Verfahrensgang
BPatG (Urteil vom 16.09.2020; Aktenzeichen 6 Ni 22/19) |
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des 6. Senats (Nichtigkeitssenats) des Bundespatentgerichts vom 16. September 2020 abgeändert.
Die Klage wird insgesamt abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits hat die Klägerin zu tragen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Rz. 1
Die Beklagte ist Inhaberin des deutschen Patents 199 27 731 (Streitpatents), das am 17. Juni 1999 angemeldet wurde, eine Priorität vom 20. Mai 1999 in Anspruch nimmt und einen Gurtstraffer betrifft. Das Schutzrecht ist mittlerweile durch Zeitablauf erloschen.
Rz. 2
Patentanspruch 1, auf den sich unter anderem die Ansprüche 2, 3 und 19 zurückbeziehen, lautet:
Gurtaufroller mit einer an einem Rahmen um eine Achse drehbar gelagerten Gurtspule für einen Sicherheitsgurt, einer Triebfeder, welche die Gurtspule in Aufwickelrichtung antreibt, einer Blockiereinrichtung zum Blockieren der Gurtspule gegen einen Bandauszug, einem Elektromotor, welcher von der Triebfeder bewirkte Funktionen beeinflusst, und einem Rotor, welcher um einen in axialer Richtung an der Gurtspule sich erstreckenden Fortsatz an der Federseite des Gurtaufrollers angeordnet ist und zur Verstellung der Kraft der Triebfeder in Drehverbindung mit wenigstens einem der beiden Enden der Triebfeder steht, dadurch gekennzeichnet, dass zwischen dem Rotor (2; 32) und der Gurtspule (4) eine schaltbare Kupplung (14; 15) angeordnet ist, welche in Abhängigkeit von einem in einer Unfallvorstufe abgegebenen Signal ein vom Elektromotor (1) geliefertes Drehmoment vom Rotor (2; 32) auf die Gurtspule (4) zur Vorstraffung des Sicherheitsgurtes überträgt.
Rz. 3
Eine frühere Nichtigkeitsklage gegen das Streitpatent ist in beiden Instanzen erfolglos geblieben (BPatG, Urteil vom 14. April 2016 - 7 Ni 2/15; BGH, Urteil vom 24. April 2018 - X ZR 63/16).
Rz. 4
Die Klägerin, die von einer Lizenznehmerin der Beklagten wegen Verletzung des Streitpatents gerichtlich in Anspruch genommen wird, hat das Schutzrecht im Umfang der Patentansprüche 1 bis 3 sowie des Patentanspruchs 19, soweit er auf einen dieser drei Patentansprüche zurückbezogen ist, angegriffen. Sie hat geltend gemacht, der angegriffene Gegenstand gehe über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Unterlagen hinaus und sei nicht patentfähig.
Rz. 5
Die Beklagte hat das Streitpatent in der erteilten Fassung und hilfsweise in sechs geänderten Fassungen verteidigt.
Rz. 6
Kurz vor der mündlichen Verhandlung erster Instanz hat die Klägerin ihren Angriff auf zusätzliche Ansprüche des Streitpatents erweitert und ihr ursprüngliches Begehren hilfsweise weiterverfolgt.
Rz. 7
Das Patentgericht hat die Klage hinsichtlich des neuen Hauptantrags abgewiesen und das Streitpatent nach Maßgabe des ursprünglichen Hauptantrags für nichtig erklärt. Dagegen haben sich zunächst beide Parteien mit der Berufung gewandt. Die Klägerin hat ihre Berufung in der mündlichen Verhandlung zurückgenommen. Die Beklagte verteidigt mit ihrer Berufung das Streitpatent weiterhin mit ihren erstinstanzlichen Anträgen sowie mit zwei weiteren Hilfsanträgen. Die Klägerin tritt dem Rechtsmittel entgegen.
Entscheidungsgründe
Rz. 8
Die Berufung der Beklagten ist zulässig und begründet.
Rz. 9
I. Das Streitpatent betrifft einen Gurtaufroller für Sicherheitsgurte.
Rz. 10
1. Wie der Senat bereits im ersten Nichtigkeitsverfahren ausgeführt hat, waren nach den Angaben in der Streitpatentschrift im Stand der Technik Gurtaufroller zum Aufrollen von Sicherheitsgurten in einem Kraftfahrzeug bekannt, bei denen ein Elektromotor das äußere Ende der Aufwickelfeder so beaufschlagt, dass während der Fahrt eine geringere Zugkraft auf den Gurt ausgeübt wird als beim Einziehen in die Parkposition. Weiterhin waren Gurtaufroller bekannt, bei denen der Elektromotor über eine Kupplung, insbesondere eine Rutschkupplung, auf die Triebfeder einwirkt und damit das übertragene Drehmoment auf einen Höchstwert begrenzt. Zudem waren Gurtaufroller bekannt, die zum Zwecke der Lastbegrenzung einen Torsionsstab in der Achse der Gurtspule aufweisen, der einen axialen Fortsatz besitzt, an welchem ein Rotor zur Übertragung eines pyrotechnisch oder durch eine Feder ausgelösten Drehmoments zur Leistungsstraffung angebracht ist.
Rz. 11
2. Wie der Senat ebenfalls bereits im ersten Nichtigkeitsverfahren ausgeführt hat, liegt dem Streitpatent das technische Problem zugrunde, einen Gurtaufroller mit einer Einrichtung zur Beeinflussung der Anzugskraft der Gurtspule zu schaffen, der mit einem Elektromotor kompakt aufgebaut ist und weitere Funktionen erfüllt.
