Leitsatz (amtlich)

›Auch der in Weiterbildung zum Gynäkologen stehende Arzt ist, wenn er eigenverantwortlich eine Geburt übernimmt, dafür verantwortlich, daß für die Geburt der Behandlungsstandard gewährleistet ist, auf den Mutter und Kind Anspruch haben. Er kann aber grundsätzlich darauf vertrauen, daß die für seinen Einsatz und dessen Organisation verantwortlichen Entscheidungsträger auch für den Fall von Komplikationen, mit denen zu rechnen ist und für deren Beherrschung, wie sie wissen müssen, seine Fähigkeiten nicht ausreichen, organisatorisch die erforderliche Vorsorge getroffen haben; dies gilt nur dann nicht, wenn - für ihn erkennbar - Umstände hervortreten, die ein solches Vertrauen als nicht gerechtfertigt erscheinen lassen.‹

 

Tatbestand

Der Kläger wurde am 25. Januar 1983 gegen 5.30 Uhr im Städtischen Krankenhaus in N., dessen Trägerin die Drittbeklagte ist, mit enger Nabelschnurumschlingung um den Hals geboren. Bei Blässe, völliger Atonie und nur gelegentlich schnappenden Atembewegungen wurde der Apgar-Wert 2 festgehalten. Der im Kreißsaal diensttuende Erstbeklagte, ein in Weiterbildung zum Gynäkologen befindlicher Assistenzarzt, saugte den Kläger ab und nahm die Beatmung mit Sauerstoffbeutel auf. Wegen des bedrohlichen Zustandes des Klägers ließ er den zu Hause in Rufbereitschaft stehenden Oberarzt der Geburtshilflich-Gynäkologischen Abteilung, den in der chirurgischen Abteilung diensttuenden Zweitbeklagten - gleichfalls einen Assistenzarzt - sowie den Babynotarztwagen der Universitätskinderklinik in G. herbeirufen. Der Zweitbeklagte traf nach wenigen Minuten ein und übernahm die Sauerstoffbeatmung über die Maske; auch er saugte das Kind mehrfach ab. Die beiden Ärzte sprachen sodann über die Notwendigkeit einer Intubation, die sie jedoch nicht durchführen konnten, weil sie beide in dieser Technik nicht geübt waren. Im Einverständnis mit dem Erstbeklagten, der auch mit dieser Injektion nicht vertraut war, spritzte der Zweitbeklagte daraufhin eine Natriumbicarbonat-Lösung, eine sog. Pufferlösung. Dabei injizierte er, ohne dies zu bemerken, die Lösung in die Nabelarterie statt in die Nabelvene des Klägers. Kurz darauf setzte die Spontanatmung ein. Der gleich danach eintreffende Oberarzt intubierte den Kläger und ließ ihn später in die Universitätskinderklinik verlegen.

Der Kläger ist körperlich schwer geschädigt. Es bestehen ein schweres inkomplettes Querschnittssyndrom, eine beidseitige unvollständige Lähmung der unteren Gliedmaßen, Sensibilitätsstörungen in den Beinen, eine neurogene Blasenlähmung, Gelenkskontrakturen in Hüfte, Knie und Fuß verbunden mit einer Hüftluxation und der daraus folgenden Bindung des Klägers an Rollstuhl und Gehapparat. Er steht seit seiner Geburt in ständiger ärztlicher und krankengymnastischer Behandlung; er wurde mehrfach operiert.

Der Kläger verlangt von den Beklagten den Ersatz der durch seine Behinderung bedingten Aufwendungen, die er zuletzt auf 225.184, 13 DM beziffert hat, sowie die Zahlung eines Schmerzensgeldes; ferner begehrt er die Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zum Ersatz seiner auf dem Vorfall vom 25. Januar 1993 beruhenden zukünftigen materiellen und immateriellen Schäden.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Beklagten verurteilt, als Gesamtschuldner an den Kläger für die aus seiner Behinderung folgenden Mehraufwendungen 163.034, 53 DM sowie ein Schmerzensgeld in Höhe von 200.000 DM - jeweils nebst Zinsen - und eine monatliche Schmerzensgeldrente von 600 DM zu zahlen; ferner hat es festgestellt, daß die Beklagten - vorbehaltlich eines Anspruchsübergangs - als Gesamtschuldner zum Ersatz sämtlicher zukünftiger materieller und immaterieller Schäden aus dem Vorfall vom 25. Januar 1983 verpflichtet sind.

