Verfahrensgang
LG Hannover (Urteil vom 17.04.2002) |
Tenor
Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hannover vom 17. April 2002
- in den Schuldsprüchen wegen gefährlicher Körperverletzung und
- in den Strafaussprüchen
mit den jeweils zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten I. der gefährlichen Körperverletzung sowie der Zuhälterei in zwei Fällen schuldig gesprochen und gegen ihn eine zur Bewährung ausgesetzte Jugendstrafe von zwei Jahren ausgesprochen. Den Angeklagten G. hat es wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt, die es ebenfalls zur Bewährung ausgesetzt hat. Die Staatsanwaltschaft beanstandet mit ihrer auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision sowohl die Schuldsprüche als auch – insoweit deutlich zu Ungunsten der Angeklagten – die Strafaussprüche. Die Angeklagten erheben mit ihren Revisionen die Sachbeschwerde, wobei der Angeklagte I. den Schuldspruch wegen Zuhälterei in zwei Fällen von seinem Rechtsmittel ausgenommen hat. Die Rechtsmittel haben Erfolg.
Nach den Feststellungen zum Körperverletzungsgeschehen lauerten am 21. April 2000 gegen 21.55 Uhr die Angeklagten zusammen mit vier weiteren unbekannten Mittätern dem Zeugen … W. auf. Nachdem einer der Tatbeteiligten den Zeugen von hinten an der Schulter getippt und ihm beim Umdrehen mit einem Gegenstand auf das linke Auge geschlagen hatte, prügelten und traten sie so auf ihn ein, daß er schwere Verletzungen erlitt.
1. Revisionen der Angeklagten
Gegen die Beweiswürdigung des Landgerichts zu den Schuldsprüchen wegen gefährlicher Körperverletzung bestehen durchgreifende sachlichrechtliche Bedenken.
a) Der Angeklagte I. hat eine Beteiligung an dieser Tat bestritten, der Angeklagte G. hat keine Angaben gemacht. Ihre Überzeugung, daß beide Angeklagte Mittäter der gefährlichen Körperverletzung waren, hat die Jugendkammer auf eine Gesamtschau der in der Hauptverhandlung verlesenen polizeilichen Vernehmungen des Zeugen … W. und der ergänzenden Aussagen der Vernehmungsbeamten gestützt. Insbesondere habe der Zeuge W. am 21. Mai 2001 aus einem ihm vorgelegten Ordner die auf den Lichtbildern Nr. 1 und Nr. 30 (Bilder des Angeklagter I.) sowie Nr. 53 (Bild des Angeklagten G.) abgebildeten Personen „mit hoher Wahrscheinlichkeit” als Mittäter wiedererkannt. Soweit er verkannt habe, daß die Lichtbilder Nr. 1 und Nr. 30 nicht verschiedene Personen zeigten, sondern jeweils den Angeklagten I., sei dies wegen des unterschiedlichen Alters der Fotos nachvollziehbar (UA S. 9). Bei seiner polizeilichen Vernehmung vom 7. Juni 2001 habe der Zeuge ausgesagt, die auf den Bildern Nr. 1 und Nr. 30 gezeigten Personen erkenne er mit hundertprozentiger Sicherheit wieder, bei dem auf Bild Nr. 53 abgebildeten Mann sei er sich nicht mehr sicher. Bei einer späteren Unterredung am selben Tag habe er gegenüber dem Vernehmungsbeamten geäußert, er habe auch die Person von Bild Nr. 53 sicher als Mittäter identifiziert, jedoch Angst gehabt, dies zu sagen (UA S. 8). Die vier Aussagen des Zeugen W. seien – so die Überzeugung des Landgerichts – im Kern gleich, die Abweichungen seien als Ergänzungen zu werten. Von Beginn an habe der Zeuge die Angeklagten auf den Fotos sicher identifiziert (UA S. 10).
b) Diese Beweiswürdigung ist in sich widersprüchlich, in einzelnen Punkten unvollständig und weist daher Rechtsfehler auf (vgl. Meyer-Goßner, StPO 46. Aufl. § 337 Rdn. 26 ff.).
Entgegen der Wertung der Jugendkammer hat der Zeuge W. weder die Angeklagten von Anfang an sicher identifiziert noch widerspruchsfrei ausgesagt. Denn er hat die Angeklagten bei der ersten Lichtbildvorlage nur „mit hoher Wahrscheinlichkeit” als Mittäter bezeichnet und den auf den Bildern Nr. 1 und Nr. 30 dargestellten Angeklagten I. nicht als die gleiche Person erkannt.
