Leitsatz (amtlich)
Zu den Anforderungen an die Sorgfaltspflicht des Verfahrensbevollmächtigten eines auf der Grundlage einer sofort vollziehbaren Ausweisungsverfügung in Abschiebehaft genommenen Griechen, durch geeignete Rechtsbehelfe der Abschiebung entgegenzuwirken.
Normenkette
BGB § 839; AufenthG/EWG § 4 Abs. 3; AuslG § 8 Abs. 2; VwVfG § 48 Abs. 1
Verfahrensgang
OLG Düsseldorf (Urteil vom 06.06.2001) |
LG Krefeld (Urteil vom 31.07.2000) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 18. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 6. Juni 2001 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als der Anschlußberufung der Beklagten stattgegeben worden ist.
Die Anschlußberufung der Beklagten gegen das Urteil der 6. Zivilkammer des Landgerichts Krefeld vom 31. Juli 2000 wird zurückgewiesen.
Von den Kosten des Berufungsrechtszuges haben der Kläger 96 v.H. und die Beklagte 4 v.H. zu tragen. Von den Kosten des Revisionsrechtszuges haben der Kläger 87 v.H. und die Beklagte 13 v.H. zu tragen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Das Ordnungsamt der beklagten Stadt verlängerte dem am 3. Februar 1991 in die Bundesrepublik eingereisten Kläger, einem Griechen, am 5. März 1996 die Aufenthaltserlaubnis bis zum 5. März 2001. Zunächst war er in abhängiger Stellung in einem Arbeitsverhältnis tätig, ehe er im Jahr 1994 ein Gewerbe anmeldete, das er bis Juli 1996 ausübte. Von Juli 1996 bis Februar 1997 bezog er von der Beklagten Sozialhilfe. Am 20. Februar 1997 gründete er mit einem Partner einen Groß- und Einzelhandel mit Getränken und Lebensmitteln in Düsseldorf. Zum Jahresende 1997 gaben der Kläger und sein Partner diesen Gewerbebetrieb auf. Der Kläger gründete am 1. Januar 1998 einen Getränkehandel im Gebiet der beklagten Stadt.
Durch Ordnungsverfügung vom 3. März 1997 beschränkte die Beklagte die Aufenthaltserlaubnis des Klägers bis zum 17. März 1997 und drohte ihm die Abschiebung für den Fall an, daß er die Bundesrepublik nicht innerhalb eines Monats nach dem 18. März 1997 verlasse. Zur Begründung wird in der Verfügung angeführt, der Kläger habe im Juli 1996 seine selbständige Tätigkeit als Gastwirt freiwillig aufgegeben und beziehe seither Sozialhilfe. Der Bescheid wurde dem Kläger am 6. März 1997 durch Niederlegung zugestellt.
Im Anschluß an eine Vorsprache bei der Ausländerbehörde der Beklagten am 5. März 1998 wurde der Kläger im Hinblick auf die Bestandskraft des Bescheides vom 3. März 1997 durch Beschluß vom 6. März 1998 in Abschiebehaft genommen und am 12. März 1998 nach Griechenland abgeschoben. Ein Schreiben seiner im März 1998 eingeschalteten Rechtsanwälte vom 5. März an die Ausländerbehörde und ein von ihnen am 11. März eingereichter, mit einem Wiedereinsetzungsantrag versehener Widerspruch gegen die Ordnungsverfügung vermochten die Abschiebung nicht mehr zu hindern. Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren schlossen die Parteien auf Vorschlag des Verwaltungsgerichts vom 6. November 1998 einen Vergleich, nach dem die Beklagte dem Kläger zusicherte, die Wirkungen der Abschiebung auf das Datum des Zustandekommens des Vergleichs zu befristen, und die Parteien übereinkamen, daß der Kläger nach Bekanntgabe der Befristungsentscheidung berechtigt sei, als Freizügigkeitsberechtigter in die Bundesrepublik zurückzukehren und einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis-EWG zu stellen. Der Kläger sah mit diesem Vergleich sein Begehren im Klage- und Eilverfahren vor dem Verwaltungsgericht insgesamt als erledigt an und übernahm dessen Kosten. In die Bundesrepublik kehrte er noch im November 1998 zurück.
