Verfahrensgang
LG Oldenburg (Urteil vom 20.03.2001) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten D. wird das Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 20. März 2001, soweit es ihn betrifft, im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten D. unter Freisprechung im übrigen wegen „schweren Raubs in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung” zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt.
Nach den Feststellungen war der Angeklagte zusammen mit dem Mittäter C. am 13. Mai 1994 vor 18 Uhr in das Wohnhaus der Eheleute L. in N. eingebrochen. Beide waren maskiert, einer hatte eine Maschi- nenpistole, der andere eine Pistole bei sich. Als der Wohnungsinhaber nach Hause kam, traten ihm beide entgegen und fragten nach dem Tresor. Sie fesselten ihn, schlugen mit den Waffen auf ihn ein und gaben einen Schuß aus der Pistole ab, bis dieser den Tresor öffnete. Sie erbeuteten Bargeld von mindestens 60.000 DM, Schmuck und Uhren im Wert von ca. 170.000 DM und Wertpapiere im Wert von nominal ca. 1,5 Millionen DM. Danach umwickelten sie seine Beine mit Paketklebeband und verklebten ihm den Mund. In gleicher Weise fesselten sie auch seine zwischenzeitlich ebenfalls nach Hause zurückgekehrte Ehefrau.
Die mit der Verletzung sachlichen und formellen Rechts begründete Revision des Angeklagten hat nur zum Strafausspruch Erfolg.
I. Der Schuldspruch hält der rechtlichen Nachprüfung stand.
1. Die Rügen zur Vernehmung der Vertrauensperson (Revisionsbegründung des Rechtsanwalts R. vom 8. November 2001) belegen weder eine Verletzung der Aufklärungspflicht, noch eine solche des Fragerechts nach Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK.
a) Die Aufklärungsrüge, das Landgericht habe es unterlassen, im Wege der Gegenvorstellung eine Überprüfung der Sperrerklärung des niedersächsischen Innenministeriums vom 15. Mai 1997 zu erwirken, ist nicht begründet. Die Revision vermochte keine konkreten Anhaltspunkte aufzuzeigen, die der Strafkammer Anlaß zur Annahme hätten geben können, daß die Behörde ihren Standpunkt ändern werde.
aa) Hierzu reicht – wie der Generalbundesanwalt in seiner Stellungnahme zutreffend ausgeführt hat – der bloße Zeitablauf zwischen dem Erlaß der Sperrerklärung im Mai 1997 und dem Ende der Beweisaufnahme im März 2001 nicht aus. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die erhebliche Gefährdung der Vertrauensperson in Anbetracht der besonderen Gefährlichkeit der Tätergruppe, die mit Schußwaffen, darunter auch Maschinenpistolen, am Tage in „teuere Häuser” eindrang, um die Bewohner zu berauben und rücksichtslos – auch unter Einsatz der Waffen – zur Öffnung von Tresoren zu zwingen, in einem solchen Maße auf der Hand lag, daß nur gewichtige Umstände eine Aufhebung der Sperrerklärung erwarten ließen.
bb) Auch in der Einstellung des Ermittlungsverfahrens wegen Bedrohung der Zeugin B. liegt kein solcher Umstand. Zum einen wurde die Sperrerklärung auf diese Bedrohung nur bekräftigend gestützt („eindrucksvoll untermauert …”), und zum anderen ist die Einstellung nicht erfolgt, weil die behauptete Bedrohung widerlegt worden wäre, sondern nur weil die Beweislage nicht ausreichend erschien.
cc) Daß sich die Annahme eines Täterkreises von etwa zehn Personen nicht erhärten ließ, ändert nichts Wesentliches an der Gefährlichkeit der verbliebenen Verdächtigen. Nach den – nachträglichen – Feststellungen des Gerichts waren immerhin die drei Angeklagten an den zwei abgeurteilten Taten beteiligt. Ferner wurden weitere konkrete Personen festgestellt, die als Tipgeber und/oder Beteiligte bei der Verwertung der Beute beteiligt waren. Auf die genaue Anzahl kommt es für die Beurteilung der Gefährlichkeit ebensowenig an wie auf den Nachweis einer Vereinigungsstruktur nach § 129 StGB.
dd) Auch die nachträglich durch das Zeugenschutzgesetz vom 30. April 1998 (BGBl I 820) geschaffene Möglichkeit einer audiovisuellen Vernehmung nach § 247 a StPO mußte der Strafkammer keine Veranlassung geben, sich im Wege der Gegenvorstellung um die Zustimmung zur Durchführung einer derartigen Vernehmung der Vertrauensperson zu bemühen.
