unter Billigung des OG erstellt hätten. Sch hat sich dahin eingelassen, diese Unterlagen seien an das OG weitergeleitet worden und dieses habe signalisiert, daß gegen Verfahren und Entscheidung keine Beanstandungen erhoben würden. Verhandlungskonzeption und Voten wurden nicht im MfS gefertigt, dort aber später aufgefunden.
d) Mit Schreiben vom 8. Juni 1979 beantragte Havemann die Aussetzung des Verfahrens, unter anderem, weil er noch auf der Suche nach einem vertrauenswürdigen Verteidiger war. H wies diesen Antrag mit Schreiben vom 12. Juni 1979 zurück. Dieses Antwortschreiben hatte sich H von einer anderen Justizstelle vorbereiten oder bestätigen lassen. Es wurde später beim MfS aufgefunden.
In einem weiteren Schreiben vom 13. Juni 1979 – einen Tag vor dem Hauptverhandlungstermin – erhob Havemann nochmals Einspruch gegen die Terminierung, das Schreiben gab seine Ehefrau um 16:00 Uhr beim Kreisgericht ab. Der Wortlaut dieses Schreibens gelangte noch am selben Tag zur MfS-Zentrale nach Berlin, die – ebenfalls noch am selben Tage – für Mielke einen Bericht fertigte, wonach dem Ansinnen Havemanns § 62 StPO-DDR entgegenstehe; abschließend hieß es im Bericht:
„Aufgrund des provokativen Verhaltens Havemanns wird in Verwirklichung der bestätigten Konzeption vom 4.6.1979 zur Durchführung der gerichtlichen Hauptverhandlung die gerichtliche Hauptverhandlung am 14.6.1979 um 8.00 Uhr eröffnet. Erscheint Havemann, der dazu form- und fristgemäß geladen wurde, bis 9.00 Uhr nicht, wird das Gericht das unentschuldigte Fernbleiben feststellen und gemäß § 275 StPO seinen Einspruch verwerfen, so daß der erlassene Strafbefehl rechtskräftig wird.
Dieser Vorschlag wurde mit dem Vizepräsidenten des Obersten Gerichts der DDR, Genossen Sa, und dem Stellvertreter des Generalstaatsanwaltes der DDR, Genossen Bo, abgestimmt. Er steht in voller Übereinstimmung mit der Strafprozeßordnung und der Rechtspraxis der DDR.”
Das Landgericht konnte nicht klären, ob H und Sch in die im letzten Absatz genannte Abstimmung einbezogen gewesen seien.
e) Der erste Hauptverhandlungstag vor dem Kreisgericht begann, wie vorgesehen, am 14. Juni 1979 unter Mitwirkung des Kreisstaatsanwalts P, der von der Generalstaatsanwaltschaft instruiert worden war. Sch hielt sich im Gerichtsgebäude – möglicherweise im Dienstzimmer H s – für eventuelle Rückfragen bereit.
Havemann erschien in Begleitung seiner Ehefrau, seines Arztes (Inoffizieller Mitarbeiter des MfS) und eines spanischen Rechtsanwaltes; letzterer durfte nicht an der Verhandlung teilnehmen. Der Zuhörerraum war schon lange vor Verhandlungsbeginn mit MfS-Mitarbeitern belegt. Die Hauptverhandlung begann exakt so, wie es in der Verhandlungskonzeption vorgesehen war. Nachdem sein Antrag auf Zulassung seines spanischen Verteidigers zurückgewiesen wurde, beantragte Havemann, Rechtsanwalt G als seinen Verteidiger zuzulassen. Daraufhin vertagte H die Sitzung und bestimmte als neuen Termin den 20. Juni 1979 – wie für einen solchen Fall im Prozeßvorschlag und der Konzeption des MfS vorgesehen. Von der Hauptverhandlung hatte das MfS eine heimliche Tonaufzeichnung gefertigt.
f) Noch am 14. Juni 1979 – dem Tag der Hauptverhandlung – fertigte das MfS eine Information, die Mielke Honecker zur Unterrichtung vorlegte. Beide stimmten mit dem Staatssekretär des Justizministeriums ab, ein Ersuchen des spanischen Rechtsanwaltes auf Übernahme der Verteidigung unbeantwortet zu lassen.
Zur Vorbereitung des zweiten Verhandlungstages kam es zu einer weiteren Abstimmung zwischen dem OG, der Generalstaatsanwaltschaft und dem Justizministerium mit dem MfS, die die MfS-Untersuchungsabteilung in einer „Konzeption zur Fortführung der gerichtlichen Hauptverhandlung gegen Robert Havemann vor dem Kreisgericht Fürstenwalde” festhielt und Mielke zukommen ließ. Darin hieß es u. a.:
„Entsprechend dem Beschluß des Kreisgerichts Fürstenwalde vom 14.6.1979 wird die Hauptverhandlung gegen Robert Havemann unter Zugrundelegung der im Vorschlag vom 4.6.1979 enthaltenen Festlegungen (Öffentlichkeit, Nichtzulassung von ausländischen Korrespondenten, konzentrierte Verhandlungsführung) am 20.6.1979 um 8.00 Uhr fortgesetzt.
Da das Kreisgericht Fürstenwalde bisher weder von Havemann noch einem Rechtsanwalt darüber in Kenntnis gesetzt wurde, daß Havemann einen in der DDR zugelassenen Rechtsanwalt mit seiner Verteidigung beauftragte, ist eine Fortsetzung der provokativen Aktivitäten Havemanns zur Verhinderung einer ordnungsgemäßen Durchführung der Hauptverhandlung zu erwarten.
