Leitsatz (amtlich)
›Ohne erneute Vernehmung darf das Berufungsgericht auch dann nicht über den in erster Instanz protokollierten Inhalt der Zeugenaussage hinaus allein aus dem Gang der Vernehmung die Zuverlässigkeit der Aussage beurteilen, wenn das erstinstanzliche Gericht die Aussage in ihrem objektiven und subjektiven Gehalt nicht gewürdigt hat.‹
Verfahrensgang
LG Frankfurt am Main |
OLG Frankfurt am Main |
Tatbestand
Der Kläger begab sich am 1. Juli 1976 auf Veranlassung seines Hausarztes wegen einer etwa pflaumengroßen Schwellung an der rechten Halsseite unterhalb des Haaransatzes in die Ambulanz des von der Erstbeklagten betriebenen Krankenhauses in F. Nach ärztlicher Untersuchung wurde im eine ambulante Operation zur Entnahme einer Gewebeprobe angeraten. Diese Operation nahm am Morgen des 2. Juli 1976 der damals als Oberarzt bei der Erstbeklagten angestellte Zweitbeklagte vor. In der Folgezeit litt der Kläger an starken Schmerzen in der rechten Schulter. Am 18. Oktober 1976 unterzog er sich in der Universitätsklinik F. einer weiteren Halsoperation, bei der eine tuberkulöse Halslymphdrüsenentzündung festgestellt und der Herd durch eine sogenannte neck-dissection ausgeräumt wurde. Der Operateur Dr. M. stellte in seinem Operationsbericht fest, daß der nervus accessorius durchtrennt sei. Der Kläger hat eine dauernde Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit des rechten Armes erlitten.
Mit seiner Klage nimmt der Kläger die Beklagten auf Ersatz seiner materiellen und immateriellen Schäden sowie auf Feststellung ihrer Ersatzpflicht für Zukunftsschäden in Anspruch. Er behauptet, der Zweitbeklagte habe bei der Operation vom 2. Juli 1976 den nervus accessorius infolge unsachgemäßen Vorgehens durchtrennt. Darüber hinaus macht er geltend, seine Einwilligung in die Operation sei unwirksam gewesen, weil er zuvor nicht über die Gefahr einer etwaigen Verletzung des nervus accessorius und der daraus folgenden Gesundheitsbeeinträchtigung aufgeklärt worden sei.
Die Beklagten behaupten, die Operation sei fehlerfrei durchgeführt und der Kläger vor der Operation auch ordnungsgemäß aufgeklärt worden.
Die Beklagten behaupten, die Operation sei fehlerfrei durchgeführt und der Kläger vor der Operation auch ordnungsgemäß aufgeklärt worden.
Das Landgericht hat durch Grund- und Teilurteil die Klage unter Abweisung im übrigen gegen die Erstbeklagte wegen der materiellen Schäden dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt und insoweit auch dem Feststellungsbegehren stattgegeben. Gegenüber dem Zweitbeklagten hat es dem Feststellungsbegehren voll entsprochen und die gegen ihn gerichtete Klage im vollen Umfange dem Grunde nach für gerechtfertigt gehalten.
Die Berufung der Beklagten hatte keinen Erfolg. Mit ihrer Revision begehren sie weiter die Abweisung der Klage im vollen Umfange.
Entscheidungsgründe
I.
