Leitsatz (amtlich)
Die vom Sozialhilfeträger kraft übergeleiteten Rechts aus einem Unterhaltsurteil betriebene Zwangsvollstreckung verstößt gegen die guten Sitten, wenn dem Sozialhilfeträger bewußt ist, daß der Titel wegen nachträglich eingetretener Leistungsunfähigkeit des Schuldners unrichtig geworden ist und dem Schuldner aufgrund besonderer Umstände (hier: Unterbindung des Kontakts mit der Außenwelt während einer Haft in der Deutschen Demokratischen Republik) auch bei Anwendung eines strengen Sorgfaltsmaßstabs kein Vorwurf wegen der Nichterhebung der Abänderungsklage gemacht werden kann.
Normenkette
BGB §§ 826, 1603; ZPO § 323
Verfahrensgang
OLG Hamm (Urteil vom 11.11.1981) |
AG Gelsenkirchen-Buer |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des 8. Senats für Familiensachen des Obergerichts Hamm vom 11. November 1981 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Der Kläger ist durch Anerkenntnisurteil vom 13. Februar 1974 zur Zahlung von Unterhalt an die Ehefrau und die Kinder aus seiner (nach früherem Recht aus seinem Verschulden) geschiedenen Ehe verurteilt worden. In der Zeit vom 1. Oktober 1976 bis 31. Dezember 1977 befand er sich in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) wegen Beteiligung an einem Fluchthilfeunternehmen in Haft. Für diese Zeit leistete der vermögenslose Kläger keine Zahlungen auf den Unterhaltstitel. Die beklagte Stadt, die schon vor der Haftzeit den Unterhaltsberechtigten Sozialhilfe gewährt und die Unterhaltsansprüche auf sich übergeleitet hatte, will als Rechtsnachfolger in aus dem Urteil (auch) wegen der Ansprüche für die Zeit der Inhaftierung des Klägers vollstrecken.
Mit der Klage hat der Kläger beantragt, die Beklagte zur Unterlassung der Zwangsvollstreckung für diesen Zeitraum zu verurteilen. In den Vorinstanzen ist dem Klagebegehren entsprochen worden. Dagegen wendet sich die (zugelassene) Revision der Beklagten.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
Das Oberlandesgericht hat die Vollstreckung aus dem Unterhaltsurteil für die Zeit der Inhaftierung des Klägers als sittenwidrig erachtet und dazu ausgeführt: Das Urteil sei insoweit nachträglich materiell unrichtig geworden, weil der Kläger infolge seiner Inhaftierung leistungsunfähig geworden sei. Ob ihn daran ein Verschulden getroffen habe, könne dahinstehen, da er seine Leistungsunfähigkeit jedenfalls nicht vorsätzlich herbeigeführt habe. Die Kenntnis von der fehlenden Unterhaltsverpflichtung habe die Beklagte spätestens im Mai 1981 durch die Entscheidung des Oberlandesgerichts im Prozeßkostenhilfeverfahren des vorliegenden Rechtsstreits erlangt. Dazu kämen noch besondere Umstände: Der Kläger sei ohne sein Verschulden gehindert gewesen, eine Abänderung des unrichtig gewordenen Urteils herbeizuführen. Er sei während der Inhaftierung bis etwa August 1977 vollständig abgeschirmt worden und habe nicht einmal mit seinen Angehörigen und der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der DDR Kontakt aufnehmen können. Für die Folgezeit habe er nach einer Erklärung des ihn besuchenden Mitarbeiters der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik davon ausgehen können, daß er sich um die Regelung seiner Unterhaltsverpflichtung vorerst nicht zu kümmern brauche. Die Folgen des unverschuldeten Versäumnisses könnten nicht durch nachträgliche Korrekturen beseitigt werden, weil § 323 Abs. 3 ZPO eine rückwirkende Abänderung des Urteils verbiete und es insoweit keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gebe. Unter derartigen Umständen erscheine die Ausnutzung des unrichtigen Urteils in besonders hohem Maße unbillig. Die Beklagte könne dem nicht mit dem Einwand entgegentreten, der Kläger habe sich selbst durch (grob) fahrlässiges Handeln in seine schlimme Lage versetzt. Das fehlende Verschulden des Klägers an der Nichterhebung der Abänderungsklage dürfe nicht dadurch relativiert werden, daß man sein vorangegangenes Verhalten berücksichtige, da sonst im Ergebnis das verschuldete Leistungsunvermögen nicht mehr als leistungsbefreiend hingenommen werden würde.
Der letzteren Erwägung kann sich der Senat nicht in vollem Umfang anschließen. Im übrigen enthalten die Ausführungen des Oberlandesgerichts jedoch keinen Rechtsfehler und tragen nach den festgestellten tatsächlichen Umständen die getroffene Entscheidung.
1. Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs verstößt die Ausnutzung auch eines nicht erschlichenen, aber nachträglich unrichtig gewordenen Urteils gegen die guten Sitten, wenn dem von dem Urteil Gebrauch machenden Teil die Unrichtigkeit bekannt ist und besondere Umstände hinzutreten, nach denen es in besonderem Maße unbillig und geradezu unerträglich wäre, die Ausnutzung des Urteils zuzulassen. In einem solchen Fall muß der Grundsatz der Rechtskraft zurücktreten. Der sittenwidrigen Ausnutzung des Urteils kann mit einer Klage auf Unterlassung der Zwangsvollstreckung entgegengetreten werden (BGHZ 26, 391, 394, 396, 398; vgl. auch BGHZ 13, 71; 50, 115; BGH Urteil vom 23. Januar 1974 – VIII ZR 131/72 – NJW 1974, 557).
An dieser Rechtsprechung ist trotz der im Schrifttum geäußerten Kritik festzuhalten (vgl. dazu BGHZ 50, 115, 117 ff.). Die Revision, die sie zur Überprüfung stellt, zeigt insoweit keine neuen Gesichtspunkte auf.
2. Der vom Oberlandesgericht festgestellte Sachverhalt, der der revisionsrechtlichen Beurteilung zugrunde zu legen ist (§ 561 Abs. 2 ZPO), rechtfertigt die Annahme eines Ausnahmefalles, in dem nach den genannten Grundsätzen die Zwangsvollstreckung aus dem rechtskräftigen Urteil für die in Frage stehende Zeit gegen die guten Sitten verstoßen würde.
a) Das Oberlandesgericht ist zutreffend davon ausgegangen, daß der Kläger während der Zeit, in der er in der DDR in Haft war und über keine Mittel zur Unterhaltszahlung verfügte, leistungsunfähig war und auch nicht unter dem Gesichtspunkt selbstverschuldeter Leistungsunfähigkeit so behandelt werden darf, als hätte er weiterhin Einkünfte wie in Freiheit erzielt. Die Leistungsunfähigkeit ist im Unterhaltsrecht grundsätzlich auch dann zu beachten, wenn sie verschuldet ist. Im Falle einer Strafhaft des Unterhaltspflichtigen kann diesem allerdings die Berufung auf die daraus resultierende Leistungsunfähigkeit nach dem Grundsatz von Treu und Glauben verwehrt sein, wenn die der Haft zugrunde liegende Straftat einen Bezug zu dem Unterhaltsanspruch aufweist, der sich nicht in der ursächlichen Verknüpfung zwischen der haftbedingten Leistungsunfähigkeit und der Straftat erschöpft (Senatsurteile vom 21. April 1982 – IVb ZR 696/80 – FamRZ 1982, 792; vom 9. Juni 1982 – IVb ZR 704/80 – FamRZ 1982, 913). Ein solcher Ausnahmefall kommt jedoch hier schon deshalb nicht in Betracht, weil die Betätigung des Klägers als Fluchthelfer – unabhängig davon, wie sie nach inländischem Recht sonst zu beurteilen ist – keinen Bezug zu den in Frage stehenden Unterhaltsansprüchen hat.
Infolge der Leistungsunfähigkeit des Klägers bestehen die in dem Urteil titulierten Unterhaltsansprüche für die Zeit der Inhaftierung des Klägers nach materiellem Recht nicht (§§ 58, 59 EheG; § 1603 BGB), worüber sich die Beklagte – nach der Feststellung des Berufungsgerichts jedenfalls seit Mai 1981 – auch im klaren ist. Die Beklagte nutzt danach mit der vom Kläger bekämpften Zwangsvollstreckung bewußt eine rein formale Rechtsstellung aus, die ihr nach sachlichem Recht nicht zukommt.
Schon dies ist im Grunde anstößig, wenn nicht über die formale Rechtsstellung hinaus sachliche Gründe das Vorgehen sittlich rechtfertigen (vgl. BGHZ 1, 181, 186). Solche Gründe liegen hier nicht vor. Die Beklagte konnte zwar zunächst – jedenfalls solange sie von der besonderen Lage, in der sich der Kläger infolge seiner Verhaftung in der DDR befand, nichts wußte – auf den Bestand des Titels vertrauen (vgl. § 323 Abs. 3 ZPO). Dieses Vertrauen hatte aber in der Rechtssphäre der Beklagten keine Auswirkungen. Auf die Sozialhilfeleistungen der Beklagten an die Angehörigen des Klägers war es weder dem Grunde noch der Höhe nach von Einfluß, ob und inwieweit die titulierten Unterhaltsansprüche gegen den Kläger, auf die dieser keine Zahlungen leistete, bestanden.
b) Als zusätzlichen Umstand, der die Ausnutzung des Titels in besonders hohem Maße unbillig erscheinen läßt, hat das Oberlandesgericht zu Recht die besondere Lage des Klägers während seiner Haft in der DDR berücksichtigt, die ursächlich dafür war, daß er seine Leistungsunfähigkeit nicht rechtzeitig mit einer Abänderungsklage nach § 323 ZPO geltend machen konnte.