Im anhängigen Verfahren nimmt der Kläger die Beklagte wegen der Ordnungsverfügung vom 3. März 1997 und der auf ihr beruhenden Abschiebung vom 12. März 1998 wegen Amtspflichtverletzung auf Schadensersatz in Anspruch. Seine erstinstanzlich mit 92.580,01 DM bezifferte Klage hatte vor dem Landgericht lediglich in Höhe von 3.168,45 DM nebst Zinsen Erfolg. Das Berufungsgericht wies seine Berufung, mit der er zuletzt weitere 86.842,89 DM verlangte, zurück und wies auf die unselbständige Anschlußberufung der Beklagten die Klage in vollem Umfang ab. Der Senat hat die Revision des Klägers angenommen, soweit er die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils begehrt.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat im Umfang der Annahme Erfolg. Dem Kläger steht gegen die Beklagte in dem vom Landgericht ausgeurteilten Umfang ein Amtshaftungsanspruch (§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG) zu. Im einzelnen gilt folgendes:
1. Das Berufungsgericht legt seiner Beurteilung zugrunde, daß die Ordnungsverfügung der Beklagten vom 3. März 1997 materiell rechtswidrig gewesen ist. Das ist richtig. Es weist insoweit zutreffend darauf hin, daß der Kläger im Zeitpunkt des Erlasses dieser Verfügung ein selbständiges Gewerbe ausübte und keine Leistungen der Sozialhilfe mehr bezog. Ihm war damit als Angehörigem eines Mitgliedstaates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG/EWG Freizügigkeit zu gewähren; er hatte nach § 4 Abs. 1, 2 AufenthG/EWG einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis von mindestens fünf Jahren, wie es 1996 für die Zeit bis zum 5. März 2001 geschehen war. Eine zeitliche Beschränkung der Erlaubnis nach § 4 Abs. 3 AufenthG/EWG kam im Zeitpunkt des Erlasses des Bescheids nicht mehr in Betracht. Auch aus § 12 AufenthG/EWG ergaben sich keine Gründe, den Kläger auszuweisen und abzuschieben.
An dieser Beurteilung sind die Gerichte im Amtshaftungsprozeß nicht wegen der Bestandskraft der Ordnungsverfügung gehindert (vgl. Senatsurteil BGHZ 113, 17, 19 f), über deren Rechtmäßigkeit im verwaltungsgerichtlichen Verfahren im Hinblick auf dessen vergleichsweise Erledigung nicht entschieden worden ist. Dabei kommt dem Vergleich nicht, wie die Beklagte in den Vorinstanzen gemeint hat, die Bedeutung zu, der Kläger habe die Rechtmäßigkeit der Ordnungsverfügung anerkannt oder sei aus dem Gesichtspunkt der unzulässigen Rechtsausübung gehindert, Amtshaftungsansprüche geltend zu machen.
2. Das Berufungsgericht hat offengelassen, ob die Beklagte im Hinblick auf die im März 1998 eingelegten Rechtsbehelfe des Klägers verpflichtet war, die Ordnungsverfügung vom 3. März 1997 gemäß § 48 VwVfG NW zurückzunehmen. Dies ist zu bejahen.