Eine audiovisuelle Vernehmung in der Form, wie sie nach dem Wortlaut des Gesetzes vorgesehen ist, nämlich ohne optische und akustische Veränderung der Übertragung, hätte die Sicherheitsbedenken der Behörde ersichtlich nicht ausräumen können. Denn dabei findet eine Übertragung von Bild und Ton in den Sitzungssaal statt, so daß selbst bei einer Entfernung des Angeklagten und der Öffentlichkeit eine Enttarnung zu befürchten ist.
Die Strafkammer mußte sich aber auch nicht gedrängt sehen, der Innenbehörde eine audiovisuelle Vernehmung nach § 247 a StPO vorzuschlagen, bei der durch optische und akustische Verzerrung sichergestellt ist, daß der zu vernehmende Zeuge weder an seinem Aussehen noch an seiner Stimme zu erkennen ist. Entsprechend dem Wortlaut des Gesetzes hat die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, die auf eine Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen vom 17. Oktober 1983 (BGHSt 32, 115) zurückgeht, im Zeitpunkt der Hauptverhandlung des Landgerichts eine akustische und optische Abschirmung ohne Einschränkung für nicht zulässig erachtet. Allerdings hat der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in einem nach Verkündung des angefochtenen Urteils ergangenen Beschluß vom 26. September 2002 (NJW 2003, 74) zu erkennen gegeben, daß er eine solche technische Veränderung der Bild- und Tonübertragung im Wege einer erweiternden Auslegung für rechtlich unbedenklich halte. Er ist der Auffassung, daß die Entscheidung des Großen Senats wegen der zwischenzeitlichen Gesetzesänderungen überholt sei und nicht mehr entgegenstehe. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtsfrage hat der 1. Strafsenat eine Vorlage an den Großen Senat nach § 132 Abs. 4 GVG für sachdienlich erachtet und bei den anderen Strafsenaten angefragt, ob dieser Rechtsauffassung zugestimmt werde. Das Anfrageverfahren ist jedoch gegenstandslos geworden, bevor die anderen Senate Stellung nehmen konnten, weil die Revision im Ausgangsverfahren zurückgenommen worden ist.
Der Senat begrüßt das mit dieser Entscheidung verfolgte Anliegen, gegenüber der bislang üblichen Vernehmung von polizeilichen Führungs- und Vernehmungsbeamten die Vertrauenspersonen selbst als Beweismittel in die Hauptverhandlung einzubringen und damit bessere Erkenntnismöglichkeiten für alle Verfahrensbeteiligten zu schaffen, insbesondere aber das Fragerecht nach Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK in weitergehendem Umfang zu gewährleisten. Er hat jedoch Zweifel, ob dieses Ziel bei Wahrung der berechtigten Interessen der Vertrauensperson und der Innenbehörde in den nicht seltenen Fällen erreichbar ist, in denen die Vertrauenspersonen dem engeren Umfeld der Tätergruppe angehören und Befragungen zur Herkunft ihres Wissens und zu anderen Details naheliegender Weise indirekt zur Offenlegung ihrer Identität führen können.
Durch die optische und akustische Verzerrung könnte zwar das Aussehen und die Stimme des Zeugen unkenntlich gemacht werden, auch kann das Gericht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 StPO dem Zeugen gestatten, keine Angaben zur Person oder über eine frühere Identität zu machen, wozu es in den in Rede stehenden Fällen verpflichtet sein dürfte und was sich die Innenbehörde auch zusichern lassen könnte. Einen Schutz davor, daß durch Fragen zur Sache selbst, insbesondere zur Herkunft der Kenntnisse, die Geheimhaltung der Identität – gezielt oder ungewollt – gefährdet wird, kann die Strafprozeßordnung aber nicht bieten. Zur Befragung über die Personalien hinaus bestimmt § 68 Abs. 3 Satz 2 StPO, daß der Zeuge anzugeben hat, in welcher Eigenschaft (Vertrauensperson oder verdeckter Ermittler) ihm die bekundeten Tatsachen bekannt geworden sind. Ferner sind dem Zeugen nach Absatz 4 dieser Vorschrift Fragen über Umstände, die seine Glaubwürdigkeit betreffen, insbesondere über seine Beziehungen zu dem Beschuldigten oder dem Verletzten, vorzulegen (sog. Generalfragen). Die damit verbundene Einschränkung, daß diese Fragen auf das „Erforderliche” zu beschränken sind, dürfte kaum einmal die Zurückweisung von Fragen rechtfertigen, die für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit erforderlich sind, aber Rückschlüsse auf die Identität des Zeugen ermöglichen. Ebenso ist keine Grundlage erkennbar, auf der das Gericht darüber hinausgehende Fragen zur Sache selbst, insbesondere zur Herkunft der Kenntnisse des Zeugen (z. B. eigene Wahrnehmungen oder Kenntnis nur vom Hörensagen), zurückweisen darf, selbst wenn auf diese Weise dessen Identität indirekt offenbart werden könnte. Ein Recht des Zeugen, auf entsprechende Fragen die Auskunft zu verweigern, ist ebenfalls nicht gegeben. Eine entsprechende Einschränkung des Fragerechts nach § 240 Abs. 2 StPO vermag der Senat dem Regelungsgehalt des § 68 StPO nicht zu entnehmen.