Mit der Revision verfolgen die Beklagten ihren Antrag auf Klageabweisung weiter.

Der Senat hat die Revision der Drittbeklagten nicht angenommen.

 

Entscheidungsgründe

I. Das Berufungsgericht wirft - sachverständig beraten - dem Erstbeklagten als Verstoß gegen die ärztlichen Sorgfaltspflichten vor, daß er als der für die Geburt verantwortliche Arzt die Injektion einer Pufferlösung durch den Zweitbeklagten geduldet habe, obwohl nach Lage der Dinge eine vorherige Intubationsbeatmung geboten gewesen sei. Eine Puffertherapie dürfe erst in Betracht gezogen und durchgeführt werden, wenn ein Versuch, den asphyktischen Zustand des Neugeborenen durch endotracheale Intubationsbeatmung zu verbessern, erfolglos verlaufen sei. Der Erstbeklagte habe mit der bei schwerer Asphyxie erheblichen Gefahr einer Verwechslung von Nabelarterie und Nabelvene rechnen müssen. Unabhängig von der Gefahr einer solchen Verwechslung und den mit ihr verbundenen Schädigungsrisiken entstünden auch wirkstoffspezifische Schädigungsrisiken, wenn "gepuffert" werde, bevor durch Intubation eine gesicherte Beatmung hergestellt worden sei. Die Kenntnis der Regel "Intubation vor Pufferung" und das Wissen um die mit der Pufferung verbundenen Gefahren hätten bereits 1983 zum gesicherten Stand medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnis gehört. Der Erstbeklagte habe als der die Geburt eigenverantwortlich leitende Arzt die Intubation am Neugeborenen beherrschen müssen; asphyktische Zustände bei Neugeborenen gehörten zu den Geburtskomplikationen, mit denen stets gerechnet werden müsse, und die Intubationsbeatmung gehöre zu den zwingend erforderlichen Methoden der Reanimation. Die körperlichen Schäden des Klägers beruhten auf dem Verstoß gegen die Regel "Intubation vor Pufferung".

Dem Zweitbeklagten sei eine Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflichten unterlaufen, als er die Pufferlösung in die Nabelarterie statt in die Nabelvene des Klägers injiziert habe. Es gelte der allgemeine Grundsatz, daß hochkonzentrierte Lösungen stets in die Vene, niemals aber in die Arterie hinein zu injizieren seien. Die Schäden, an denen der Kläger leide, beruhten auf dieser fehlerhaften Injektion.

II. Die Erwägungen, mit denen das Berufungsgericht ein Verschulden des Erstbeklagten und des Zweitbeklagten begründet hat, halten einer Nachprüfung im Ergebnis nicht stand.

1. Das Berufungsgericht lastet dem Erstbeklagten als Verschulden an, daß er als der die Geburt verantwortlich leitende Arzt die "Pufferung" entgegen der Regel "Intubation vor Pufferung" zustimmend zugelassen hat, obwohl in vielen Fällen schon die Intubation risikoloser und wirkungsvoller zur Reanimation führen könne und er hätte wissen müssen, daß die Gefahr einer Verwechslung von Nabelvene und Nabelarterie mit ihren Schädigungsrisiken nicht fernliege und überdies wirkstoffspezifische Schädigungsrisiken aufträten, wenn vor einer durch Intubation gesicherten Beatmung "gepuffert" werde. Vergeblich beruft sich die Revision auf die Ausführungen des Gutachters Prof. J., nach denen die Regel "Intubation vor Pufferung" im Jahre 1983 noch keineswegs allgemein bekannt und anerkannt gewesen sein soll. Die Sachverständigen Prof. V. und Prof. W. hatten in klaren und nachvollziehbaren Ausführungen dargelegt, daß im Jahre 1983 und davor in der medizinisch-wissenschaftlichen Diskussion Einigkeit darüber bestanden hat, daß vor der Gabe von Bikarbonat die Beatmung mit einem Tubus gesichert sein muß. Danach konnte das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler davon absehen, dem Antrag der Beklagten auf Einholung eines geburtshilflichen Obergutachtens stattzugeben (§ 412 ZPO).