Das Berufungsgericht, sachverständig beraten, stellt fest, daß der Zweitbeklagte bei der Operation vom 2. Juli 1976 den nervus accessorius des Klägers an der rechten Halsseite durchtrennt hat. Es läßt jedoch offen, ob das auf einem Behandlungsfehler des Zweitbeklagten während der Operation beruht, wenn seiner Ansicht nach auch viel dafür spricht. Schadensersatzansprüche des Klägers hält das Berufungsgericht aber deshalb für begründet, weil die Einwilligung des Klägers in die Operation mangels nicht feststellbarer vorheriger ordnungsgemäßer Aufklärung über das Risiko einer Schädigung des nervus accessorius unwirksam gewesen sei. Er hält unter Würdigung der protokollierenden Aussage des Arztes Dr. S. vor dem Landgericht und der Anhörung des Klägers sowie des Zweitbeklagten nicht für bewiesen, daß mit dem Kläger über solche Gefahren des Eingriffs gesprochen worden ist. Ebensowenig kann nach Ansicht des Berufungsgerichts festgestellt werden, daß der Kläger sich der Operation durch den Zweitbeklagten auch dann unterzogen hätte, wenn er ordnungsgemäß aufgeklärt gewesen wäre. Dessen Behauptung, er wäre weggegangen, wenn er erfahren hätte, daß infolge der Operation eine Nervenschädigung und damit verbundene Lähmungserscheinungen an der rechten Schulter drohten, könne nicht widerlegt werden.
Das angefochtene Urteil hält den Verfahrensrügen der Revision nicht stand.
1. Der erkennende Senat hat wiederholt dazu Stellung genommen, welche Anforderungen an die Beweisführung des Arztes zu stellen sind, der behauptet, den Patienten über Verlauf und Risiken des geplanten Eingriffes aufgeklärt zu haben (vgl. zuletzt Senatsurteil vom 8. Januar 1985 - VI ZR 15/83 - NJW 1985, 1399 - Versr 1985, 361 m.w.N.). Anders als das Landgericht, das offenbar der von dem Zeugen Dr. S. bekundeten Übung am Krankenhaus der Erstbeklagten, Patienten über die Risiken einer Operation aufzuklären, keinen Beweiswert beigemessen hat, hat das Berufungsgericht diese Grundsätze nicht verkannt, sondern ist sich dessen bewußt gewesen, daß an den Arzt insoweit keine unbilligen und übertriebenen Anforderungen gestellt werden dürfen.
2. Zutreffend erwägt das Berufungsgericht danach bei seiner Beweiswürdigung zunächst, daß die ständige Übung und Handhabung der Aufklärung von Patienten in einem Krankenhaus ein wichtiges Indiz für eine Aufklärung des Patienten auch im Einzelfall darstellen kann. Ohne erneute Vernehmung des Zeugen Dr. S. hierzu durfte es aber nicht feststellen, dessen Aussage sei nicht mit hinreichender Sicherheit zu entnehmen, daß "die Aufklärungsgewohnheiten" im Krankenhaus der Erstbeklagten "seinerzeit schon so eingefahren und üblich" gewesen seien, daß "man annehmen konnte, die Aufklärung werde in jedem Fall vorgenommen".
a) Das Berufungsgericht hat sich insoweit nicht etwa einer Würdigung der Aussage des Zeugen durch das Landgericht angeschlossen. Es hat vielmehr erstmalig deren Inhalt und Tragweite gewertet, wobei es sich nur auf die Niederschrift dieser Aussage stützen konnte. Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ist das ohne erneute Vernehmung des Zeugen nur zulässig, wenn dabei weder der objektive Inhalt der Aussage, wie er protokolliert worden ist, verändert oder im Zusammenhang anders gewichtet wird, noch die Frage der Glaubwürdigkeit abweichend von der ersten Instanz beurteilt wird (vgl. u.a. Senatsurteile vom 3. April 1984 - VI ZR 195/82 - VersR 1984, 582 - und vom 20. November 1984 - VI ZR 73/83 - VersR 1985, 183 = NJW 1985, 3078 m.w.N.; zur Augenscheinseinnahme Senatsurteil vom 21. Mai 1985 - VI ZR 235/83 - VersR 1985, 839). Das hat nicht nur dann zu gelten, wenn in erster Instanz die erhobenen Zeugenbeweise ihrem objektiven und subjektiven Gehalt nach gewürdigt worden sind, sondern auch dann, wenn sie im Streitfall eine solche Würdigung fehlt, weil das erstinstanzliche Gericht das Beweisergebnis ganz oder teilweise als seiner Ansicht nach für die Entscheidungsfindung entbehrlich unberücksichtigt und unbewertet gelassen hat. Als Grundlage für seine Beweiswürdigung steht dem Berufungsgericht dann nämlich nur die Niederschrift über die Zeugenvernehmung zur Verfügung, die über ihren reinen Wortlaut hinaus den Gang der Vernehmung nur unvollkommen wiederzugeben pflegt und in der Regel keine Aufschlüsse über das Aussageverhalten geben kann. Ohne Rückgriff auf Ausführungen des erstinstanzlichen Gerichts dazu darf deshalb vom protokollierten Wortlaut einer Aussage nicht abgewichen werden. Überlegungen darüber, ob und was der Zeuge anders gemeint haben könne, ob er seiner Sache sicher gewesen sei und dergleichen müssen ohne einen persönlichen Eindruck, ohne Möglichkeit der Nachfrage und des Vorhalts und ohne Anhaltspunkte in einer Würdigung durch den erstinstanzlichen Richter Spekulation bleiben.
