Leitsatz (amtlich)

›Es bedarf des Hinweises nach § 139 Abs. 1 ZPO bzw. 278 Abs. 3 ZPO an die erkennbar von einer falschen Beurteilung der Sach- u. Rechtslage ausgehende Partei, wenn das Gericht, obwohl die Beweisaufnahme die Behauptungen des Beweisführers nach Auffassung des Gerichts voll bestätigt hat, weitere Beweisantritte durch ihn für erforderlich hält.‹

 

Tatbestand

Der während des Revisionsverfahrens verstorbene Ehemann der Klägerin (im folgenden: A.), erlitt um die Jahreswende 1982/1983 aufgrund eines ärztlichen Behandlungsfehlers des Beklagten eine Peronaeus-Lähmung des linken Beins. Die Verpflichtung des Beklagten zum Ersatz des materiellen Schadens, soweit der Ersatzanspruch nicht auf öffentlich-rechtliche Versicherungsträger übergegangen ist, ist rechtskräftig festgestellt.

Die Parteien streiten noch über den mit 126.265,60 DM nebst Zinsen von A. für die Jahre 1983 bis 1986 geltend gemachten Verdienstausfall. A., geboren in Kiew, Inhaber eines israelischen Nationalpasses und seit Mitte 1979 in der Bundesrepublik, seit 1981 aufgrund sog. "Duldung" (befristete Aussetzung der Abschiebung), hatte hierzu behauptet: Wegen der durch den ärztlichen Behandlungsfehler verursachten Lähmung des linken Beins und der damit verbundenen Schmerzen habe er eine ihm zum 1. Januar 1983 fest zugesagte Anstellung als Ikonen-Einkäufer in. der Galerie F. in D. nicht antreten können. Die Verletzung habe ihn auch an jeder anderen Arbeitsaufnahme gehindert. Der Beklagte ist dem entgegengetreten. Die Anstellung in der Galerie zum 1. Januar 1983 sei fingiert. So sei die Inhaberin der Galerie - deren Ehemann mit A. verwandt gewesen sei - zur Zahlung des behaupteten Gehalts von 3.800 DM monatlich nicht in der Lage gewesen. A. habe auch keine Anstalten für eine Arbeitsaufnahme zum 1. Januar 1983 getroffen; solcher Vorbereitungen hätte es wegen der auswärtigen Lage des neuen Beschäftigungsorts, insbesondere auch deswegen bedurft, weil A. als Ausländer immer nur befristet Aufenthaltserlaubnis ohne Gestattung selbständiger und vergleichbarer unselbständiger Erwerbstätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland erteilt worden sei.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung ist vom Oberlandesgericht zurückgewiesen worden. Die Klägerin verfolgt als Rechtsnachfolgerin des A. mit der Revision das Klagebegehren weiter.

 

Entscheidungsgründe

I. Nach Ansicht des Berufungsgerichts hat A. die behauptete Möglichkeit einer Beschäftigung ab 1. Januar 1983 in der Galerie F. weder bewiesen noch überhaupt dargelegt. Es hat hierzu im einzelnen ausgeführt: Zwar sei aufgrund der von ihm vernommenen Zeugen F. und Dr. K. bewiesen, daß der Zeuge F. dem Kläger im November 1982 angeboten habe, für die Galerie seiner Ehefrau als Ikonen-Einkäufer mit einem Bruttogehalt von 3.800 DM monatlich zu arbeiten. Damit sei aber noch nicht bewiesen, daß A. die ihm gebotene Möglichkeit auch tatsächlich genutzt haben würde. Eine dahingehende Wahrscheinlichkeit sei nicht hinreichend substantiiert im Sinne des § 252 Satz 2 BGB dargelegt. Auf Klägerseite sei nicht vorgetragen worden, entsprechende Vorbereitungen für die Arbeitsaufnahme getroffen zu haben.

Das gelte sowohl für eine Unterkunft am neuen Beschäftigungsort als auch für die erforderlichen behördlichen Papiere und Genehmigungen für die beabsichtigte Arbeitsaufnahme.

II. Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision nicht stand. Zu Recht rügt die Revision, daß das Berufungsgericht die Hinweispflicht nach § 139 Abs. 1 bzw. § 278 Abs. 3 ZPO verletzt hat.

1. Zutreffend ist allerdings der rechtliche Ansatz, den das Berufungsgericht für den Nachweis eines Beschäftigungsverhältnisses und damit für den Nachweis eines Verdienstausfallschadens des Ehemanns der Klägerin gewählt hat. Auch für Beweiserleichterungen nach § 252 Satz 2 BGB bedarf es der Darlegung und des Beweises entsprechender Anknüpfungstatsachen, die den Schadenseintritt wahrscheinlich machen. Darlegungs- und beweispflichtig. für solche Tatsachen ist der Geschädigte (vgl. Senatsurteil vom 15. März 1988 - VI ZR 81/87 = VersR 1988, 837 m.w.N.). Auch soweit das Berufungsgericht für die Frage, ob Anknüpfungstatsachen hinreichend bewiesen sind, die Bekundungen der Zeugen in den Zusammenhang mit anderen Indiztatsachen stellt, bestehen hiergegen grundsätzlich keine rechtlichen Bedenken. Das liegt im Rahmen der freien tatrichterlichen Beweiswürdigung, für die dem Tatrichter unter den Voraussetzungen der § 252 BGB, § 287 ZPO ein besonders weiter Entscheidungsspielraum zur Verfügung steht. Deswegen sind auch die vom Berufungsgericht genannten Umstände wie fehlende praktische Vorbereitungen für die Arbeitsaufnahme und das Unterlassen der notwendigen behördlichen Schritte geeignet, mit in die Überzeugungsbildung einzufließen. Solange bei der Beweiserhebung und der Beweiswürdigung keine Verstöße gegen Rechtssätze, Denkgesetze oder Erfahrungssätze unterlaufen, wird das Beweisergebnis von der tatrichterlichen Entscheidung getragen.