Mit dem Ziel der weiteren Durchführung und Beendigung des Verfahrens vor dem Kreisgericht Fürstenwalde ist vorgesehen:
1. Bleibt Havemann unentschuldigt der Hauptverhandlung fern, wird diese um 8.30 Uhr fortgesetzt, wobei in der Beweisaufnahme eine Verlesung und Wertung der vorwiegend in schriftlicher Form vorliegenden Beweise erfolgt.
2. Erscheint Havemann ohne einen in der DDR zugelassenen Rechtsanwalt und beantragt mit der Begründung, daß es ihm noch nicht möglich war, einen Verteidiger zu wählen, wird dieser Antrag abgelehnt und die Verhandlung fortgesetzt, da Havemann im Ermittlungs-, Strafbefehls- und bisherigen Gerichtsverfahren ausreichend Gelegenheit zur Wahl eines Verteidigers hatte. Sein Recht, sich in der weiteren Verhandlung gemäß § 61 StPO selbst zu verteidigen, bleibt davon unberührt. Verläßt Havemann daraufhin die gerichtliche Hauptverhandlung, erfolgt gemäß § 216 Abs. 3 StPO die Fortsetzung in seiner Abwesenheit. In gleicher Weise wird verfahren, wenn Havemann kurzfristig noch einen Verteidiger benennt bzw. einen zugelassenen Rechtsanwalt zur Verhandlung mitbringt und erklärt, daß noch keine Akteneinsicht genommen werden konnte. Dabei wird insbesondere darauf verwiesen, daß das Gericht diese seit dem 14.6.1979 durchgehend ermöglicht habe. Dem Rechtsanwalt wird nach ordnungsgemäßer Einreichung der Strafprozeßvollmacht die Teilnahme gestattet.
3. Teilt Havemann dem Gericht vor der Hauptverhandlung, mit deren Beginn oder in ihrem Verlauf mit, daß seine Teilnahme aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich ist, wird sein Gesundheitszustand unter Einbeziehung des behandelnden Arztes, oder wenn dies nicht möglich ist, eines territorial zuständigen Facharztes geprüft und im Ergebnis dessen sein diesbezüglicher Antrag auf Vertagung der Hauptverhandlung abgelehnt.
4. Wird durch Havemann im Verlaufe der Hauptverhandlung durch provokative oder andere Verhaltensweisen der Verlauf der Hauptverhandlung gestört, erfolgt nach entsprechender Ermahnung bei Fortsetzung derselben sein zeitweiliger Ausschluß und gemäß § 231 StPO die Verhandlung in seiner Abwesenheit.
5. Etwa eine Stunde nach Abschluß der Hauptverhandlung erfolgt die Verkündung des Urteils.
Die vorliegende Konzeption ist mit dem Ministerium für Justiz, dem Obersten Gericht und dem Generalstaatsanwalt abgestimmt.”
g) Auch vor dem zweiten Verhandlungstag, der wie vorgesehen am 20. Juni 1979 stattfand, kam es zu einer Konsultation zwischen H und Sch, der sich wiederum während der Hauptverhandlung im Kreisgericht bereithielt. Das Landgericht hält es nicht für erwiesen, daß beide von der Abstimmung der genannten Konzeption Kenntnis gehabt hätten.
Havemann erschien zur Hauptverhandlung in Begleitung seiner Ehefrau und seines Arztes; auf die Bestellung von Rechtsanwalt G als Verteidiger hatte er vorerst verzichtet. Er beantragte die Einstellung des Verfahrens und wollte dies näher begründen; H verwies ihn auf das Schlußwort. Den Einstellungsantrag wies er ohne Beratung mit den Schöffen unter Berufung auf § 223 StPO-DDR zurück. Die Beweisaufnahme wurde bei unwesentlichen Abweichungen – inhaltlich der von H erstellten Verhandlungskonzeption entsprechend – durchgeführt. Staatsanwalt P – dem das Landgericht sachfremde Motive oder eine Kenntnis der Aktivitäten des MfS nicht nachgewiesen hat – beantragte die Bestätigung des Strafbefehls. Havemann beantragte unter Überreichung einer ausführlichen schriftlichen Erklärung nochmals die Einstellung des Verfahrens.
Nach einer Unterbrechung von höchstens 45 Minuten verkündete H das Urteil, das er nach einer Beratung mit den Schöffen von längstens 15 Minuten abdiktiert hatte. Havemann wurde (dem Strafbefehl entsprechend) wegen mehrfacher Devisenvergehen nach § 17 Abs. 1 Nr. 1 und 2 des Devisengesetzes zu einer Geldstrafe von 10.000 Mark verurteilt; ferner wurden bestimmte Gegenstände eingezogen.
Das MfS hatte den zweiten Hauptverhandlungstag noch umfassender als den ersten begleitet. Der Gerichtssaal war wiederum mit MfS-Angehörigen „besetzt” worden. Die Verhandlung wurde erneut mit versteckten Mikrofonen aufgezeichnet. Ferner wurden Baumaßnahmen mit Preßlufthämmern initiiert, um Journalisten die Durchführung von Interviews zu erschweren. Über die Hauptverhandlung erstattete das MfS Mielke Bericht.