b) Gegen diese Grundsätze hat das Berufungsgericht im Streitfall verstoßen. Dr. S. hat vor dem Landgericht ohne aus dem Protokoll ersichtliche Einschränkungen bekundet, schon damals sei es üblich gewesen, auch bei einer ambulanten Behandlung den Patienten bei der ersten Untersuchung aufzuklären, und das ein zweites Mal noch vor der Operation. An anderer Stelle seiner Vernehmung hat er bekundet, sie (die Ärzte) seien gleich zu Beginn der ärztlichen Ausbildung vom Chef strengstens dazu angehalten worden, auf die Aufklärung der Patienten zu achten, ferner daß er "unter Berücksichtigung der Gepflogenheiten und des Organisationsaublaufes in der Klinik" annehme, eine Aufklärung des Klägers durch andere Ärzte sei erfolgt, d.h. durch solche, die nicht an der Operation beteiligt gewesen seien. Das Landgericht hat diesem Teil der bekundeten Aussage keine Bedeutung zugemessen und sich zur Glaubwürdigkeit des Zeugen nicht weiter geäußert. Das Berufungsgericht würdigt dennoch die Aussage dahin, Dr. S. sei offenbar noch nicht einmal für sich selbst bereit gewesen, den Schluß zu ziehen, daß die Aufklärungsgwohnheiten im Krankenhaus der Erstbeklagten zur Zeit der Operation des Klägers tatsächlich schon fest eingefahren und üblich gewesen sind. Das aber konnte es nach dem protokollierten Wortlaut der Aussage nicht beurteilen, ohne sich einen persönlichen Eindruck von dem Zeugen zu verschaffen. Ebensowenig durfte das Berufungsgericht den Aussagegehalt aus dem protokollierten Verlauf der Zeugenvernehmung heraus abweichend vom Wortlaut würdigen. Es zieht damit nämlich Umstände in Zweifel, die für die Beurteilung der Tragweite und der Sicherheit der Aussage von Bedeutung sind. In der Regel wird sich allein aus dem Ablauf einer Vernehmung, wie er sich aus der Niederschrift ergibt, dafür nichts herleiten lassen. Jedenfalls im Streitfall ergeben sich daraus keine Anhaltspunkte für mögliche Unsicherheiten in der Zeugenaussage. So kann sich der Umstand, daß Dr. S. sich erst auf Befragen des Prozeßbevollmächtigten der Beklagten zu den Aufklärungsgewohnheiten im Krankenhaus geäußert hat, allein aus dem Ablauf der vom Gericht gesteuerten Zeugenvernehmung erklären, im Streitfall möglicherweise auch daraus, daß dem Zeugen besonders eindringlich das von ihm geschilderte kurze Gespräch mit dem Zweitbeklagten zu Beginn der Operation des Klägers angesichts des Befundes im Operationsgebiet in Erinnerung geblieben ist, der die Frage einer vorherigen ausreichenden Aufklärung des Klägers nahelegte. Ein Zeuge kann darüber hinaus nicht wissen, welche Tatsachen für das Gericht bei seiner Entscheidungsfindung von besonderer Bedeutung sind; für das Landgericht waren es die Gepflogenheiten im allgemeinen offenbar nicht.