Nun ist die Intubation des Klägers nicht deshalb unterblieben, weil der Erstbeklagte diese Regel nicht gekannt oder die Intubation des Klägers für nicht geboten erachtet hätte, sondern weil er - ebenso wie der Zweitbeklagte - in dieser Technik nicht geübt war. Nach Auffassung des Berufungsgerichts ist dem Erstbeklagten als dem die Geburt eigenverantwortlich leitenden Arzt auch das vorzuwerfen. Damit stellt sich die Frage, ob es dem Erstbeklagten als Fehlverhalten vorzuwerfen ist, daß er, ohne die Intubationstechnik zu beherrschen, die Verantwortung für die Geburt des Klägers übernommen hat.

Die Bejahung eines Übernahmeverschuldens hängt davon ab, ob der Arzt nach den bei ihm vorauszusetzenden Kenntnissen und Erfahrungen Bedenken gegen die Übernahme der Verantwortung für die Behandlung hätte haben und eine Gefährdung des Patienten hätte voraussehen müssen. Es kommt darauf an, ob er sich unter den besonderen Umständen des Falles darauf verlassen durfte, daß die vorgesehene Behandlung ihn nicht überforderte (vgl. BGHZ 88, 248, 258 f. = AHRS 1220/23). Diese für die "Anfängeroperation" entwickelten Grundsätze gelten hier entsprechend. Dies bedeutet hier:

Auch der erst in Weiterbildung zum Gynäkologen sich befindende Assistenzarzt ist, wenn er die eigenverantwortliche Leitung einer Geburt übernimmt, dafür verantwortlich, daß für diese Geburt der Behandlungsstandard gewährleistet ist, auf den Mutter und Kind Anspruch haben. Dies ist der Behandlungsstandard eines Facharztes. Ist der Assistenzarzt nach seinen eigenen Fähigkeiten nicht in der Lage, diesen Standard zu gewährleisten, dann darf er die eigenverantwortliche Leitung einer Geburt nur übernehmen, wenn dafür Vorsorge getroffen ist, daß seine Defizite durch die rechtzeitige Unterstützung durch andere ausgeglichen werden. Dies setzt eine entsprechende Organisation seines Einsatzes voraus, die in erster Linie Sache der Entscheidungsträger ist, die über seinen Einsatz zu befinden haben und seine Fähigkeiten und deren Grenzen kennen. Der Assistenzarzt kann grundsätzlich darauf vertrauen, daß die für seinen Einsatz und dessen Organisation verantwortlichen Entscheidungsträger auch für den Fall von Komplikationen, mit denen zu rechnen ist und für deren Beherrschung, wie sie wissen müssen, seine Fähigkeiten nicht ausreichen, organisatorisch die erforderliche Vorsorge getroffen haben. Das gilt nur dann nicht, wenn - für den Assistenzarzt erkennbar - Umstände hervortreten, die ein solches Vertrauen als nicht gerechtfertigt erscheinen lassen.

Im Streitfall war für Komplikationen dadurch Vorsorge getroffen worden, daß der Oberarzt der Geburtshilflich-Gynäkologischen Abteilung zu Hause in Rufbereitschaft stand. Der Erstbeklagte durfte auf die Funktionstüchtigkeit und Erprobtheit dieser Organisation vertrauen, es sei denn, er mußte auf Grund konkreter Anhaltspunkte wissen, daß der Oberarzt im Fall von Komplikationen, mit denen nach Lage der Dinge gerechnet werden mußte, nicht rechtzeitig zur Stelle sein werde. Die Beurteilung dieser Frage erfordert weitere Feststellungen, die das Berufungsgericht zu treffen hat.