2. Zu Recht rügt die Revision jedoch vorliegend einen Verfahrensverstoß, weil das Berufungsgericht, obwohl es den Beweis für ein Beschäftigungsangebot der Galerie F. zum 1. Januar 1983 durch den Kläger als geführt ansieht, die Klage an Zweifeln hinsichtlich der Bereitschaft des Klägers zur Nutzung dieser Möglichkeit scheitern läßt, ohne dem Kläger zuvor einen Hinweis auf diese vom Gericht für erheblich angesehenen Gesichtspunkte zu geben. Dabei kann dahinstehen, ob das Berufungsgericht mit seinen insoweit nicht eindeutige Ausführungen zu diesem Punkt Beweisantritte des Klägers oder gar schon schlüssigen Vortrag des Klägers vermißt. Entsprechende Hinweise waren im ersten Fall nach § 139 Abs. 1 ZPO, im zweiten Fall nach § 278 Abs. 3 ZPO geboten. Nach dem vom Berufungsgericht eingeschlagenen Verfahren mußte der Kläger ohne solchen Hinweis mit der Zurückweisung seiner Berufung aus diesen Gründen nicht rechnen. Der Vermeidung darauf beruhender "Überraschungs"-Urteile dient die Erörterungspflicht des Gerichts (vgl. BGH Urteil vom 3. Juni 1986 - VII ZR 284/85 = NJW 1987, 781; AK-ZPO-Schmidt, § 139 Anm. 9; Rosenberg/Schwab, ZPO, 14. Aufl., § 78 III. 1. d).

Als eine solche Überraschungsentscheidung stellt sich das Berufungsurteil dar. Nachdem das Berufungsgericht die erneute Vernehmung des Zeugen F. und die erstmalige Vernehmung des Zeugen Dr. K. zu den behaupteten Angeboten der Zeugen für einen Arbeitsvertrag angeordnet hatte, konnte A. davon ausgehen, daß, wenn die beiden Zeugen glaubwürdig die in ihr Wissen gestellten Tatsachen bekunden würden, das Berufungsgericht diese Aussagen für die Entscheidung genügen lassen würde.

Dieser Eindruck drängte sich auch deswegen auf, weil das Landgericht die Bekundungen des Zeugen F. nicht hatte ausreichen lassen und das Berufungsgericht nicht nur die erneute Einvernahme des Zeugen F., sondern auch die des - in erster Instanz in einem nicht nachgelassenen Schriftsatz benannten - Zeugen Dr. K. angeordnet hatte. Beide Zeugen haben die Behauptung des A. bestätigt; das Berufungsgericht hat ihnen geglaubt. Dann aber bestand für A. kein Anlaß für die Annahme, das Berufungsgericht werde das Beweisergebnis mangels weiterer Anknüpfungstatsachen im Sinne des § 252 Satz 2 BGB nicht ausreichen lassen. Mit der Notwendigkeit weiteren Vortrags zu den eigenen Vorbereitungen einer Arbeitsaufnahme hat A. für das Berufungsgericht erkennbar nicht gerechnet und brauchte das nach der angeordneten Beweiserhebung auch nicht.

Der Hinweis der Revisionserwiderung, daß der Beklagte bereits in erster Instanz eingewandt habe, dem Nachweis des dem Klägerbegehren zugrundegelegten Vortrags stünde schon entgegen, daß der Kläger keinerlei Vorbereitungen für die angeblich anstehende Arbeitsaufnahme getroffen habe, ändert an der Verpflichtung des Berufungsgerichts zu einem entsprechenden Hinweis nach § 139 Abs. 1 ZPO bzw. § 278 Abs. 3 ZPO nichts. Hier kommt hinzu, daß das Landgericht entscheidend nur auf die Bekundungen des Zeugen F. abgestellt hat. Dadurch daß das Berufungsgericht dessen erneute Einvernahme sowie zusätzlich die des Zeugen Dr. K. angeordnet hatte, hat es die Vorstellung aufrechterhalten, daß es auch seiner Ansicht nach entscheidend nur auf die Bekundungen dieser Zeugen ankomme. Wenn es dann aber - offensichtlich erst nach der Einvernahme der Zeugen - trotz ihrer glaubwürdigen Bekundungen weitere Tatsachen für darlegungsnotwendig hielt, war es zur Vermeidung einer Überraschungsentscheidung seine Pflicht, A. auf das Erfordernis weiteren bzw. der Vertiefung bereits gebrachten Vortrags hinzuweisen.

III. Auf dem Verfahrensfehler beruht das Berufungsurteil. Es ist daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Dort wird die Klägerin die Möglichkeit haben, die von ihr im Revisionsverfahren zu den Vorbereitungen der Arbeitsaufnahme und dem Vorliegen der behördlichen Voraussetzungen gebrachte Ausführungen vorzutragen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2993655

NJW 1989, 2756

BGHR ZPO § 139 Abs. 1 Überraschungsentscheidung 1

BGHR ZPO § 278 Abs. 3 Überraschungsentscheidung 2

DRsp IV(412)206d

DAR 1989, 294

MDR 1989, 1091

VersR 1989, 931

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge