Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindesentziehung
Leitsatz (amtlich)
Nach § 235 StGB macht sich auch der allein sorgeberechtigte Elternteil strafbar, der dem umgangsberechtigten Elternteil das Kind entzieht.
Normenkette
StGB § 235 F.: 10. März 1987
Verfahrensgang
LG Bielefeld (Aktenzeichen 3 KLs 55 Js 516/96 - S 2/98 III) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 27. Mai 1998 im Strafausspruch mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Von Rechts wegen
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Kindesentziehung (§ 235 StGB a.F.) zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Seine Revision, mit der er die Verletzung sachlichen Rechts rügt, hat nur zum Strafausspruch Erfolg.
I.
Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:
Der dem Islam angehörende Angeklagte ist in Pakistan geboren und aufgewachsen. 1979 reiste er nach Deutschland ein und heiratete 1982 die deutsche Staatsbürgerin Elke S., geborene W. 1989 gab er die pakistanische Staatsangehörigkeit auf und wurde deutscher Staatsbürger. Aus der 1991 wieder geschiedenen Ehe ist der am 30. Januar 1985 geborene Sohn Michael hervorgegangen, der beide Staatsangehörigkeiten besitzt und von dem Angeklagten im islamischen Glauben erzogen wird. Seit 1994 ist der Angeklagte in zweiter Ehe mit einer pakistanischen Frau verheiratet. Bereits 1991 – kurz vor der Ehescheidung – hatte der Angeklagte das gemeinsame Kind vorübergehend gegen den Willen seiner damaligen Ehefrau nach Pakistan verbracht und so durchgesetzt, daß diese in dem von ihr beantragten Scheidungsverfahren einer Übertragung der elterlichen Sorge auf ihn zustimmte. Seine geschiedene Ehefrau erhielt ein Umgangsrecht bezüglich des Sohnes Michael an jedem Wochenende.
Anfang 1996 erfuhr die Kindesmutter von einer Verurteilung des Angeklagten zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe wegen einer Messerstecherei (die Strafe wurde im Berufungsverfahren auf zwei Jahre reduziert, die Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt). Gleichzeitig gab es wegen unregelmäßigen Schulbesuchs des Kindes und wegen Beeinträchtigungen des Umgangsrechts Streitigkeiten, in deren Verlauf der Angeklagte seine geschiedene Frau körperlich mißhandelte. Am 23. Januar 1996 beantragte die Mutter, die befürchtete, der Angeklagte werde das Kind wieder nach Pakistan verbringen, bei dem Amtsgericht H./W. die Übertragung der elterlichen Sorge im Wege der einstweiligen Anordnung. In der mündlichen Verhandlung am 26. Januar 1996 erklärte der Angeklagte, er habe keineswegs die Absicht, den Jungen nach Pakistan zu verbringen, er wolle vielmehr hier in Deutschland mit ihm zusammenleben. Daraufhin wurde der Eilantrag der Mutter zurückgewiesen, auch ihre Beschwerde blieb ohne Erfolg, jedoch untersagte das Oberlandesgericht H. durch Beschluß vom 30. Januar 1996 dem Angeklagten, das Kind vor Entscheidung über das Sorgerecht in der Hauptsache außerhalb des Hoheitsgebiets der Bundesrepublik Deutschland zu verbringen. In der Folgezeit versicherte der Angeklagte auch bei Kontrollbesuchen einer Mitarbeiterin des Jugendamtes dieser gegenüber, er beabsichtige nicht, das Kind nach Pakistan zu verbringen.
Zwischen dem 24. und 27. Februar 1996 reiste der Angeklagte dann entsprechend seinem bereits vorgefaßten und mit seinen Angehörigen in Pakistan abgesprochenen Plan mit seinem Sohn über Calais mit der Fähre zu einer Tante nach England, von wo aus sie zu dritt nach Pakistan flogen. Er beabsichtigte auf diese Weise, das Umgangsrecht seiner geschiedenen Ehefrau und die Durchführung des anhängigen Sorgerechtsverfahrens zu vereiteln. Anfang April 1996 kehrte der Angeklagte allein nach Deutschland zurück und ließ das Kind zur Erziehung nach islamischem Recht in der Obhut des mittlerweile 80jährigen Großvaters. Alle Bemühungen der Mutter, der am 14. März 1996 auf erneuten Antrag im Wege der einstweiligen Anordnung die elterliche Sorge übertragen worden war, den Jungen aus Pakistan zurückzuholen, blieben erfolglos. Weder ein gerichtlicher Herausgabebeschluß verbunden mit einer sechsmonatigen Beugehaft noch die seit Januar 1998 vollstreckte Untersuchungshaft haben den Angeklagten dazu bewogen, die Rückkehr des Kindes herbeizuführen.