Führen die zur Beantwortung dieser Frage gebotenen weiteren Feststellungen zu dem Ergebnis, daß dem Erstbeklagten ein Übernahmeverschulden nicht vorgeworfen werden kann, dann stellt sich für das Berufungsgericht die weitere Frage, ob dem Erstbeklagten als dem für die Geburt verantwortlichen Arzt als Verschulden anzulasten ist, daß er die "Pufferung" durch den Zweitbeklagten trotz ihrer Risiken zugelassen hat, statt auf das Eintreffen des Oberarztes zu warten. Hierzu bedarf es einer sachverständigen Stellungnahme zu den Risiken, die für den Kläger mit einem zeitlichen Aufschub von Behandlungsmaßnahmen bis zum voraussichtlichen Eintreffen des Oberarztes verbunden gewesen wären. Diese Risiken mußte der Erstbeklagte gegen die Gefahren einer "Pufferung" abwägen.

2. Das Berufungsgericht wirft dem Zweitbeklagten als Verletzung seiner Sorgfaltspflicht vor, daß er gegen die Regel verstoßen habe, niemals in die Arterie hinein zu injizieren. Auch diese Überlegung erweist sich nicht als tragfähig.

Zwar steht die Gültigkeit der genannten Regel außer Frage. Auch die Revision bestreitet sie nicht; der Zweitbeklagte hat stets geltend gemacht, die Pufferlösung in die Nabelvene injiziert zu haben. Die Revision macht jedoch mit Recht geltend, daß das Berufungsgericht relevanten Prozeßstoff nicht berücksichtigt hat (§ 286 ZPO). Das Berufungsgericht hat auf der Grundlage der Ausführungen der Sachverständigen festgestellt, daß zwar bei einem gesunden Säugling Nabelvene und Nabelarterie deutlich zu unterscheiden seien, daß aber in einem Schockzustand, in dem sich der Kläger befunden hat, Zweifel aufkommen könnten, die bei schwerer Asphyxie so weit gehen könnten, daß es selbst dem erfahrenen Geburtshelfer nicht mit Sicherheit gelinge, die Nabelvene von der Nabelarterie zu unterscheiden. Diese Feststellungen hätte das Berufungsgericht in die Beurteilung der Sorgfaltspflichtverletzung einbeziehen müssen. Es hätte sich deshalb unter Einholung sachverständigen Rates mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob es dem Zweitbeklagten angesichts des situationsbedingten Risikos einer Verwechslung der Venen einerseits und des mit einem untätigen Warten auf den Oberarzt für den Kläger verbundenen Risikos andererseits als Pflichtverletzung vorzuwerfen ist, daß er sich überhaupt für die "Pufferung" entschieden hat. Ist dies nicht der Fall, war also nach Lage der Dinge eine Pufferung geboten oder zumindest vertretbar, dann ist - gleichfalls auf der Grundlage einer Beratung durch einen Sachverständigen - zu entscheiden, ob dem Zweitbeklagten unter Berücksichtigung der bei ihm vorauszusetzenden Kenntnisse und Erfahrungen bei der Durchführung der "Pufferung" ein Verstoß gegen seine ärztliche Sorgfaltspflicht unterlaufen ist. Dabei sind die Umstände, unter denen er die "Pufferung" vorzunehmen hatte (verminderte Unterscheidbarkeit der Venen im Schockzustand), in die Gesamtwürdigung des Verhaltens des Zweitbeklagten miteinzubeziehen.

III. Das Berufungsurteil war damit aufzuheben und die Sache war an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, um ihm Gelegenheit zu geben, die erforderlichen Feststellungen zu treffen und auf dieser Grundlage erneut zu entscheiden. In die dem Berufungsgericht übertragene Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens sind auch die Kosten der Revision der Drittbeklagten einzubeziehen, die der Senat nicht angenommen hat.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2993285

NJW 1994, 3008

BGHR BGB § 823 Abs. 1 Arzthaftung 87

DRsp I(125)438a

MDR 1994, 1088

VersR 1994, 1303

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