6. Berufungsverfahren
a) Am 27. Juni 1979 legte Rechtsanwalt G als Verteidiger Havemanns Berufung ein, die er ausführlich begründete. Er beanstandete das Strafbefehlsverfahren, die unvollständige Aufklärung des Sachverhalts, die rechtliche Würdigung, die Höhe der Strafe und die Einziehung einzelner Gegenstände. Er beantragte Freispruch, hilfsweise Aufhebung und Zurückverweisung.
b) Wie schon in der von Honecker abgezeichneten MfS-Konzeption vom 15. Mai 1979 vorgesehen – und entsprechend der Abstimmung zwischen den zentralen Justizorganen und dem MfS – verwarf der II. Strafsenat des Bezirksgerichts Frankfurt (Oder) am 18. Juli 1979 unter Vorsitz des Angeklagten Sch die Berufung einstimmig als offensichtlich unbegründet (§ 293 Abs. 3 StPO-DDR).
Vor dieser Entscheidung war Sch wiederum durch das OG angeleitet worden. Ihm stand ein Beschlußentwurf als Vorlage zur Verfügung. Das Landgericht kann nicht ausschließen, daß er diesen Entwurf selbst vorbereitet, dem OG zugeleitet und von dort das Einverständnis signalisiert bekommen habe. Der Verwerfungsbeschluß stimmte in der Formel und in weiten Teilen der Begründung mit dem Entwurf überein. Ob Sch von der Abstimmung zwischen den zentralen Justizbehörden mit dem MfS sowie zwischen Honecker und Mielke gewußt habe, hat das Landgericht nicht festgestellt. Das Landgericht konnte ihm auch nicht nachweisen, daß er das Verfahren und die Entscheidung für gesetzwidrig gehalten habe.
c) Am Tag der Beschlußverwerfung erfolgte eine Information der MfS-Untersuchungsabteilung, in der u. a. festgehalten ist:
„Der Berufungssenat des Bezirksgerichts von Frankfurt (Oder) hat mit Beschluß vom 18.07.1979 die Berufung in der Strafsache gegen Robert Havemann sowohl inhaltlich als auch hinsichtlich der formalrechtlichen Anwürfe als unbegründet in vollem Umfang zurückgewiesen.
Dieser Beschluß wurde mit dem Vizepräsidenten des Obersten Gerichts der DDR, Sa, abgestimmt …”
B.
Der Freispruch hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Rechtsfehlerhaft ist die Verneinung der objektiven und subjektiven Voraussetzungen der Rechtsbeugung im Aufenthaltsbeschränkungs-Verfahren, an dem die Angeklagten P und Sch mitgewirkt haben. Rechtsfehlerhaft ist auch die Verneinung des Rechtsbeugungsvorsatzes der Angeklagten He, P, H und Sch im Devisen-Verfahren.
I. Der objektive Tatbestand der Rechtsbeugung ist in beiden Gerichtsverfahren verwirklicht.
Für Richter und Staatsanwälte der DDR hat der Bundesgerichtshof in inzwischen gefestigter Rechtsprechung drei Fallgruppen als mögliche Rechtsbeugungstatbestände aufgezeigt (vgl. BGHSt 40, 30, 42 f.; 41, 247, 254; BGHR StGB § 336 DDR-Recht 25):
- Erstens: Fälle, in denen Straftatbestände unter Überschreitung des Gesetzeswortlauts oder unter Ausnutzung ihrer Unbestimmtheit bei der Anwendung derart überdehnt worden sind, daß eine Bestrafung als offensichtliches Unrecht anzusehen ist.
- Zweitens: Fälle, in denen die verhängte Strafe in einem unerträglichen Mißverhältnis zu der abgeurteilten Handlung gestanden hat, so daß die Strafe, auch im Widerspruch zu Vorschriften des DDR-Strafrechts, als grob ungerecht und schwerer Verstoß gegen die Menschenrechte erscheinen muß.
- Drittens: Menschenrechtsverletzungen durch die Art und Weise der Durchführung von Verfahren, namentlich Strafverfahren, in denen die Strafverfolgung und die Bestrafung überhaupt nicht der Verwirklichung von Gerechtigkeit, sondern der Ausschaltung des politischen Gegners oder einer bestimmten sozialen Gruppe gedient haben.
Zwischen den Fallgruppen gibt es fließende Übergänge und Mischfälle (vgl. BGHSt 41, 247, 261 f.; Willnow JR 1997, 265, 269 f.). In solchen Fällen kann eine Gesamtbetrachtung der Elemente aller drei Fallgruppen geboten sein. Das Devisen-Verfahren war objektiv rechtsbeugerisch allein im Blick auf eine willkürliche Verfahrensgestaltung unter Einflußnahme des MfS. Das Aufenthaltsbeschränkungs-Verfahren war darüber hinaus schon objektiv rechtsbeugerisch; dieses Verfahren ist zwar kein Strafverfahren im eigentlichen Sinne, steht einem solchen für die hier zur Entscheidung stehenden Rechtsfragen aber gleich.
1. Im Fall der Verurteilung Havemanns wegen Devisenvergehen weist die landgerichtliche Wertung, daß die Angeklagten He, P, H und Sch weder Straftatbestände unter Überschreitung des Gesetzeswortlauts oder unter Ausnutzung ihrer Unbestimmtheit überdehnt noch eine Strafe verhängt haben, die in einem unerträglichen Mißverhältnis zu der abgeurteilten Handlung steht, keinen Rechtsfehler auf.
Das gilt hier auch für die Verfahrensgestaltung, soweit sie die für sich problematischen Aspekte der Wahl des Strafbefehlsverfahrens und der Verwerfung der Berufung als offensichtlich unbegründet betrifft. Diese Vorgehensweisen sind jedenfalls nicht so offensichtlich rechtswidrig, daß sich allein daraus schon eine Rechtsbeugung durch die Angeklagten P, Sch, He und H ergeben müßte.