Bereits mit Schreiben seines Anwalts vom 5. März 1998 wurde die Beklagte darauf hingewiesen, daß der Kläger als Selbständiger über ein geregeltes Einkommen verfüge. Das Schreiben enthält zwar keine näheren zeitlichen Angaben in bezug auf die Sachlage im Zeitpunkt des Erlasses der Ordnungsverfügung. Dies beruhte jedoch darauf, daß der Kläger von diesem durch Niederlegung zugestellten Schriftstück noch keine Kenntnis hatte, weil es nach Ablauf der Niederlegungsfrist wieder an die Beklagte als Absenderin zurückgegangen war. Immerhin wird in dem Schreiben aber auch auf den Status des Klägers als EU-Bürger und den damit verbundenen höheren Ausweisungsschutz hingewiesen. Angesichts der tief in die Rechtssphäre des Klägers eingreifenden Ordnungsverfügung, zu deren Vollziehung die Beklagte bereits erste Schritte eingeleitet hatte, war sie verpflichtet, dem Hinweis auf eine selbständige Erwerbstätigkeit des Klägers, die dem im Bescheid zugrunde gelegten Sozialhilfebezug entgegenstand, nachzugehen. Erst recht ergab sich eine solche Pflicht aufgrund des Widerspruchs vom 11. März 1998 gegen die Ordnungsverfügung, in dem alle für die Beurteilung maßgeblichen Tatsachen im einzelnen vorgetragen wurden. Bei der danach gebotenen Prüfung hätte die Beklagte, wie das Landgericht zutreffend angenommen hat, ohne weiteres feststellen können, daß der Kläger, der während des gesamten maßgebenden Zeitraums in ihrem Gemeindegebiet wohnte und dort seit dem 1. Januar 1998 ein Gewerbe angemeldet hatte, jedenfalls seit März 1997 keine Sozialhilfe mehr bezog. Die Beklagte wäre daher aufgrund einer nur wenig Zeit in Anspruch nehmenden Prüfung zu dem Ergebnis gekommen, daß die Ordnungsverfügung schon im Zeitpunkt ihres Erlasses keine tragfähige Grundlage hatte. Um so weniger bestand im März 1998 ein beachtlicher Grund, den Kläger, der alle Voraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis als EU-Bürger erfüllte, auszuweisen und abzuschieben. Unter diesen Umständen wäre das nach § 48 Abs. 1 VwVfG NW grundsätzlich bestehende Ermessen, die Ordnungsverfügung vom 3. März 1997 mit Wirkung ex tunc zurückzunehmen und damit die Voraussetzungen für die Abschiebung des Klägers zu beseitigen, „auf Null” reduziert gewesen.
Eine entsprechende Prüfung war der Beklagten aufgrund des Schreibens vom 5. März 1998 und des Widerspruchs vom 11. März 1998 aufgegeben, ohne daß es insoweit einer auf die Rücknahme der Ordnungsverfügung bezogenen ausdrücklichen Antragstellung bedurfte. Wenn ihre Sachbearbeiter glaubten, wegen der – zunächst nur aus ihrer Sicht bestehenden – Bestandskraft der Ordnungsverfügung den Sachvortrag des Klägers ignorieren zu dürfen und nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen, wäre dies eine Handhabung, die angesichts der klar für den Kläger sprechenden Sachlage und der für ihn auf dem Spiel stehenden Interessen mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar wäre und einen erheblichen Verschuldensvorwurf begründen würde. Vollzogen die Sachbearbeiter der Beklagten die Abschiebung in Kenntnis der vom Kläger vorgebrachten Umstände, wäre ein Verschulden wegen fehlerhafter Ermessensausübung im Zusammenhang mit dem Unterlassen einer Rücknahme der materiell rechtswidrigen Ordnungsverfügung gleichfalls zu bejahen.