Es mag zwar Fälle geben, in denen eine optische und akustische Abschirmung des Zeugen zur Vermeidung seiner Gefährdung ausreicht, doch war das jedenfalls hier in hohem Maße fraglich. Da die Fragen der Verteidigung insbesondere auf die Herkunft der Kenntnisse des sich ersichtlich im Umfeld der Täter bewegenden Zeugen zielten, konnte nicht erwartet werden, daß die Innenbehörde die Vertrauensperson für eine solche Vernehmung zur Verfügung stellen würde, zumal die Rechtsprechung diese – wie dargelegt – zum damaligen Zeitpunkt ohnehin noch grundsätzlich verneint hat.
b) Die Rüge der Verletzung des Fragerechts nach Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK ist nicht zulässig erhoben. In dem von der Revision mitgeteilten Antrag vom 16. März 2000 (Rev.Begr. S. 42) hat die Verteidigung insoweit lediglich die „mehrfache schriftliche Befragung” der Vertrauensperson beantragt, wobei sie zur Begründung darauf hingewiesen hat, daß die bisherige Ablehnung von Fragen der Verteidiger Anlaß zu diesem Antrag gegeben habe. Der Inhalt dieser Fragen wird ebensowenig mitgeteilt, wie der Inhalt der Fragen, die schriftlich an die Vertrauensperson zu richten sind. Damit ist es aber dem Revisionsgericht nicht möglich zu prüfen, ob die Strafkammer das Fragerecht verletzt hat. Insoweit liegt der Fall anders als bei der Entscheidung BGHR MRK Art. 6 Abs. 3 Buchst. d Verhörsperson 2), wo die Verteidigung einen vorbereiteten Fragenkatalog vorgelegt hatte. Dem vorgelegten Antrag auf schriftliche Befragung vom 16. März 2000 brauchte das Gericht wegen seiner Unbestimmtheit nicht zu entsprechen; insoweit ist die Rüge daher unbegründet.
2. Rügen zur Lichtbildvorlage (Revisionsbegründung des Rechtsanwalts Dr. W. vom 8. November 2001):
a) Der Beschwerdeführer beanstandet, die Strafkammer habe sich bei der Beweiswürdigung auf die Lichtbilder „Bd. VII Bl. 19 – 24” bezogen, diese aber nicht in die Hauptverhandlung eingeführt. Diese Rüge ist unbegründet. Wie sich aus der Beweiswürdigung (UA S. 37) ergibt, hat der als Zeuge vernommene Kriminalbeamte M. über die Vorlage dieser Lichtbilder an die Vertrauensperson berichtet, die dabei die von ihr vorher als Täter benannten Personen „Z.” (C.) und „E.” (D.) wiedererkannt ha- be. Damit hat das Landgericht nur die Aussage des Zeugen M., nicht aber die Lichtbilder selbst verwertet. Die Rüge geht somit ins Leere.
b) Soweit mit der Aufklärungsrüge beanstandet wird, der Strafkammer wäre bei ordnungsgemäßer Inaugenscheinnahme der Lichtbilder die „fehlerhafte Durchführung der Identifizierung deutlich geworden”, ist diese unbegründet. Zu einer solchen Beweisaufnahme drängte nichts, da das Landgericht ersichtlich nur von einer Einzelvorlage der Observationsaufnahmen ausgegangen ist.
