Entscheidungsstichwort (Thema)
Einfacher Befunderhebungsfehler. Umkehr der Beweislast hinsichtlich Kausalität des Behandlungsfehlers für eingetretenen Gesundheitsschaden. Reaktionspflichtiges positives Ergebnis. Fundamentale Verkennung des Befunds. Nichtreaktion. Grobe Fehlerhaftigkeit. Unterlassung der gebotenen Befunderhebung. Beweislastumkehr hinsichtlich haftungsbegründender Kausalität
Leitsatz (amtlich)
Ein einfacher Befunderhebungsfehler kann zu einer Umkehr der Beweislast hinsichtlich der Kausalität des Behandlungsfehlers für den eingetretenen Gesundheitsschaden führen, wenn sich bei der gebotenen Abklärung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein reaktionspflichtiges positives Ergebnis gezeigt hätte und sich die Verkennung dieses Befundes als fundamental oder die Nichtreaktion hierauf als grob fehlerhaft darstellen würde.
Normenkette
BGB § 823; ZPO § 286
Verfahrensgang
OLG Naumburg (Urteil vom 22.04.2010; Aktenzeichen 1 U 112/09) |
LG Stendal (Entscheidung vom 14.10.2009; Aktenzeichen 21 O 299/07) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 1. Zivilsenats des OLG Naumburg vom 22.4.2010 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Rz. 1
Der Kläger macht Schadensersatzansprüche wegen eines von ihm behaupteten Diagnose- bzw. Befunderhebungsfehlers geltend.
Rz. 2
Die Beklagte wurde am 11.11.2004 als Notärztin zu dem Kläger gerufen. Bei einer telefonischen Rückfrage gab dessen Ehefrau an, dieser leide unter Herz- und Magenschmerzen. Nach Hinweis auf einen in der Familie aufgetretenen Herzinfarkt kam die Beklagte um 22:30 Uhr zu einem Hausbesuch. Die Beklagte verabreichte dem Kläger zwei Hub Nitrangin. Während des Besuchs verbesserten sich die Beschwerden des Klägers geringfügig. Als Diagnose dokumentierte die Beklagte Verdacht auf Virusinfekt und auf Angina pectoris.
Rz. 3
Da sich die Beschwerden nicht besserten, brachte die Ehefrau des Klägers diesen in das Krankenhaus nach G. Bei einem um 2:34 Uhr erstellten EKG zeigte sich ein akuter Vorderwandinfarkt. Da eine sofortige Lysetherapie zu keinem Erfolg führte, wurde der Kläger in das Klinikum B. verbracht. Nachdem die dortige Behandlung keinen ausreichenden Erfolg hatte, wurde am 2.12.2004 im Herzzentrum C. eine Bypassoperation durchgeführt. Seit dem 1.12.2004 erhält der Kläger, der am 19.4.2004 auch einen Verkehrsunfall erlitten hatte, in dessen Folge er jedenfalls bis zum streitigen Vorfall am 11.11.2004 arbeitsunfähig war, eine Rente wegen voller Erwerbsminderung.
Rz. 4
Das LG hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers hat das OLG zurückgewiesen. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Schadensersatzansprüche weiter.
Entscheidungsgründe
I.
Rz. 5
Das Berufungsgericht hat - wie das LG - einen Befunderhebungsfehler der Beklagten bejaht. Angesichts des jungen Patientenalters und der bekannten Risikofaktoren habe nach den Ausführungen des Sachverständigen zumindest von einer neu aufgetretenen Angina pectoris ausgegangen werden müssen. Deshalb sei eine stationäre Einweisung und weitere Abklärung hinsichtlich des Vorliegens eines akuten Koronarsyndroms mittels Ableitung eines Zwölf-Kanal-EKGs erforderlich gewesen.
Rz. 6
Die Kausalität des Behandlungsfehlers für die eingetretene Schädigung lasse sich jedoch nicht feststellen. Deswegen hätte die Klage nur dann Erfolg haben können, wenn sich der Befunderhebungsfehler als grob dargestellt hätte. Davon sei nach den Ausführungen des Sachverständigen nicht auszugehen. Mithin sei hinsichtlich der Kausalität keine Beweislastumkehr eingetreten und der Kläger beweisfällig geblieben.
II.
Rz. 7
Diese Ausführungen halten revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Revision bemängelt mit Recht, dass das Berufungsgericht die rechtlichen Grundsätze für eine mögliche Beweislastumkehr bei einem Befunderhebungsfehler verkannt hat.