3. Ein Amtshaftungsanspruch ist nicht, wie das Berufungsgericht angenommen hat, nach § 839 Abs. 3 BGB ausgeschlossen.
Nach der Rechtsprechung des Senats ist der Begriff des Rechtsmittels im Sinne dieser Bestimmung weit zu fassen. Er umfaßt alle Rechtsbehelfe, die sich unmittelbar gegen die schädigende Amtshandlung oder Unterlassung selbst richten und nach gesetzlicher Ordnung ihre Beseitigung oder Berichtigung bezwecken und ermöglichen (vgl. BGHZ 123, 1, 7; 137, 11, 23). Der Widerspruch gegen die Ordnungsverfügung war das gegebene Rechtsmittel, um sie auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen. Das Berufungsgericht weist im Ausgangspunkt zwar zu Recht darauf hin, daß der Kläger den Widerspruch erst nach Ablauf der Widerspruchsfrist eingelegt hat. Ob ihm Wiedereinsetzung zu erteilen gewesen wäre oder ob die Versäumung dem Kläger als Verschulden zuzurechnen ist, kann aber offenbleiben. Denn auch im letzteren Fall waren der Widerspruch und das Schreiben vom 5. März 1998, was das Berufungsgericht übersieht, geeignete Rechtsbehelfe, um die Beklagte zu veranlassen, in eine Prüfung über die Rücknahme der Ordnungsverfügung einzutreten. Auch diese Prüfung hätte – wie ausgeführt – zum Ergebnis haben müssen, die Ordnungsverfügung als Grundlage für die Abschiebung zu beseitigen.
4. Der Senat teilt nicht die Auffassung des Berufungsgerichts, dem Kläger stehe nach § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB eine anderweitige Ersatzmöglichkeit zur Verfügung, weil er seinen damaligen Verfahrensbevollmächtigten wegen Verletzung seiner Pflichten aus dem Anwaltsvertrag in Anspruch nehmen könne. Richtig ist zwar die grundsätzliche Überlegung, daß ein Anwalt verpflichtet ist, den für seinen Mandanten sichersten Weg zu wählen, um dessen Rechte zu wahren und dessen Rechtsansprüche durchzusetzen. Das Berufungsgericht beurteilt jedoch die Frage, ob der Anwalt des Klägers diesen Maßstäben gerecht geworden ist, ohne hinreichende Berücksichtigung der konkreten Situation.
a) So kann der Senat schon in der Einlegung des mit einem Wiedereinsetzungsantrag verbundenen Widerspruchs kein Verhalten des Anwalts sehen, mit dem er die Interessen seines Mandanten nicht ausreichend wahrnahm. Zwar hatte der Wiedereinsetzungsantrag im Widerspruchsverfahren keinen Erfolg, und das Verwaltungsgericht ließ im Zusammenhang mit seinem Vergleichsvorschlag seine Auffassung durchblicken, der Kläger habe die ihn betreffende Ordnungsverfügung aller Voraussicht nach bestandskräftig werden lassen, so daß die erhobenen Rechtsbehelfe wahrscheinlich keine Aussicht auf Erfolg hätten. Dennoch fehlen Feststellungen, nach denen sich für den Verfahrensbevollmächtigten des Klägers bei seiner Mandatierung – der Kläger befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Polizeigewahrsam – die geringe Erfolgsaussicht dieses Antrags erschließen mußte. In der Sache hing die Erfolgsaussicht des Wiedereinsetzungsantrags weitgehend von einer Würdigung von tatsächlichen Gesichtspunkten ab, insbesondere ob der Benachrichtigungsschein über die Niederlegung in den Besitz des Klägers gelangt war.
b) Das Berufungsgericht hat es für den sichereren Weg gehalten, dem Kläger zur Beantragung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis unter Rücknahme der Ordnungsverfügung zu raten.