3. Aufklärungsrüge zur Vernehmung von Alibizeugen (Revisionsbegründung des Rechtsanwalts Dr. W. vom 7. November 2001):
Soweit mit der Rüge nach § 244 Abs. 2 StPO beanstandet wird, die vom Angeklagten benannten 29 Bewohner seines Heimatdorfes S. hätten erneut im Wege der Rechtshilfe vernommen werden müssen, ist diese unbegründet, da sich die Strafkammer aus den von ihr in der Ablehnung des entsprechenden Beweisantrags (Anlage zum 8. Januar 2001 des Protokolls) ausführlich dargelegten und plausiblen Gründen nicht zu dieser Aufklärung hatte gedrängt sehen müssen.
Soweit mit der Rüge weiter geltend gemacht wird, für diese Zeugen hätte nach § 247 a StPO von Deutschland aus in Mazedonien eine audiovisuelle Vernehmung durchgeführt werden müssen, ist diese jedenfalls unbegründet. Die Strafkammer hat in dem genannten Beschluß eingehend dargelegt, daß eine solche Vernehmung unter den besonderen Umständen des Einzelfalles nicht geeignet gewesen wäre. Damit hat sie die Möglichkeit des § 247 a StPO geprüft und von ihrem Ermessen Gebrauch gemacht. Ein Ermessensfehlgebrauch ist dabei nicht erkennbar. Daher kann offen bleiben, ob die Rüge nicht bereits unzulässig gewesen wäre, weil diese Entscheidung nach § 247 a Satz 2 StPO unanfechtbar und damit auch nicht revisibel ist, § 336 Satz 2 StPO (BGHR StGB § 46 Abs. 3 Sexualdelikte 4; BGH NStZ 1996, 241 für § 171 b III GVG; vgl. auch Nachweise bei Meyer-Goßner, StPO 46. Aufl. § 247 Rdn. 13; aA Diemer für den Fall, daß auf Grund einer solchen ablehnenden Entscheidung das Beweismittel letztlich unbenutzt bliebe, NStZ 2001, 392, 397).
4. Auch die Nachprüfung des Schuldspruchs aufgrund der Sachrüge hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Insbesondere wird das Urteil dem von der Rechtsprechung geforderten Korrektiv der vorsichtigen Beweiswürdigung (vgl. die Nachweise in BGH NJW 2003, 74) zum Ausgleich der eingeschränkten Aufklärungsmöglichkeit durch Verwendung eines sachferneren Beweismittels bei der Vernehmung lediglich eines Polizeibeamten zu den Angaben der Vertrauensperson gerecht. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Angaben der Vertrauensperson in mehrfacher Hinsicht durch die sonstige Beweisaufnahme bestätigt worden sind. So hat insbesondere der Zeuge V. angegeben, daß der Angeklagte ihm gegenüber eingeräumt habe, daß er kurz nach dem Überfall 200.000 DM für den Ankauf eines Lokals aufgewandt hatte. Dies ist nicht nur ein Hinweis auf die Richtigkeit der Aussage der Vertrauensperson, sondern auch ein eigenständiges Indiz für die Täterschaft des Angeklagten. Ferner konnten die Angaben über den weiteren Verbleib der geraubten Wertpapiere verifiziert werden. Schließlich sind die Zeugen Re. und K., denen gegenüber der Angeklagte die Tatbegehung eingeräumt hatte, Beweismittel, die völlig unabhängig von den Aussagen der Vertrauensperson die Täterschaft belegen. Dabei hat die Strafkammer auch die Aspekte, die gegen die Richtigkeit der verschiedenen Zeugenaussagen sprechen könnten, gesehen und mit der gebotenen Vorsicht eingehend gewürdigt. Daß sie den eingeschränkten Beweiswert einer Lichtbildvorlage ohne Wahlmöglichkeit nicht berücksichtigt haben könnte, ist nach Sachlage nicht zu besorgen.
II. Dagegen hat der Strafausspruch keinen Bestand. Insofern hat die Revision mit der Verfahrensrüge der Verletzung des Beschleunigungsgebots nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK (Revisionsbegründung des Rechtsanwalts Dr. W. vom 7. November 2001) Erfolg.