Lücken sind schon darin zu sehen, daß die Beweiswürdigung nicht mitteilt, wie die polizeilichen Lichtbildvorlagen im einzelnen durchgeführt worden sind und anhand welcher Merkmale der Zeuge W. die Angeklagten über ein Jahr nach der Tat als Mittäter wiedererkannt haben will. Auch verhält sie sich nicht dazu, ob zwischen den vom Zeugen am 24. Juli 2000 zeitnah abgegebenen Beschreibungen von zwei Mittätern (UA S. 6) und dem äußeren Erscheinungsbild der Angeklagten eine Ähnlichkeit besteht (vgl. BGH StV 1997, 454). Wegen dieser Lücken ist der Senat nicht in der Lage, anhand objektiver Kriterien die Qualität der Wiedererkennung zu überprüfen (vgl. OLG Düsseldorf NStZ-RR 2001, 109).
Vor allem lassen die Urteilsgründe nicht erkennen, daß sich die Jugendkammer des nur beschränkten Beweiswertes eines „wiederholten Wiedererkennens” (BGHSt 16, 204, 205 f.; BGHR StPO § 261 Identifizierung 3, 12, 13; BGH NStZ 1996, 350) bewußt war. Wegen der möglichen suggestiven Wirkung der „ersten Wiedererkennung” ist nämlich ohne nähere Begründung nicht von vorneherein ausgeschlossen, daß der Zeuge bei der zweiten Lichtbildvorlage vom 7. Juni 2001 nicht wirklich die Angeklagten mit hundertprozentiger Sicherheit als Mittäter wiedererkannte, sondern nur deren Fotos, die ihm erst drei Wochen vorher vorgelegt worden waren. Unter den gegebenen Umständen hätte dies vor allem deshalb ausdrücklich erörtert werden müssen, weil dem erneuten Wiedererkennen wegen des Fehlens weiterer wesentlicher Beweismittel eine ausschlaggebende Bedeutung zukommt, der Zeuge W. die ihn teilweise von hinten angreifenden sechs Tatbeteiligten nur kurz sehen konnte (UA S. 5, 6), kurzfristig das Bewußtsein verlor (UA S. 5) und die Angeklagten bei der ersten Wiedererkennung lediglich „mit hoher Wahrscheinlichkeit” (UA S. 8) identifizieren konnte.
2. Revision der Staatsanwaltschaft
a) Mit der Sachrüge hat das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hinsichtlich der Strafaussprüche zu Ungunsten der Angeklagten Erfolg.
Zwar ist die Beurteilung, ob ein Heranwachsender zur Tatzeit nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand (§ 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG) und wo bei mehreren in verschiedenen Alters- und Reifestufen begangenen Straftaten, auf die teils Jugendstrafrecht und teils allgemeines Strafrecht anzuwenden wäre, das Schwergewicht liegt (§ 32 JGG), Sache des tatrichterlichen Ermessens und daher grundsätzlich der Überprüfung durch das Revisionsgericht entzogen. Jedoch ist – worauf die Staatsanwaltschaft zutreffend abstellt – jeweils eine Gesamtbetrachtung aller wesentlichen Gesichtspunkte, insbesondere eine Gesamtwürdigung der Täterpersönlichkeit notwendig (vgl. BGHSt 36, 37 f., BGHR JGG § 32 Schwergewicht 3). Diesen Anforderungen wird das Urteil nicht gerecht.
Auf den Angeklagten I. hat die Jugendkammer gemäß § 32 JGG einheitlich Jugendstrafrecht angewandt, obwohl er von den drei abgeurteilten Taten zwei als Erwachsener begangen hat, nämlich die hier in Rede stehende Körperverletzung mit etwa 22 1/2 Jahren und die zweite Zuhälterei mit mehr als 23 Jahren; lediglich bei Begehung der ersten Zuhälterei war er mit 20 1/2 Jahren noch Heranwachsender. Zur Begründung hat sie ausgeführt, daß unter Berücksichtigung des näher geschilderten, schwierigen Werdegangs des Angeklagten und seines jetzigen Erscheinungsbildes nicht sicher auszuschließen sei, daß er für die Tatzeit der ersten Zuhälterei (Mai/Juni 1998) noch einem Jugendlichen gleichgestanden habe. Die einheitliche Anwendung des Jugendstrafrechts auf alle Taten hat sie damit begründet, daß die nach diesem Recht „zu ahndende erste Tat nach Lage der Dinge den Einstieg in die folgende Strafbarkeit darstelle.”
Beide Erwägungen halten rechtlicher Überprüfung nicht stand. Bei der Annahme, der Angeklagte habe zur Zeit der ersten Tat noch einem Jugendlichen gleichgestanden, hat die Jugendkammer mit seiner Tätigkeit im Rotlichtmilieu und den dabei gewonnenen Erfahrungen Umstände außer Betracht gelassen, die in die gebotene Gesamtabwägung hätten einbezogen werden müssen. Die Tätigkeit als Zuhälter läßt eher auf eine gewisse Selbständigkeit schließen und spricht dagegen, daß bei dem Angeklagten, was für die Gleichstellung eines Heranwachsenden mit einem Jugendlichen maßgeblich ist (vgl. BGHSt 36, 37 ff.), Entwicklungskräfte noch in größerem Umfang wirksam waren. Daß das Schwergewicht der Taten des Angeklagten i. S. des § 32 JGG bei der Tat liegt, die nach Jugendstrafrecht zu beurteilen wäre, hat das Landgericht mit der pauschalen Behauptung, die erste Straftat der Zuhälterei stelle den Einstieg in die spätere Strafbarkeit dar, nicht ausreichend begründet (vgl. BGH NStZ 1986, 219). Unter den gegebenen Umständen liegt diese Annahme sogar eher fern, zumal der Angeklagte die Grenze zum Erwachsenenalter bei zwei der drei Straftaten deutlich überschritten hatte und bei Begehung der gefährlichen Körperverletzung, die das Landgericht für besonders gewichtig erachtet und zum Anlaß für die Verhängung von Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld genommen hat, bereits etwa 22 1/2 Jahre alt war.
Beim Angeklagten G., der mit einem Alter von 20 Jahren und 10 Monaten zum Tatzeitpunkt gerade noch Heranwachsender war, hat die Strafkammer zwar seine Betätigung im Prostituiertenmilieu erwähnt, jedoch den für die Gesamtwürdigung der Täterpersönlichkeit entscheidenden Umstand nicht näher erörtert, welche Tätigkeiten er in diesem Milieu ausgeübt hat.
b) Da die Revision der Staatsanwaltschaft bereits mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts erfolgreich ist, kommt es auf die Verfahrensrügen, deren Sinn sich den weitschweifigen Ausführungen ohnehin nur mit Mühe entnehmen läßt, nicht mehr an. Insofern gibt das Rechtsmittel aber Anlaß zu folgendem Hinweis:
Soweit die Staatsanwaltschaft die Verletzung von § 244 Abs. 2 StPO sowie der §§ 250, 251 StPO rügt und beanstandet, daß die Protokolle der polizeilichen Vernehmungen des Geschädigten und einzigen Belastungszeugen verlesen worden sind und dieser nicht vernommen worden ist, macht die Revision – zumal vor dem Hintergrund der dargestellten Beweissituation – nur Sinn, wenn es die Absicht der Staatsanwaltschaft gewesen wäre, sie zu Gunsten der Angeklagten einzulegen, was aber nach Nr. 147 Abs. 3 Satz 2 RiStBV deutlich hätte zum Ausdruck gebracht werden sollen. Sollte die Staatsanwaltschaft – wie es den Anschein hat – sie indes ausschließlich zu Ungunsten der Angeklagten eingelegt haben, weil sie meint, durch die Vernehmung des Geschädigten hätte der Nachweis geführt werden können, daß die Angeklagten die gefährliche Körperverletzung, deren sie schuldig gesprochen worden sind, nicht nur mittels eines gefährlichen Werkzeuges (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB) und gemeinschaftlich (§ 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB) begangen haben, sondern auch mittels eines hinterlistigen Überfalls (§ 224 Abs. 1 Nr. 3 StGB), so wären die Beweggründe für die Einlegung des Rechtsmittels allerdings kaum nachvollziehbar (vgl. auch Nr. 147 Abs. 1 RiStBV).
Unterschriften
Tolksdorf, Winkler, Pfister, von Lienen, Hubert
Fundstellen
Haufe-Index 2558958 |
NStZ 2003, 493 |
StV 2004, 58 |
StraFo 2003, 201 |