Dieses Begehren war jedoch in den beiden für den Kläger angebrachten Rechtsbehelfen ohne weiteres enthalten. Denn hierin wurde die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung mit Umständen bestritten, aus denen sich klar ergab, daß es der Ordnungsverfügung von vornherein an einer tragfähigen Grundlage mangelte. Wäre sie – wie geboten – nach § 48 VwVfG NW zurückgenommen worden, hätte es des vom Berufungsgericht für notwendig erachteten Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht bedurft. Zudem hätte einem solchen Antrag, wenn man von der Bestandskraft der Ausweisungsverfügung oder ihrer sofortigen Vollziehbarkeit ausgeht, grundsätzlich die Bestimmung des § 8 Abs. 2 Satz 2 AuslG entgegengestanden, der auch die Aufenthaltserlaubnis-EWG unterliegt (vgl. BVerwG DVBl. 2000, 429, 432). Dem entsprach es, daß der Kläger nach seiner Abschiebung erst wieder in die Bundesrepublik einreisen konnte, nachdem die Beklagte – im Vergleichsweg – die Ausweisungswirkungen entsprechend befristet hatte. Die Überlegung des Berufungsgerichts, der Beklagten wäre durch einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis die Prüfung der Sach- und Rechtslage „quasi aufgezwungen” worden, geht daher an der Sperrwirkung des § 8 Abs. 2 Satz 2 AuslG vorbei. Auch wenn man eine solche Antragstellung – wie das Berufungsgericht – lediglich als „Vehikel” betrachtet, um die Sachbearbeiter der Beklagten zu einer Überprüfung ihrer Ordnungsverfügung unter dem Blickwinkel ihrer Rücknahme nach § 48 VwVfG NW zu bewegen, könnte dem Verfahrensbevollmächtigten des Klägers das Unterlassen einer entsprechenden Antragstellung nicht als Fehler seiner anwaltlichen Pflichten vorgeworfen werden.
c) Das Berufungsgericht wirft dem Verfahrensbevollmächtigten des Klägers schließlich vor, er hätte im Wege einstweiligen Rechtsschutzes eine Aussetzung der Abschiebung bis zur Entscheidung über eine Aufenthaltserlaubnis und eine Rücknahme der Ordnungsverfügung erwirken müssen.
Hieran ist richtig, daß dann, wenn man die Ausweisungsverfügung als bestandskräftig ansah, ihre Rücknahme ein geeigneter Weg gewesen wäre, den Aufenthalt des Klägers in der Bundesrepublik sicherzustellen. Unterließ die Beklagte eine Überprüfung im Rahmen des § 48 VwVfG NW, hätte dem Kläger die Möglichkeit offengestanden, sich gemäß § 123 VwGO mit einem Antrag an das Verwaltungsgericht zu wenden. Bei einer rückschauenden Beurteilung hätte eine solche Antragstellung die Abschiebung am 12. März 1998 möglicherweise verhindern können.
Wenn auch nicht zu übersehen ist, daß eine solche Maßnahme durch die zur Sicherung der Abschiebung vorgenommene Inhaftnahme des Klägers nahegelegt sein konnte, sieht der Senat in ihrem Unterlassen unter Würdigung aller Umstände keinen Verstoß gegen die Pflichten aus dem Anwaltsvertrag und keine Grundlage für eine anderweitige Ersatzmöglichkeit für den Kläger. Der Verfahrensbevollmächtigte des Klägers stand selbst unter hohem Zeitdruck. Wie sich aus der vom Berufungsgericht beigezogenen Akte des Verwaltungsgerichts über einen am 19. März 1998 eingegangenen Antrag auf Wiederherstellung/Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs ergibt, wurde der Verfahrensbevollmächtigte des Klägers auf seine Eingabe vom 5. März 1998 erst mit Schreiben der Beklagten vom 10. März 1998 über Einzelheiten des Verwaltungsverfahrens informiert. Er gab, noch ehe er über die Ordnungsverfügung unterrichtet war, erste Hinweise, die diese in Frage stellten. Mit dem Widerspruch erhob er auch das Rechtsmittel, das ihm gegen die Verfügung zu Gebote stand. Darüber hinaus stellte er die Sachlage so eindrücklich dar, daß er – gerade auch in der nur knapp bemessenen Zeit – davon ausgehen durfte, die Beklagte werde ihre Ordnungsverfügung überprüfen, was ihr angesichts des einfach strukturierten Sachverhalts und des Umstandes, daß ihr in ihrem Bereich alle notwendigen Informationen zugänglich waren, ohne weiteres möglich war. Er mußte daher nicht damit rechnen, daß sich die Beklagte gegen Recht und Gesetz über seinen Vortrag hinwegsetzte und ihre Tätigkeit offenbar als bereits abgeschlossen betrachtete, ehe sie sie überhaupt begonnen hatte. Auch wenn man berücksichtigt, daß die Abschiebehaft des Klägers bis zum 20. März 1998 befristet war, mußte der Verfahrensbevollmächtigte des Klägers nicht in Rechnung stellen, sich bereits vor dem 12. März 1998 – dem Tag der Abschiebung – mit dem Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung an das Verwaltungsgericht wenden zu müssen.