2. Rechtsfehlerhaft ist die Verneinung von Willkür durch das Landgericht jedoch im Fall der Verurteilung Havemanns zu einer Aufenthaltsbeschränkung. Hier wurde durch die Urteile des Kreisgerichts Fürstenwalde und des Bezirksgerichts Frankfurt (Oder) der Wortlaut von §§ 2 und 3 ABVO offensichtlich rechtswidrig überdehnt. Im Rahmen der Gesamtbetrachtung kommt der Art und Weise und der Dauer des Vollzuges der Aufenthaltszuweisung Gewicht zu. Ferner ist die Gestaltung des gerichtlichen Verfahrens dabei zu berücksichtigen, und zwar bereits ohne die Besonderheiten, wie sie sich hier durch die Einflußnahme des MfS ergeben haben. Im Ergebnis wurden Menschenrechte Havemanns derart schwerwiegend verletzt, daß das richterliche und staatsanwaltschaftliche Vorgehen den objektiven Tatbestand der Rechtsbeugung erfüllt. Der Umstand, daß sich die DDR aus Gründen, die in der Person Havemanns lagen, ersichtlich gescheut hat, ein Strafverfahren zu initiieren wie etwa im Fall Bahro (vgl. Senatsbeschluß vom 26. November 1997 - 5 StR 131/97 - BGHR StGB § 336 Konkurrenzen 1), ändert an dieser Bewertung nichts.
a) Die Verordnung über Aufenthaltsbeschränkung vom 24. August 1961 (GBl. DDR II 343) erging aufgrund eines Beschlusses der Volkskammer vom 11. August 1961. Sie hatte zunächst zwei Stoßrichtungen: Zum einen ermächtigte sie die Strafgerichte, zusätzlich zur Freiheitsstrafe oder bei einer bedingten Verurteilung „auf eine Beschränkung des Aufenthalts des Verurteilten” zu erkennen, wenn „die Fernhaltung der Person von bestimmten Orten und Gebieten im Interesse der Allgemeinheit oder eines einzelnen geboten oder die öffentliche Sicherheit und Ordnung bedroht ist” (§ 1 Abs. 1 und 2 ABVO); zum anderen sah die Verordnung die – im Fall Havemann angewandte – Ermächtigung zur Aufenthaltsbeschränkung als eine Art Prävention zur Gefahrenabwehr – unabhängig vom Vorliegen eines Strafverfahrens – vor (§ 3 Abs. 1 ABVO). Mit Inkrafttreten des Strafgesetzbuches der DDR vom 12. Januar 1968 (GBl. I 1), das in § 51 StGB-DDR eine eigene Aufenthaltsbeschränkung, ausgestaltet als Zusatzstrafe, regelte, wurden die strafrechtlichen Teile der Verordnung zur Aufenthaltsbeschränkung aufgehoben, nämlich §§ 1, 4 ABVO (zusätzlich § 3 Abs. 2 ABVO, der die Anordnung einer Arbeitserziehung regelte); aufrechterhalten blieb die Ermächtigung zur Anordnung einer Aufenthaltsbeschränkung zur Gefahrenabwehr in § 2, §3 Abs. 1, §§ 5 und 6 ABVO (§ 4 des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch und zur Strafprozeßordnung der DDR vom 12. Januar 1968 - GBl. I 97). § 6 ABVO ermächtigte die Minister des Innern und der Justiz, Durchführungsbestimmungen zu erlassen. Soweit ersichtlich ist dies nur durch die Erste Durchführungsbestimmung zur Verordnung über Aufenthaltsbeschränkung vom 24. August 1961 (GBl. DDR II 344) geschehen: Zuständig im Sinne von § 3 ABVO sind demnach die örtlichen Volksvertretungen und ihre Räte. Die Folgen eines Verstoßes gegen eine ausgesprochene Aufenthaltsbeschränkung sind in der Verordnung nicht geregelt. Erst § 238 StGB-DDR sah ab 1968 (später mehrfach geändert) eine Strafnorm bei Verstößen gegen die gerichtlich ausgesprochene Aufenthaltsbeschränkung vor (vgl. Strafrecht der DDR, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 5. Aufl. 1987, § 238 Anm. 5).
§ 3 Abs. 1 ABVO ist nach seinem Wortlaut so zu verstehen, daß das Kreisgericht auf Antrag der örtlichen Organe der Staatsmacht (hier des Rates des Kreises) durch Urteil eine Aufenthaltsbeschränkung nach § 2 Satz 1 – also ein Verbot, sich an bestimmten Orten aufzuhalten – aussprechen konnte; die Anordnung durfte zeitlich unbegrenzt erfolgen. In Vollziehung der gerichtlichen Untersagung waren die Organe der Staatsmacht dann berechtigt, auch ein Gebot zum Aufenthalt in bestimmten Orten oder Gebieten auszusprechen.
Die Verordnung ist in der DDR selbst – soweit ersichtlich – nicht kommentiert worden. In § 51 StGB-DDR, der in den entsprechenden Kommentaren der DDR erläutert ist, liegt jedoch eine – allerdings allein für das Strafverfahren – ähnliche Regelung vor, die ebenfalls sowohl eine Anordnung der Aufenthaltsbeschränkung durch das Gericht als auch eine solche durch die „staatlichen Organe” kennt.