II.
1. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat zum Schuldspruch keinen den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler ergeben. Das Landgericht hat den Angeklagten zutreffend nach dem zur Tatzeit geltenden Recht gemäß § 235 StGB a.F. wegen Kindesentziehung verurteilt.
a) Der Senat hält an früherer Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs fest, wonach auch das Umgangsrecht (die frühere Bezeichnung lautete „Verkehrsrecht”) des nicht sorgeberechtigten Elternteils – hier der Mutter – dem Schutzbereich des § 235 StGB unterfällt (RGSt 66, 254; BGHSt 10, 376, 378 mit zust. Anm. Kohlhaas in EJF D I Nr.2; dem folgend OLG Bremen JR 1961, 107; OLG Hamm JR 1983, 513; StA Karlsruhe FamRZ 1997, 774; ebenso Tröndle StGB 48. Aufl. § 235 Rdn. 3; Vogler in LK StGB 10. Aufl. § 235 Rdn. 5, 14; Erman/Michalski BGB 9. Aufl. § 1634 Rdn. 5; MünchKomm./Hinz BGB 3. Aufl. § 1634 Rdn. 14; Soergel/Strätz BGB 12. Aufl. § 1634 Rdn. 5). Der an dieser Rechtsprechung geäußerten Kritik (Geppert in Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, 1986, 759, 775; ihm folgend Eser in Schönke/Schröder StGB 25. Aufl. § 235 Rdn. 14; Staudinger/Peschel-Gutzeit BGB 12. Aufl. § 1634 Rdn. 34 ff.) kann nicht zugestimmt werden:
Geschütztes Rechtsgut des § 235 StGB ist vorrangig das Sorgerecht der für den jungen Menschen verantwortlichen Personen und das daraus abgeleitete Obhuts- und Aufenthaltsbestimmungsrecht. Mittelbar dient die Vorschrift dem Schutz des Kindes, nämlich dessen körperlicher und seelischer Entwicklung (vgl. BTDrucks. 13/8587 S. 23, 38; BGHSt 39, 239, 242). Grundsätzlich kann eine Kindesentziehung deshalb auch von einem Elternteil gegenüber dem anderen begangen werden, sofern jedem Elternteil das Personensorgerecht zumindest teilweise zusteht (Tröndle aaO § 235 Rdn. 3; so auch Geppert aaO, S. 772 f. und Eser aaO § 235 Rdn. 14). Nichts anderes gilt aber, wenn – wie hier – einem Elternteil das alleinige Sorgerecht zusteht und der andere Elternteil nur das Umgangsrecht aus § 1634 BGB a. F. (§§ 1684 ff. BGB n. F.) ausübt. Zwar wird das in § 1634 BGB a. F., §§ 1684 ff. BGB n. F. normierte Umgangsrecht des nicht (mehr) sorgeberechtigten Elternteils heute nicht mehr als Restbestandteil der (durch § 235 StGB geschützten) Personensorge verstanden (so aber noch RGSt 66, 254 und BGHSt 10, 376, 378), sondern aus dem durch Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG geschützten natürlichen Elternrecht hergeleitet (vgl. BVerfG, Urteil vom 29. Oktober 1998 - 2 BvR 1206/98; Gernhuber/Coester-Waltjen, Lehrbuch des Familienrechts, 4. Aufl. § 66 I). Das Umgangsrecht enthält nach heutiger Auffassung damit weder ein Erziehungsrecht noch eine Erziehungspflicht. Dieser rechtsdogmatische Wandel rechtfertigt es jedoch nicht, die Strafwürdigkeit eines Eingriffs in das verfassungsrechtlich geschützte Umgangsrecht nunmehr zu verneinen (so aber Geppert aaO, S. 775 ff.). Der Zweck des elterlichen Umgangsrechts gebietet es vielmehr nach wie vor, dieses in den Schutzbereich des § 235 StGB einzubeziehen. Nach allgemeiner Auffassung soll das Umgangsrecht – ungeachtet seiner dogmatischen Deutung – es dem nicht sorgeberechtigten Elternteil ermöglichen, sich von dem körperlichen und geistigen Befinden des Kindes und seiner Entwicklung durch Augenschein und gegenseitige Aussprache fortlaufend zu überzeugen, die verwandtschaftlichen Beziehungen zu dem Kind aufrechtzuerhalten, einer Entfremdung vorzubeugen sowie dem gegenseitigen Liebesbedürfnis beider Teile Rechnung zu tragen (BGHZ 51, 219, 222; FamRZ 1984, 778, 779). Das am 1.Juli 1998 in Kraft getretene Kindschaftsrechtsreformgesetz