Nach dem dargelegten Verfahrensablauf ist das Verfahren zumindest in der ersten Hälfte des zweiten Hauptverhandlungsdurchgangs in der Zeit vom 2. Juni 1998 bis zum 17. September 1999 nicht mit der gebotenen Beschleunigung geführt worden. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Frist des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK mit der Festnahme des Angeklagten am 6. Juli 1996 begann, so daß zu Beginn der zweiten Hauptverhandlung am 2. Juni 1998 bereits eine Verfahrensdauer von fast zwei Jahren gegeben war, während deren sich der Angeklagte darüber hinaus ununterbrochen in Untersuchungshaft befunden hatte. Entscheidend kommt hinzu, daß ein erster Hauptverhandlungsdurchgang von über einem Jahr und zwei Monaten mit 56 Verhandlungstagen vorausgegangen war. Auch wenn der Abbruch dieser Hauptverhandlung durch die Krebserkrankung einer Schöffin und die Erkrankung eines Hilfsschöffen aus verfahrensrechtlichen Gründen unvermeidbar war, mußte doch bei der Gestaltung der zweiten Hauptverhandlung darauf Bedacht genommen werden, daß mit dem bisherigen langen Verfahren eine erhebliche Belastung des Angeklagten verbunden war. Damit ist nicht mehr zu vereinbaren, daß die zweite Hauptverhandlung – ähnlich wie bereits beim ersten Durchgang – eine sehr weitgestreckte Terminierung mit großen Abständen und zahlreichen sehr kurzen Verhandlungstagen aufwies. In diesem Verfahrensabschnitt wurde in 34 Monaten an 121 Hauptverhandlungstagen getagt, wobei in 19 dieser Monate lediglich dreimal oder weniger pro Monat verhandelt wurde (vgl. zur besonderen Beschleunigungspflicht nach vorangegangener Verzögerung BVerfG NJW 2003, 2225 f.). An 42 Hauptverhandlungstagen betrug die Sitzungsdauer weniger als zwei Stunden. Auch wenn berücksichtigt wird, daß der Angeklagte am 17. September 1999 ankündigte, 100 Alibizeugen – aber jeweils nur zwei am Verhandlungstag – zu benennen, und damit zu erkennen gegeben hat, daß er zumindest zu diesem Zeitpunkt an einer zügigen Verhandlungsführung selbst nicht interessiert war, und man zusätzlich in Rechnung stellt, daß in der Folge zur Alibibeweisführung Rechtshilfeermittlungen im Ausland vorgenommen werden mußten, wiegt dies die unzureichende Verfahrensförderung zu Beginn des zweiten Hauptverhandlungsdurchganges nicht auf. Die genauere Feststellung der Verfahrensdauer, die auf diese Verzögerung und andere (etwa auch nach Erlaß des angefochtenen Urteils) eingetretenen rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerungen entfällt, wird dem neuen Tatrichter vorbehalten sein; er wird nach den Grundsätzen der Rechtsprechung – im Wege des Freibeweises – Art und Ausmaß der Verzögerung festzustellen und das Maß der Kompensation durch Vergleich der an sich verwirkten mit der tatsächlich verhängten Strafe ausdrücklich und konkret zu bestimmen haben (vgl. BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 7, 12; BGH NStZ 1999, 181). Dabei wird er auch das eigene Verhalten des Angeklagten zu berücksichtigen haben. Daß die Strafkammer bereits die lange Verfahrensdauer als allgemeinen Strafzumessungsgrund berücksichtigt hatte, machte die Feststellung der Verfahrensverzögerung nicht entbehrlich, da es sich insoweit um unterschiedliche Strafmilderungsgründe handelte (BGH NStZ 1999, 181), wenngleich sich beide Gründe zumindest teilweise in ihren Auswirkungen überschneiden.
Für die neue Bemessung der Strafe weist der Senat darauf hin, daß das Verschlechterungsgebot nach § 358 Abs. 2 StPO lediglich gebietet, die nach Durchführung des Kompensationsvorganges gebildete herabgesetzte Strafe nicht höher zu bemessen als die jetzt verhängte Strafe (BGHSt 45, 308). Dabei kann bedacht werden, daß bei diesem Strafmaß bereits die lange Verfahrensdauer berücksichtigt worden war und somit die Belastung des Angeklagten zumindest teilweise in die Bemessung der angesichts der außerordentlich schweren Straftat eher mäßigen Strafe eingeflossen ist. Allerdings wird der neue Tatrichter auch in den Blick zu nehmen haben, ob die verhängte Strafe in Verbindung mit den durch vermeidbare Verzögerungen bedingten Belastungen noch in einem angemessenen Verhältnis zu dem heute noch bestehenden öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung steht (vgl. BVerfG NJW 2003, 2225, 2227).
Unterschriften
Tolksdorf, Winkler, Pfister, Becker, Hubert
Fundstellen
Haufe-Index 2558914 |
NStZ 2004, 345 |
StV 2004, 241 |