3. Das angefochtene Urteil beruht auf dem aufgezeigten Verfahrensfehler. Die Beweiswürdigung des Berufungsgerichtes ist ersichtlich davon beeinflußt, daß es eine Übung im Krankenhaus der Erstbeklagten, Patienten schon bei der Erstuntersuchung über die Risiken eines geplanten Eingriffs ausführlich aufzuklären, nicht für erwiesen gehalten hat. Es ist nicht auszuschließen, daß es bei einer anderen Beurteilung in diesem Punkte zu anderen Schlußfolgerungen, möglicherweise nach Anordnung einer Parteivernehmung des Zweitbeklagten gemäß § 448 ZPO, gekommen wäre.
Das angefochtene Urteil kann derzeit auch nicht mit einer anderen Begründung aufrecht erhalten werden. Das Berufungsgericht hat es ausdrücklich offengelassen, ob ein Behandlungsfehler des Zweitbeklagten zur Durchtrennung des nervus accessorius beim Kläger geführt hat. Da es sich insoweit um eine dem Tatrichter vorbehaltenen Würdigung des bisherigen Sach- und Streitstoffes und des Beweisergebnisses handelt, kann der Senat nicht abschließend zugunsten des Klägers entscheiden. Sofern es darauf ankommen sollte, wird dieser Gelegenheit haben, seine vor dem Revisionsgericht erhobenen Rügen vor dem Berufungsgericht zu wiederholen.
III.
Nach allem ist, ohne daß es eines Eingehens auf die weiteren Rügen der Revision bedarf, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zur weiteren Aufklärung zurückzuverweisen. Das Vorbringen der Parteien in der Revisionsinstanz gibt Anlaß zu folgenden Hinweisen:
Das Berufungsgericht wird allgemein zu erwägen haben, ob eine formelle Parteivernehmung in Betracht kommt, wenn es um die Glaubwürdigkeit der Parteien geht. Sofern es nach der erforderlichen weiteren Aufklärung des Sachverhaltes zur Frage einer Risikoaufklärung des Klägers anläßlich der Erstuntersuchung wiederum zu dem Ergebnis kommen sollte, die Beklagten hätten angesichts aller Umstände (zu denen auch das Fehlen von Aufzeichnungen über die Erstuntersuchung gehören kann) den ihnen dafür obliegenden Beweis nicht erbracht, wird es weiter zu prüfen haben, ob der Zweitbeklagte mit dem Kläger kurz vor dem Eingriff über die Gefahren der Verletzung des nervus accessorius gesprochen hat. Dabei wird zu erwägen sein, welche Indizwirkung dem von dem Zeugen Dr. S. bekundeten Gespräch mit dem Zweitbeklagten zu Beginn der Operation zukommt und was dafür sprechen könnte, daß es dem Zweitbeklagten schon damals um seine Rechtfertigung gegangen sein könnte. Wenn danach das Berufungsgericht eine vollständige Aufklärung des Klägers wenigstens zu diesem Zeitpunkt für bewiesen halten sollte, wird es zu prüfen haben, ob die Einwilligung des Klägers in den Eingriff etwa deswegen unwirksam sein könnte, weil nunmehr für ihn keine echte Entscheidungsmöglichkeit mehr bestand. Dazu werden die konkreten Umstände, unter denen das Gespräch stattgefunden hat, zu ermitteln und zu würdigen sein. Schließlich wird das Berufungsgericht, sollte es darauf ankommen, den nicht von vornherein unbeachtlichen Rügen nachzugehen haben, die in der Revisionsinstanz zur Frage der vermuteten Einwilligung des Klägers bei sachgemäßer Information vorgebracht worden sind.
Fundstellen
Haufe-Index 2992853 |
BB 1987, 228 |
NJW 1986, 2885 |
DRsp IV(415)178d |
MDR 1986, 1015 |
VersR 1986, 970 |
DRsp-ROM Nr. 1992/3742 |