In der 2. Auflage des Strafgesetzbuchkommentars der DDR von 1970 ist der Begriff „Ort” nicht definiert. Dort werden als Beispiele genannt: Wohn- und Tatort, Großstädte und Stadtkreise. Müsse einem Täter die Freizügigkeit nur innerhalb seines Wohnortes beschränkt werden, könne dies bei bestimmten Straftaten auch durch die Anwendung und entsprechende Ausgestaltung der Kontroll- und Erziehungsmaßnahmen nach § 48 StGB-DDR erreicht werden. Die Kommentatoren – sich noch eng an den Wortlaut des § 51 Abs. 1 StGB-DDR haltend – dachten ersichtlich nicht an die Möglichkeit, daß einem Täter durch diese Regelung ein Hausarrest auferlegt werden könnte. Dies war nicht Sinn und Zweck dieser Zusatzstrafe.
b) Erst das Kreisgericht Fürstenwalde und das Bezirksgericht Frankfurt/Oder legten die Aufenthaltsbeschränkungsverordnung entgegen ihrem eindeutigen Wortlaut und Sinn erweiternd in dem Sinne der Anordnung eines Hausarrests aus und verboten Havemann, sich an einem anderen Ort als auf seinem Grundstück in Grünheide aufzuhalten. Dieser ausgesprochene – zeitlich nicht begrenzte – Hausarrest stellt eine willkürliche Freiheitsentziehung von Havemann dar. Die Gerichte haben eine sowohl in Voraussetzungen als auch Rechtsfolgen bereits sehr unbestimmte Regelung zweifach erweiternd und damit überdehnend ausgelegt: Zum einen haben sie die Aufenthaltsbeschränkung – das Verbot, an einem bestimmten Ort Aufenthalt zu nehmen – erweiternd so ausgelegt, daß sie praktisch zu einer Aufenthaltsverpflichtung – einer Verpflichtung, an einem konkreten Ort Aufenthalt zu nehmen – wurde; zum anderen haben sie diese Aufenthaltsverpflichtung erweiternd auf ein Grundstück beschränkt. Ob die Voraussetzungen einer solchen Aufenthaltsbeschränkung nach § 3 Abs. 1 ABVO überhaupt vorlagen, ob durch das Verhalten von Havemann der Allgemeinheit oder dem einzelnen Gefahren entstanden sind oder ob durch sein Verhalten die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus der damaligen Sicht der Justizorgane bedroht war, braucht deswegen nicht weiter erörtert zu werden.
Erst in der – nach Abschluß der Verfahren gegen Havemann erschienenen – 3. Auflage des Strafgesetzbuchkommentars der DDR von 1981 ist der Begriff „Ort” definiert worden. „Orte” sind danach territoriale Einheiten im staatsrechtlichen Sinne. Aufenthaltsbeschränkungen, aber auch Aufenthaltsverpflichtungen konnten sich jedoch auch – hier gehen die Kommentatoren über ihre eigene Definition hinaus – auf bestimmte Räumlichkeiten beziehen, ohne daß allerdings die Beschränkung der Aufenthaltsverpflichtung auf das Haus des Betroffenen – der Fall Havemann – als Beispiel ausdrücklich genannt wird. Auf diese – erst nach den Entscheidungen der Angeklagten erschienenen – Kommentierung können sich diese zu ihrer Entlastung nicht berufen. Offensichtlich wurde hier stillschweigend die menschenrechtswidrige Auslegung des Kreisgerichts Fürstenwalde, die vom Bezirksgericht Frankfurt (Oder) gebilligt worden war, übernommen.
3. Beide Gerichtsverfahren waren zudem rechtsbeugerisch durch die konkrete Form der Einflußnahme. Rechtsbeugung im Sinne von Willkür durch schwere Menschenrechtsverletzungen kann auch durch die Art und Weise der Durchführung von Verfahren begangen werden, namentlich wenn die Strafverfolgung und die Bestrafung überhaupt nicht der Verwirklichung von Gerechtigkeit (Art. 86 der DDR-Verfassung), sondern der Ausschaltung des politischen Gegners gedient hat (BGHSt 40, 30, 43; 41, 247, 254; 41, 317, 347; 42, 332, 341; BGHR StGB § 336 DDR-Recht 25).
a) Insoweit hat der Bundesgerichtshof insbesondere an „Drehbuch-Fälle” gedacht (BGHSt 41, 317, 347; BGHR StGB § 336 DDR-Recht 25; Willnow aaO S. 267). Das sind jedenfalls Verfahren, in denen von vornherein keine justizförmige Entscheidungsfindung vorlag, sondern vielmehr das Ergebnis vorgegeben war bis hin zu detaillierten Vorgaben zum Weg, auf dem – auf scheinbar justizförmige Art und Weise – dieses Ergebnis erreicht werden sollte. In solchen Fällen liegt Rechtsbeugung für denjenigen Justizangehörigen, der „Akteur” eines solchen „Drehbuchs” ist, auch dann vor, wenn das Ergebnis des Verfahrens für sich betrachtet noch keine willkürliche Rechtsanwendung darstellt. Solche Umstände hat das Landgericht – nicht nur im Fall der Aufenthaltsbeschränkung, sondern gerade auch im Fall der Verurteilung Havemanns wegen Devisenvergehen – rechtsfehlerfrei festgestellt.