d) Daß der Verfahrensbevollmächtigte des Klägers in der knapp bemessenen Zeit noch einen anderen Rechtsbehelf hätte ergreifen können, um die Beklagte von einer Aussetzung der Vollziehung abzuhalten, ist angesichts ihres Verhaltens nicht erkennbar. Als ein solcher Rechtsbehelf wäre noch in Betracht gekommen, die Befristung der Ausweisungswirkungen zu beantragen. Grundsätzlich ist zwar eine Befristung der Ausweisungswirkungen erst nach einer Ausreise möglich (§ 8 Abs. 2 Satz 3, 4 AuslG). Kraft des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts ist die Behörde jedoch dann, wenn ein Freizügigkeitsberechtigter Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis-EG hat, verpflichtet, die Befristung so vorzunehmen, daß sich das dem Betroffenen zustehende Freizügigkeitsrecht sogleich entfalten kann. Insoweit darf die Behörde ihre Entscheidung daher nicht von der Voraussetzung einer vorherigen Ausreise (§ 8 Abs. 2 Satz 4 AuslG) abhängig machen (vgl. BVerwG DVBl 2000, 429, 432 f).
Die tatsächlichen Abläufe verdeutlichen jedoch, daß die Stellung eines solchen Antrags, über den die Beklagte durch Bescheid zu befinden gehabt hätte, nur theoretischer Natur gewesen wäre. Auch insoweit hätte das Verwaltungsgericht – wie in dem eingeleiteten Eilverfahren nach § 80 VwGO – nicht mehr rechtzeitig angerufen werden können.
5. Hat die Beklagte dem Kläger hiernach nach Amtshaftungsgrundsätzen für das Fehlverhalten ihrer Beamten einzustehen, hat sie diesem die vom Landgericht zuerkannten Schadenspositionen, gegen deren Höhe die Beklagte in ihrer Anschlußberufung keine Einwände erhoben hat, zu ersetzen. Insoweit gilt folgendes:
a) Das Berufungsgericht versagt dem Kläger einen Ersatzanspruch für die von ihm aufgewendeten Anwaltskosten im verwaltungsgerichtlichen Verfahren unter Hinweis auf den dort geschlossenen Vergleich. In ihm hatte der Kläger die Kosten des Klage- und Eilverfahrens übernommen. Das Berufungsgericht sieht hierin eine endgültige Kostenregelung, die es dem Kläger verwehre, sich auf eine andere Kostenverteilung aus Amtshaftungsgesichtspunkten zu berufen. Jedenfalls hätte er im verwaltungsgerichtlichen Verfahren eine entsprechende Klarstellung vornehmen müssen.