Rz. 8
1. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats erfolgt bei der Unterlassung der gebotenen Befunderhebung eine Beweislastumkehr hinsichtlich der haftungsbegründenden Kausalität, wenn bereits die Unterlassung einer aus medizinischer Sicht gebotenen Befunderhebung einen groben ärztlichen Fehler darstellt (vgl. Senat, Urt. v. 13.1.1998 - VI ZR 242/96, BGHZ 138, 1, 5 f.; v. 29.9.2009 - VI ZR 251/08, VersR 2010, 115 Rz. 8 m.w.N.). Zudem kann auch eine nicht grob fehlerhafte Unterlassung der Befunderhebung dann zu einer Umkehr der Beweislast hinsichtlich der Kausalität des Behandlungsfehlers für den eingetretenen Gesundheitsschaden führen, wenn sich bei der gebotenen Abklärung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein reaktionspflichtiges positives Ergebnis gezeigt hätte und sich die Verkennung dieses Befundes als fundamental oder die Nichtreaktion hierauf als grob fehlerhaft darstellen würde (vgl. Senat, Urt. v. 13.2.1996 - VI ZR 402/94, BGHZ 132, 47, 52 ff.; v. 27.4.2004 - VI ZR 34/03, BGHZ 159, 48, 56; v. 23.3.2004 - VI ZR 428/02, VersR 2004, 790, 791 f.; v. 7.6.2011 - VI ZR 87/10, NJW 2011, 2508 Rz. 7 m.w.N.). Es ist nicht erforderlich, dass der grobe Behandlungsfehler die einzige Ursache für den Schaden ist. Es genügt, dass er generell geeignet ist, den eingetretenen Schaden zu verursachen; wahrscheinlich braucht der Eintritt eines solchen Erfolgs nicht zu sein. Eine Umkehr der Beweislast ist nur ausgeschlossen, wenn jeglicher haftungsbegründende Ursachenzusammenhang äußerst unwahrscheinlich ist (vgl. Senat, Urt. v. 27.4.2004 - VI ZR 34/03, a.a.O., 56 f.; v. 7.6.2011 - VI ZR 87/10, a.a.O.).
Rz. 9
2. Im Streitfall hat das Berufungsgericht einen grob fehlerhaften Befunderhebungsfehler verneint, weil es aus Sicht des Sachverständigen zwar naheliegender gewesen sei, an eine Herzbeteiligung zu denken und daher eine sofortige EKG-Untersuchung zu veranlassen, die geschilderten Symptome aber auch als Hinweise auf eine Virusinfektion gedeutet werden konnten. Feststellungen dazu, ob die Voraussetzungen für eine Beweislastumkehr bei einem einfachen Befunderhebungsfehler vorliegen, hat es jedoch nicht getroffen. Eine solche Prüfung hätte das Berufungsgericht aber vornehmen müssen. Es lässt sich zumindest nicht ausschließen, dass die vom Sachverständigen geforderte ergänzende Diagnostik mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein reaktionspflichtiges Ergebnis im Sinne eines akuten koronaren Geschehens gezeigt hätte und sich die Nichtreaktion hierauf bzw. eine verspätete Reaktion als grob fehlerhaft dargestellt hätte. Nach den Ausführungen des Sachverständigen ist nämlich grundsätzlich mit höherer Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass das Geschehen bei einer sofortigen Einweisung in das Krankenhaus einen anderen Verlauf genommen hätte.
Rz. 10
3. Das angefochtene Urteil kann demnach nicht aufrechterhalten werden. Es ist aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, damit über die Frage der Beweislastumkehr bei dem vom Berufungsgericht festgestellten einfachen Befunderhebungsfehler entschieden werden kann. Käme dem Kläger nach den dafür geltenden Grundsätzen eine Beweislastumkehr zugute, hätte die Beklagte darzulegen und zu beweisen, dass dessen Gesundheitsschaden nicht auf der unterbliebenen sofortigen Einweisung in das Krankenhaus zur weiteren Abklärung beruht. Die Umkehr der Beweislast wegen eines etwaigen groben Behandlungsfehlers umfasst allerdings grundsätzlich nur den Beweis von dessen Ursächlichkeit für den haftungsbegründenden primären Gesundheitsschaden, nicht hingegen die haftungsausfüllende Kausalität (vgl. Senat, Urt. v. 12.2.2008 - VI ZR 221/06, VersR 2008, 644 Rz. 13; v. 7.6.2011 - VI ZR 87/10, a.a.O., Rz. 10, jeweils m.w.N.).
Fundstellen
Haufe-Index 2757775 |
NJW 2011, 3441 |
NJW 2011, 6 |
EBE/BGH 2011, 323 |
ArztR 2011, 324 |
MDR 2011, 1286 |
MedR 2012, 383 |
NZS 2012, 74 |
VersR 2011, 1400 |
r+s 2011, 491 |
ZMGR 2011, 296 |