aa) Die Gerichtsverfahren waren Teil einer jahrzehntelangen und auf verschiedene Weise praktizierten Verfolgung Havemanns als politischer Gegner. Beide Verfahren wurden zwischen den zentralen Justizorganen einerseits sowie dem MfS und der Staatsführung der DDR auf der anderen Seite umfassend (horizontal) abgestimmt. Die Abstimmung umfaßte auch die Weitergabe der Anordnungen zur Verfahrensgestaltung (vertikale Umsetzung innerhalb der Justiz). Das belegen insbesondere die detaillierten Konzeptionen und Maßnahmepläne des MfS, die „Drehbücher” für die „Inszenierung” der Verfahren durch die zur Entscheidung berufenen Justizorgane darstellten.
bb) Aus der Sichtweise der obersten Organisationsebenen dienten die Verfahren überhaupt nicht der Verwirklichung von Gerechtigkeit. Nach den Vorstellungen der „Drehbuch-Regisseure” sollte nicht Recht auf einen – auch unter Berücksichtigung der Besonderheiten der DDR-Justiz – justizförmig ermittelten Sachverhalt angewendet werden. Vielmehr sollte nur dem äußeren Anschein nach Gesetzesanwendung betrieben werden („Scheinjustiz”, vgl. BGHR StGB § 336 DDR-Recht 25). In Wirklichkeit handelte es sich seitens der zentralen Justizorgane und des MfS um die Durchführung eines „Operativen Vorgangs” des MfS (UA S. 61) zur Ausschaltung Havemanns.
b) Die Abstimmung des prozessualen Ablaufs von Gerichtsverfahren und der rechtlichen Bewertung eines Sachverhalts innerhalb der DDR-Justiz, auch durch Konsultationen und Anleitungen zwischen unteren und übergeordneten Instanzen in einer konkreten Rechtssache war in der DDR allerdings nicht unüblich. Solche Maßnahmen erfüllen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs grundsätzlich noch nicht den Tatbestand der Rechtsbeugung (vgl. BGHSt 40, 30, 40 f.; BGH NStZ-RR 1998, 361; BGH, Urteil vom 28. Mai 1998 - 4 StR 669/97 -, insoweit nicht abgedruckt in BGHR StGB § 339 Rechtsbeugung 1; BGH, Urteil vom 9. Juli 1998 - 4 StR 599/97 -, vgl. zu dieser Entscheidung NJ 1998, 602).
Der Senat braucht hier nicht zu entscheiden, ob dieser Grundsatz für folgende Fallgestaltungen eine Ausnahme erfahren muß: Etwa Fälle, in denen die vorherige Anleitung des zuständigen, nach außen entscheidenden Richters im Hinblick auf den Verfahrensablauf und die materiell- und verfahrensrechtlichen Bewertungen so detailliert erfolgt (justizinternes „Drehbuch”), daß der „erkennende” Richter und auch das seine Entscheidungen kontrollierende Rechtsmittelgericht in allen wesentlichen Entscheidungen bereits festgelegt ist; oder Fälle, in denen eine durch Anleitungen definitiv festgelegte Bewertung des Beweisergebnisses erfolgt, so daß den an einer mündlichen Verhandlung mitwirkenden Richtern und Staatsanwälten kein Raum mehr für eine eigene Würdigung aufgrund in der Verhandlung gewonnener Erkenntnisse verbleibt.
Im vorliegenden Fall griffen nämlich horizontale und vertikale Anleitung ineinander, sie wirkten – so auch gewollt – systemimmanent zusammen. Dabei verkennt der Senat nicht die besondere Rolle des MfS im DDR-Staatsgefüge und seine weitreichenden, nach dortigem Verständnis legalen Eingriffsmöglichkeiten auf die Justiz, insbesondere auf die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren. Im Fall Havemann kamen weitere auffällige Umstände hinzu, die jedenfalls die objektiven Voraussetzungen der Rechtsbeugung nach der dritten Fallgruppe begründen:
aa) Horizontale und vertikale Anleitung waren aufeinander abgestimmt. Für die „operative” Umsetzung der Ausschaltung politischer Gegner hat der Umstand Gewicht, daß die DDR-Justiz, die auf Vereinheitlichung und Durchsetzung der sozialistischen Ziele ausgerichtet war, dadurch bedingt justizinterne Strukturen zur Steuerung bereithielt. Dieses System der justizinternen Abstimmung hat das Landgericht im Urteil (UA S. 17 ff.) detailliert beschrieben; das steht im Einklang mit den inzwischen allgemeinkundigen Erkenntnissen des Bundesgerichtshofs (vgl. BGHSt 40, 30; BGH NStZ-RR 1998, 361; BGH, Urteil vom 28. Mai 1998 - 4 StR 669/97 -, insoweit nicht abgedruckt in BGHR StGB § 339 Rechtsbeugung 1; BGH, Urteil vom 9. Juli 1998 - 4 StR 599/97 -, vgl. zu dieser Entscheidung NJ 1998, 602).
Diese generell gegebenen Möglichkeiten wurden hier durch eine ungewöhnlich detaillierte (horizontale) Abstimmung – neben der klaren Vorwegnahme des Verfahrensergebnisses bis hin zu genauen Terminsvorgaben an die Gerichte – nach Art eines Drehbuches für die befaßten gerichtlichen Instanzen genutzt. Innerhalb der Justiz erfolgte die (vertikale) Abstimmung in Form von ebenfalls ungewöhnlich detaillierten Anleitungen („perfektionistische Vorbereitung” des Devisen-Verfahrens, UA S. 293), die das OG, das Bezirksgericht, das Kreisgericht und die Staatsanwaltschaft einbezogen.
Dabei mag es in der Tat so gewesen sein – Gegenteiliges hat das Landgericht (mit Ausnahme der Information der Staatsanwältin He) nicht feststellen können –, daß das MfS mit den zur Entscheidung berufenen Justizorganen nicht direkt in Kontakt getreten ist. Dies hinderte die Umsetzung des „Drehbuchs” aber nicht: Das Landgericht ist zu dem Ergebnis gelangt, daß die Angeklagten – sämtlich SED-Mitglieder – bei der vertikalen Umsetzung keinen „Risikofaktor” gebildet haben. Das Zusammenspiel von horizontaler Abstimmung und so gesicherter vertikaler Umsetzung gewährleistete, daß der „Operative Vorgang” reibungslos vollzogen werden konnte. So hatte es auch der ehemalige MfS-Major Si in seiner 1977 gefertigten Schrift über das politisch-operative Zusammenwirken anhand einer Auswertung von MfS-Akten beschrieben, in welcher er das Aufenthaltsbeschränkungs-Verfahren als Musterbeispiel für einen gelungenen „Operativen Vorgang” dargestellt hat (UA S. 285).
bb) Beide Verfahren richteten sich gegen einen Regimekritiker, der zudem noch prominent war. Havemanns Regimekritik, die in westlichen Medien veröffentlicht wurde, war der Anlaß für die Verfahren. Das gilt – allerdings mit gewissen Einschränkungen – auch für das Devisen-Verfahren, wie insbesondere auch die Beschlagnahme und Einziehung zeigen. Die Person Havemanns, der Inhalt und die Art der Veröffentlichung seiner Kritik führten dazu, daß die Staatsführung der DDR und das MfS gegen Havemann einschritten.
cc) Mit beiden Verfahren wurde insgesamt der Wirkungskreis des Regimekritikers eingeschränkt. Zunächst wurde seine Bewegungsfreiheit drastisch reduziert und seine sozialen Kontakte wurden kontrolliert. Öffentliche Meinungsäußerungen wie zuvor waren ihm kaum noch möglich. Sodann wurde seine wirtschaftliche Existenz getroffen und ihm wurden seine Arbeitsmittel entzogen. Die Verfahren führten so zur weitgehenden Ausschaltung des politischen Gegners.
dd) Die Anleitung der Justizorgane umfaßte auch die Verfahrensgestaltung, insbesondere auch mit Einschränkungen der Verteidigungsmöglichkeiten und der Öffentlichkeit. Die von den untergeordneten Instanzen durch präzise schriftliche Verhandlungskonzeptionen ins Auge gefaßten Verfahrensgestaltungen und Sachentscheidungen wurden von den zentralen Justizorganen „abgesegnet”. Der tatsächliche Ablauf der Verfahren und die getroffenen Sachentscheidungen entsprachen in allen wesentlichen Punkten der horizontalen Abstimmung und dem „Drehbuch”.
c) Hinzu kommt, daß die Verfahren selbst schwere Verfahrensverstöße zum Nachteil Havemanns aufwiesen.
aa) So wurde die Aufenthaltsbeschränkung im beschleunigten Verfahren angeordnet; Havemann erfuhr von der beabsichtigten Maßnahme erst, als er dem Kreisgericht „zugeführt” worden war. Gerade im Hinblick auf die in Aussicht genommene gravierende zeitlich unbegrenzte Freiheitsbeschränkung war ein ausreichendes rechtliches Gehör unerläßlich; ihm wurden indes durch den Verfahrensablauf praktisch keine Verteidigungsmöglichkeiten gewährt. Dem von Havemann mit der Durchführung der Berufung beauftragten Rechtsanwalt wurde wenige Tage nach der Einlegung des Rechtsmittels der Ausschluß aus dem Anwaltskollegium und das Verbot jeglicher anwaltlicher Tätigkeit erklärt, weil dieser die Verteidigung Havemanns aktiv betrieb.
bb) Im Devisenverfahren wurde die Öffentlichkeit der Hauptverhandlung manipuliert.
II. Zutreffend ist das Landgericht davon ausgegangen, daß die Strafbarkeit wegen Rechtsbeugung einen direkten Vorsatz der Angeklagten voraussetzt (§ 244 StGB-DDR; § 2 Abs. 3 StGB; Art. 315 Abs. 1 EGStGB). Sie müssen im Fall der Verurteilung Havemanns zu einer Aufenthaltsbeschränkung gewußt und gewollt haben, daß die entsprechende Norm überdehnt wird. Bei beiden Verurteilungen Havemanns müssen sie gewußt und gewollt haben, daß das justizielle Verfahren willkürlich gestaltet war, insbesondere der politischen Ausschaltung Havemanns unter dem Vorwand der Rechtsprechung gedient hat. Diese Voraussetzungen hat das Landgericht verneint. Bei seiner Prüfung hat es aber wesentliche Punkte unberücksichtigt gelassen.
1. Im Fall der Verurteilung Havemanns zu einer Aufenthaltsbeschränkung ist bei der Prüfung des Rechtsbeugungsvorsatzes nicht nur zu berücksichtigen, inwieweit die Angeklagten wußten und wollten, daß Havemann mittels des vorgeschobenen Gerichtsverfahrens politisch ausgeschaltet werden sollte, vielmehr stellen die festgestellten schweren Verfahrensverstöße ein bedeutendes Indiz zum Nachweis des Rechtsbeugungsvorsatzes dar, soweit die Angeklagten Kenntnis von diesen Verfahrensverstößen hatten.
2. Die Ausführungen, mit denen das Landgericht den Rechtsbeugungsvorsatz der Angeklagten bei beiden Verurteilungen Havemanns unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Scheinjustiz – für die der Bundesgerichtshof bislang noch keine näheren Kriterien entwickelt hat – verneint hat, halten revisionsrechtlicher Überprüfung ebenfalls nicht stand, weil das Landgericht die Besonderheiten des vorliegenden Falles unberücksichtigt gelassen und deshalb bei der Beweiswürdigung zur subjektiven Tatseite von einem zu engen und damit unzutreffenden Maßstab ausgegangen ist.
a) Bei den Drehbuchfällen ist es zur Annahme des Rechtsbeugungsvorsatzes nicht erforderlich, daß die beteiligten Richter und Staatsanwälte die Operativpläne des MfS und das „Drehbuch” in Einzelheiten kannten. Das Landgericht ist von einem zu engen Beurteilungsmaßstab ausgegangen, wenn es auf eine (präzise) Kenntnis der Angeklagten von den Operativplänen des MfS abstellt. Ausgehend von diesem zu engen Verständnis hat sich der Tatrichter daher mit den besonderen Umständen des Falles nur unzureichend auseinandergesetzt.
Für die Feststellung wissentlichen Handelns genügt das Bewußtsein, daß „von oben” die Ausschaltung des politischen Gegners gewollt war und daß die handelnden Justizorgane notwendiger Teil der Umsetzung waren. Das wissentliche Eingebundensein in die Ausschaltung eines politischen Gegners im Gewande eines justiziellen Verfahrens (Scheinjustiz, vgl. BGHR StGB § 336 DDR-Recht 25) ist keine Rechtsanwendung und daher gesetzwidrig und eine Beugung des Rechts.
Wissen Richter, daß sie auf diese Weise eingebunden werden, dann wollen sie grundsätzlich auch den verfahrensfremden Zweck verfolgen. Wollen sie gleichwohl Recht sprechen, so müssen sie deutlich machen, daß sie von einer Außensteuerung unbeeinflußt sind. Dabei muß ihre Verfahrensgestaltung einer rechtlichen Überprüfung nach strengen Maßstäben standhalten; die Verfahrensgestaltung muß gesetzeskonform sein und insbesondere Verfahrensgarantien gewährleisten. Die Sachentscheidungen müssen nach gängigen Auslegungsmethoden vertretbar sein.
Soweit der Staatsanwalt dem Rechtsbeugungstatbestand unterfällt, gilt grundsätzlich Entsprechendes (vgl. BGHR StGB § 336 Staatsanwalt 1 und 2). Allerdings ist dabei dessen Weisungsgebundenheit im grundlegenden Unterschied zu den Richtern zu beachten. Weitere Einschränkungen ergeben sich für Staatsanwälte der DDR, soweit sie im Ermittlungsverfahren tätig werden; daß sie mit dem MfS als offiziellem Untersuchungsorgan (§ 88 Abs. 2 Nr. 2 StPO-DDR) zusammenarbeiteten, entsprach der Rechtslage. Allerdings mußte der Staatsanwalt bei den von ihm getroffenen Entscheidungen das Recht anwenden, denn er war an die Gesetze und die anderen Rechtsvorschriften der DDR gebunden (§ 36 Abs. 1 Satz 1 Gesetz über die Staatsanwaltschaft der DDR vom 7. April 1977 - GBl. I 93).
b) Hier legen die vom Landgericht festgestellten Rahmenbedingungen den Schluß nahe, daß die mit der Sache befaßten Richter und Staatsanwälte den eigentlichen Zweck der Verfahren – die politische Ausschaltung Havemanns – gekannt haben. Der gesamte Verfahrensablauf läßt es nahezu als ausgeschlossen erscheinen, daß die Angeklagten P, H und Sch im Ergebnis die „Regieanweisungen” des „Drehbuchs” – oftmals bis ins Detail – umgesetzt haben, ohne zu wissen, und das auch zu wollen, daß sie Teil eines rechtsbeugerischen Operativen Vorgangs waren. Bei der Angeklagten He gab es durch ihre besondere Anbindung an das MfS gewichtige Anhaltspunkte, die zu einer eingehenderen Prüfung einer solchen Motivation drängten, auch wenn sie nur in dem ersten Teil des Verfahrens mitgewirkt hat.
c) Zudem hat das Landgericht wichtige Indizien, die für Wissen und Wollen der Gesetzwidrigkeit durch Ausschaltung des politischen Gegners sprechen, nur isoliert gewürdigt. Es hat die Indizien je einzeln und jedes für sich behandelt als nicht ausreichend beweiskräftig bewertet („nicht belegt”, „nicht bewiesen”, kein „direkter Hinweis”, „nicht der sichere Schluß”, „es ist zweifelhaft”). Das läßt besorgen, daß das Landgericht bei der Beweiswürdigung von zu engen Voraussetzungen ausgegangen ist und verkannt hat, daß – für sich betrachtet zwar ambivalente – aber immerhin doch belastende Indizien in der Gesamtschau ausreichenden Beweis für die tatrichterliche Überzeugung erbringen können. Durch den Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe läßt sich diese Besorgnis nicht zerstreuen; sie wird dadurch im Gegenteil noch verstärkt.
III. Der Senat hat von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Sache an ein anderes Landgericht zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 Satz 1 StPO).
Unterschriften
Laufhütte, Harms, Häger, Basdorf, Nack
Fundstellen
Haufe-Index 541000 |
BGHSt, 275 |
NJW 1999, 3347 |
NStZ 1999, 620 |
VIZ 1999, 84 |
ZAP-Ost 1999, 105 |
NJ 1999, 417 |