Die tatrichterliche Auslegung eines Prozeßvergleichs unterliegt der revisionsrechtlichen Prüfung jedenfalls darauf, ob anerkannte Auslegungsgrundsätze, gesetzliche Auslegungsregeln, Denkgesetze oder Erfahrungssätze verletzt sind (vgl. BGH, Urteil vom 11. Mai 1995 – VII ZR 116/94 – NJW-RR 1995, 1201, 1202). Die Frage, ob Prozeßvergleiche vom Revisionsgericht in weitergehendem Umfang ausgelegt werden können, bedarf keiner Entscheidung, weil sich die Auslegung des Berufungsgerichts, ohne daß es einer dahingehenden Rüge der Revision bedürfte, schon aufgrund einer beschränkten Nachprüfung als rechtsfehlerhaft erweist. Der geschlossene Vergleich enthält eine Kostenregelung für die beiden anhängig gewesenen verwaltungsgerichtlichen Verfahren. Dabei ist dem Vergleichsvorschlag des Verwaltungsgerichts zu entnehmen, daß einerseits dem Kläger eine Wiedereinreise ermöglicht werden sollte, weil er „kurz vor Erlaß der angefochtenen Ordnungsverfügung bis zu seiner Abschiebung wohl wieder einer selbständigen Beschäftigung nachgegangen sein dürfte”, andererseits berücksichtigt werden sollte, daß der Kläger die Ordnungsverfügung aller Voraussicht nach habe bestandskräftig werden lassen, so daß die erhobenen Rechtsbehelfe wahrscheinlich keine Aussicht auf Erfolg hätten. Vor diesem Hintergrund spricht alles dafür, daß die Kostenregelung im Vergleich nur das berücksichtigt, was sich aufgrund der Prozeßlage in den beiden verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergab. Daß auch etwaige Amtshaftungsansprüche des Klägers Gegenstand des Vergleichs gewesen seien, ist weder erkennbar noch vorgetragen. Schon deshalb bedurfte es im Rahmen des Vergleichsschlusses keines Vorbehalts des Klägers. Auch die Beklagte hat nicht geltend gemacht, daß der Vergleich speziell in bezug auf die Anwaltskosten einen Schadensersatzanspruch ausschließe. Sie hat vielmehr lediglich die nicht zutreffende, oben zu 1 bereits wiedergegebene Auffassung vertreten, die vergleichsweise Erledigung schließe jeden Amtshaftungsanspruch dem Grunde nach aus. Die Ersatzfähigkeit der aufgewendeten Kosten ergibt sich daraus, daß der Kläger gegen seine rechtswidrige Ausweisung anwaltliche Hilfe in Anspruch nehmen durfte, um wieder in die Bundesrepublik einreisen zu können.
b) Das Landgericht hat dem Kläger einen Betrag von 300 DM zuerkannt, der diesem als Kostenbeitrag zur Finanzierung seiner Abschiebung einbehalten worden war. Das Berufungsgericht hat dem Kläger einen entsprechenden Anspruch versagt, weil dieser seine Klage auf diese Schadensposition weder in erster noch in zweiter Instanz gestützt habe.
Dem ist nicht beizutreten. Richtig ist zwar, daß die Klageschrift eine entsprechende Schadensposition nicht enthält. In der ersten mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht wurde der Kläger auf Schlüssigkeitsbedenken aufmerksam gemacht, die ihm Anlaß gaben, seinen Schaden näher zu erläutern. In diesem Zusammenhang wies er auf diese Schadensposition hin, ohne freilich seine Schadensberechnung grundsätzlich zu überarbeiten. Selbst wenn man daher der Auffassung wäre, das Landgericht habe unter Verstoß gegen § 308 Abs. 1 ZPO dem Kläger diese Schadensposition zuerkannt, hat dieser sich diese Berechnung jedenfalls im Berufungsverfahren zu eigen gemacht. Denn er hat im zweiten Rechtszug seinen Schaden in anderer Weise begründet und mit seiner Berufung nur das zusätzlich verlangt, was ihm nicht bereits das Landgericht zuerkannt hatte. Indem er die Zurückweisung der Anschlußberufung der Beklagten begehrt hat, hat er die ihm vom Landgericht zuerkannte Schadensposition zum Streitgegenstand in zweiter Instanz gemacht.
c) Gegen die Zuerkennung von Beträgen für die Kosten des Rückflugs und eine erforderliche Übernachtung sind keine Bedenken ersichtlich. Die Anschlußberufung der Beklagten ist daher ohne Erfolg.
Unterschriften
Rinne, Wurm, Kapsa, Dörr, Galke
Fundstellen
Haufe-Index 888192 |
BGHR 2003, 274 |
BGHR |
NVwZ 2003, 1409 |
Nachschlagewerk BGH |
InfAuslR 2003, 129 |
MDR 2003, 265 |
DVBl. 2003, 460 |
GV/RP 2003, 618 |
KomVerw 2003, 357 |
FuBW 2003, 615 |
FuHe 2003, 514 |