Daß zu einer Sachlage, wie sie oben unter a) dargelegt ist, noch besondere Umstände hinzutreten müssen, um die Zwangsvollstreckung aus dem Urteil sittenwidrig erscheinen zu lassen, beruht auf der Achtung vor der Rechtskraft, die nur in besonders schwerwiegenden Fällen durchbrochen werden darf. Diese Erwägung ist im Grundsatz auch bei einer Verurteilung zu fortlaufenden Zahlungen, wie sie hier vorliegt, beachtlich (BGHZ 26, 391, 397). Jedoch ist die Rechtskraftwirkung eines solchen Urteils von Gesetzes wegen insofern eingeschränkt, als das Urteil bei wesentlicher Veränderung der für die Verurteilung maßgebenden Verhältnisse abgeändert werden kann (§ 323 ZPO). Die Regelung des § 323 Abs. 3 ZPO, nach der die Abänderung auf die Zeit nach Erhebung der Klage beschränkt ist, ist dabei nicht Ausdruck eines Grundsatzes, daß eine weiter zurückwirkende Änderung des Urteils mit dem Wesen der Rechtskraft nicht vereinbar wäre; die Vorschrift ist vielmehr im Gesetzgebungsverfahren mit der Zweckmäßigkeitserwägung begründet worden, daß die Ermittlung des Zeitpunkts, in dem die Änderung der maßgebenden Verhältnisse in der Vergangenheit eingetreten ist, meist mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden wäre (Senatsurteil vom 20. Januar 1982 – IVb ZR 651/80 – FamRZ 1982, 365). Danach kann es der Gesichtspunkt der Achtung der Rechtskraft bei einer Verurteilung zu fortlaufenden Zahlungen nicht verwehren, als Grund für die Sittenwidrigkeit der Zwangsvollstreckung zu berücksichtigen, daß der Schuldner an der rechtzeitigen Erhebung einer Abänderungsklage gehindert war. Ob es dabei – bei Vorliegen der unter a) abgehandelten Voraussetzungen – für die Sittenwidrigkeit der Zwangsvollstreckung stets ausreicht, daß die Abänderungsklage schuldlos nicht erhoben worden ist, bedarf hier keiner Entscheidung. Jedenfalls kann die Ausnutzung des unrichtigen Urteils unter den genannten Voraussetzungen nicht mehr hingenommen werden, wenn dem Schuldner aufgrund besonderer Umstände auch bei Anwendung eines strengen Sorgfaltsmaßstabs kein Vorwurf wegen der Nichterhebung der Abänderungsklage gemacht werden kann.
Ein solcher Fall liegt hier vor.
Nach dem vom Oberlandesgericht festgestellten Sachverhalt war dem Kläger während der Haft für die Zeit bis August 1977 die Erhebung der Abänderungsklage unmöglich, weil ihm kein Kontakt zur Außenwelt ermöglicht wurde. Ob er auch für die Folgezeit, nachdem er in der Haft den Besuch eines Mitarbeiters der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der DDR erhalten hatte, noch durch höhere Gewalt an der Klageerhebung gehindert war, kann dahingestellt bleiben. Jedenfalls war die Klageerhebung von ihm selbst bei Anlegung eines strengen Sorgfaltsmaßstabs nicht zu erwarten, nachdem ihn der Mitarbeiter der Ständigen Vertretung mit der Versicherung beruhigt hatte, daß er sich um seine Unterhaltsangelegenheit vorerst nicht zu kümmern brauche.
Entgegen der Auffassung der Revision kann dem Kläger im übrigen nicht deshalb ein Verschulden an der Nichterhebung der Abänderungsklage vorgeworfen werden, weil er nicht vor seiner Betätigung als Fluchthelfer Vorsorge für die Klageerhebung im Falle seiner Entdeckung und Verhaftung getroffen hat. Zwar würde insoweit die Erwägung des Oberlandesgerichts nicht durchgreifen, daß man mit der Berücksichtigung eines solchen Verschuldens im Ergebnis die verschuldete Leistungsunfähigkeit nicht mehr als leistungsbefreiend hinnehmen würde. Das von der Revision insoweit geltend gemachte Verschulden läge in der Unterlassung der Vorsorge für die Erhebung der Abänderungsklage, nicht in der Herbeiführung der Leistungsunfähigkeit. Jedoch mußte der Kläger, selbst wenn er mit dem Risiko einer Entdeckung und Verhaftung hätte rechnen müssen, nicht von vornherein in Erwägung ziehen, daß er im Falle der Verhaftung völlig von der Außenwelt abgeschnitten werden würde und deshalb für die Abänderung des Unterhaltstitels Vorsorge treffen müsse. Es sind keine Umstände ersichtlich, nach denen eine solche Abschirmung des Klägers im Falle der Haft für ihn erkennbar so nahe lag, daß ihm die unterlassene Vorsorge mittelbar als Verschulden an der Nichterhebung der Abänderungsklage angelastet werden könnte.
Unterschriften
Lohmann, Portmann, Seidl, Krohn, Zysk
Fundstellen
Haufe-Index 1502479 |
NJW 1983, 2317 |
Nachschlagewerk BGH |
JZ 1983, 803 |