hat diesen Beziehungsschutz aus dem § 1634 BGB a. F. in die §§ 1684 ff. BGB n. F. verlagert und dabei sogar noch wesentlich erweitert (vgl. Diederichsen NJW 1998, 1977, 1986). Es liegt im Interesse des Kindes, daß sich der nicht sorgeberechtigte Elternteil von seiner Entwicklung überzeugen und im Falle des Versagens des Sorgerechtsinhabers auf §§ 1696 oder 1666 BGB gestützte Maßnahmen veranlassen kann. Vor allem soll einer Entfremdung zwischen dem Kind und dem nicht sorgeberechtigten Elternteil vorgebeugt (– dieser Gedanke hat in § 1626 Abs. 3 S. 1 BGB n. F. Niederschlag gefunden –) und die Kontinuität der Eltern-Kind Beziehung gewahrt werden, weil der „Reserveelternteil” – wie auch hier geschehen – gemäß §§ 1678 Abs. 2, 1680 Abs. 2 und 3, 1696 BGB jederzeit wieder in das Sorgerecht einrücken kann und dann die weitere Erziehung des Kindes zu verantworten hat (vgl. BVerfG FamRZ 1983, 872, 873 f; BGH FamRZ 1984, 778, 779; Gernhuber/Coester-Waltjen aaO § 66 I). Damit schützt das Umgangsrecht auch das zwar ruhende, aber unter bestimmten Umständen wieder auflebende Sorgerecht des zur Zeit gerade nicht sorgeberechtigten Elternteils und dient damit letztlich auch der ungestörten Entwicklung des Kindes. Wegen dieser unbestreitbaren Vorteile für das Kindeswohl genießt das elterliche Umgangsrecht als absolutes, die Befugnisse des Personenberechtigten einschränkendes Recht nach wie vor den Schutz des § 235 StGB (vgl. Regel, „Entziehen” und „Entführen” Minderjähriger, Diss. Münster 1975, S. 28 ff.).
Eine solche Auslegung steht auch mit dem Gesetzeswortlaut des § 235 StGB alter und neuer Fassung in Einklang. Es wird nämlich nicht ausschließlich derjenige mit Strafe bedroht, „wer einen Minderjährigen dem zur Personensorge Berechtigten entführt … oder entzieht” (so der nicht Gesetz gewordene § 196 E 1962; kritisch dazu Schäfer in Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission 1956-1960 Bd. 8 S. 372), kriminalisiert wird vielmehr die Entziehung eines Kindes aus dem Verhältnis der in § 235 StGB bezeichneten Personen, zu denen auch ein vorübergehend nicht sorgeberechtigter Elternteil gehören kann. Auch bei der Neufassung des § 235 StGB durch das 6. StrRG hat der Gesetzgeber insoweit an der bisherigen Formulierung festgehalten mit der Begründung, daß eine Straftat nach § 235 StGB wie bisher auch von einem Elternteil gegenüber dem anderen begangen werden kann, sofern dieser Inhaber oder Mitinhaber der Sorge ist oder ein Recht zum persönlichen Umgang mit dem Kind nach § 1634 BGB a. F., §§ 1684 ff. BGB n. F. hat (BTDrucks. 13/8587 S. 38). Es besteht nämlich angesichts sich häufender Entführungsfälle ins Ausland insbesondere bei Ehepartnern verschiedener Nationalität ein unabweisbares kriminalpolitisches Bedürfnis, das natürliche Elternrecht nach wie vor umfassend strafrechtlich zu schützen. Es ist gerade nicht so, daß familienrechtliche Sanktionen ausreichen und die elterlichen Auseinandersetzungen von einem unangebrachten und ineffizienten strafrechtlichen Druck befreit werden müßten (so aber Staudinger/Peschel-Gutzeit aaO § 1634 Rdn. 36). Nur bei einer entsprechend weiten Auslegung des Schutzzwecks entfaltet § 235 StGB die generalpräventive Wirkung, einen Elternteil davon abzuhalten, durch Entführung der Kinder ins Ausland vollendete Tatsachen zu schaffen, um so letztlich aus dem eigenen rechtswidrigen Verhalten faktische Vorteile zu ziehen und – ungeachtet des Kindeswohls – eigene Interessen durchzusetzen. Diese Problematik hat auch der Gesetzgeber bedacht, indem er in § 235 Abs. 2 StGB n. F. die Fälle der „Auslandsentführung” ausdrücklich geregelt hat.
b) Der Angeklagte hat das Kind auch durch List entzogen. List ist ein Verhalten, das darauf abzielt, unter geflissentlichem und geschicktem Verbergen der wahren Absichten oder Umstände die Ziele des Täters durchzusetzen (BGHSt 16, 62; 32, 269). Hier hat der Angeklagte sowohl bei seiner gerichtlichen Anhörung wie auch bei den Kontrollbesuchen des Jugendamtes wahrheitswidrig vorgespiegelt, eine Verbringung des Kindes nach Pakistan nicht zu erwägen und den Beschluß des OLG H. akzeptieren zu wollen, so daß entsprechende Sicherungsmaßnahmen unterblieben sind. Tatsächlich ist der Angeklagte nach vorgefaßtem Plan mit der Fähre nach England und von dort per Flugzeug nach Pakistan gereist. Dadurch hat er es umgangen, bei der pakistanischen Botschaft in Deutschland die erforderlichen Visa beantragen zu müssen, was möglicherweise seine Pläne verraten hätte. Gleichzeitig hat er die im Inland angestellten Nachforschungen nach dem Verbleib des Kindes erschwert, weil bei der pakistanischen Botschaft in Bonn eine Visaerteilung nicht feststellbar war.
2. Das Urteil hat jedoch im Strafausspruch keinen Bestand. Die Strafkammer hat die Tat des Angeklagten als besonders schweren Fall der Kindesentziehung nach § 235 Abs. 2 StGB a. F. gewürdigt und ist dementsprechend von einem Strafrahmen von sechs Monaten bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe ausgegangen. Die durch das 6. StrRG zum 1. April 1998 in Kraft getretene Neufassung des § 235 StGB eröffnet für die Grundtatbestände nach § 235 Abs. 1 und 2 StGB n. F. einen von Geldstrafe bis zu fünf Jahre Freiheitsstrafe reichenden Strafrahmen. Einen besonders schweren Fall als unbenanntes Regelbeispiel sieht die Neufassung jedoch nicht (mehr) vor. Der allein in Betracht kommende Qualifikationstatbestand des § 235 Abs. 4 Nr. 1 StGB n.F. – Verursachung einer erheblichen Schädigung der körperlichen oder seelischen Entwicklung (vgl. dazu BTDrucks. 13/8587 S. 39) – ist nach den bisher getroffenen Feststellungen nicht erfüllt. Sollten weitere Feststellungen zu dem Befinden des Kindes nicht möglich sein, ist die Strafe gemäß § 2 Abs. 3 StGB dem Strafrahmen des § 235 Abs. 1 StGB a. F. zu entnehmen, der demjenigen des neugefaßten § 235 Abs. 1 StGB entspricht.
3. Für die neue Hauptverhandlung wird zu beachten sein, daß entgegen dem Revisionsvorbringen eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung mit der Strafe, auf die durch das Landgericht Bielefeld vom 31. Mai 1996 erkannt worden ist, rechtlich ausgeschlossen ist. Bei § 235 StGB handelt es sich um ein Dauerdelikt, das zwar mit der Entziehung vollendet, jedoch erst mit der Wiederherstellung der elterlichen Einflußmöglicheit beendet ist (Vogler aaO § 235 Rdn. 25). Die hier abzuurteilende, noch unbeendete Kindesentziehung ist damit nicht vor der früheren Verurteilung i.S.d. § 55 Abs.1 StGB begangen worden (vgl. BGHSt 9, 370, 383; wistra 1996, 144; Tröndle aaO § 55 Rdn. 4).
Der neu entscheidende Tatrichter wird über die Fortdauer der Untersuchungshaft zu befinden haben.
Unterschriften
Meyer-Goßner, Tolksdorf, Athing, Solin-Stojanovi[cacute], Ernemann
Fundstellen
Haufe-Index 540855 |
BGHSt |
BGHSt, 355 |
NJW 1999, 1344 |
FamRZ 1999, 651 |
Nachschlagewerk BGH |
FPR 1999, 248 |
JA 1999, 835 |
FF 1999, 85 |
StV 2000, 356 |
InJur 2000, 3 |