Rz. 12
3. Zur Lösung schlägt Patentanspruch 1 eine Vorrichtung vor, deren Merkmale der Senat bereits im ersten Nichtigkeitsverfahren wie folgt gegliedert hat:
1. Gurtaufroller mit
2. einer an einem Rahmen um eine Achse drehbar gelagerten Gurtspule für einen Sicherheitsgurt,
4. einer Blockiereinrichtung zum Blockieren der Gurtspule gegen einen Bandauszug,
3. einer Triebfeder, welche die Gurtspule in Aufwickelrichtung antreibt,
5. einem Elektromotor, welcher von der Triebfeder bewirkte Funktionen beeinflusst,
6. einem Rotor, welcher
a) um einen in axialer Richtung an der Gurtspule sich erstreckenden Fortsatz an der Federseite des Gurtaufrollers angeordnet ist und
b) zur Verstellung der Kraft der Triebfeder in Drehverbindung mit wenigstens einem der beiden Enden der Triebfeder steht, und
7. einer Kupplung, die
a) zwischen dem Rotor und der Gurtspule angeordnet ist,
b) schaltbar ist und
8. in Abhängigkeit von einem in einer Unfallvorstufe abgegebenen Signal ein vom Elektromotor geliefertes Drehmoment vom Rotor auf die Gurtspule zur Vorstraffung des Sicherheitsgurtes überträgt.
Rz. 13
4. Einige Merkmale bedürfen näherer Betrachtung.
Rz. 14
a) Wie der Senat bereits im ersten Nichtigkeitsverfahren ausgeführt hat, treibt die Triebfeder gemäß Merkmal 3 die Gurtspule permanent an, um eine Kraft zum Wiederaufwickeln des Gurts bereitzustellen (Abs. 7 Sp. 1 Z. 33-35).
Rz. 15
Die Funktionen dieser Triebfeder werden gemäß Merkmal 5 von einem Elektromotor beeinflusst. Hierzu sieht Merkmalsgruppe 6 einen Rotor vor, der in bestimmter Weise angeordnet ist und die Kraft der Triebfeder verstellen kann.
Rz. 16
b) Wie der Senat ebenfalls bereits im ersten Nichtigkeitsverfahren ausgeführt hat, muss ein Rotor gemäß Merkmal 6 nicht notwendig der Rotor eines Elektromotors sein. Dem in Figur 5 geschilderten Ausführungsbeispiel ist vielmehr zu entnehmen, dass es sich um ein separates Bauteil handeln kann, auf das die Rotationskraft des Elektromotors zum Beispiel mit einem Getriebe übertragen wird.
Rz. 17
c) Der Fortsatz, um den herum der Rotor gemäß Merkmal 6a angeordnet ist, muss für diesen ein Lager bilden.
Rz. 18
Dieses Verständnis ergibt sich aus der Funktion, die dem Fortsatz nach der Erfindung zukommt und die Niederschlag im Patentanspruch gefunden hat.
Rz. 19
aa) Die Beschreibung des Streitpatents befasst sich mit einem axialen Fortsatz, um den herum der Rotor angeordnet ist, in Zusammenhang mit den insgesamt vier Ausführungsbeispielen, deren zweites in der nachfolgend wiedergegebenen Figur 2 schematisch dargestellt ist.
Rz. 20
Bei allen diesen Beispielen ist in der Gurtspule (4) ein Torsionsstab (6) angeordnet, der sich in axialer Richtung erstreckt und in der Nähe der Federseite - also der Seite, auf der die Triebfeder (5) angeordnet ist - über einen Formschluss (22) drehfest mit der Innenseite der Gurtspule (4) verbunden ist (Abs. 23). Der Torsionsstab (6) hat einen axialen Fortsatz (7), auf dem der Rotor (2) gelagert ist (Abs. 25 Z. 37-39). Bei den Ausführungsbeispielen in den Figuren 2 und 4 ragt dieser Fortsatz durch den Rotor (2) hindurch. Mit diesem Teil ist er drehfest mit dem Federherz (13) verbunden (Abs. 30). Diese drehfeste Verbindung ermöglicht es, die Rückstellkraft der Triebfeder (5) über den Torsionsstab (6) auf die Gurtspule (4) im normalen Betrieb zu übertragen (Abs. 24). Bei dem in Figur 5 dargestellten Ausführungsbeispiel ist ein haubenförmiger Rotor (32), der mit dem Motor über ein Getriebe verbunden ist, in gleicher Weise ausgebildet und gelagert wie der Rotor (2) in den Figuren 2 und 4 (Abs. 38).
Rz. 21
bb) Die beiden Funktionen, die dem Fortsatz des Torsionsstabs bei allen diesen Ausführungsbeispielen zukommen, haben in Patentanspruch 1 zwar keinen ausdrücklichen Niederschlag gefunden. Aus der in Merkmal 6a formulierten Anforderung, dass der Rotor um den Fortsatz angeordnet ist, ergibt sich aber, dass die Funktion als Lager des Rotors zwingend verwirklicht sein muss.
Rz. 22
Für das Verständnis eines einzelnen technischen Merkmals ist im Zweifel die Funktion entscheidend, die es bei der Herbeiführung des erfindungsgemäßen Erfolgs hat (BGH, Urteil vom 24. September 2019 - X ZR 62/17, GRUR 2020, 159 Rn. 18 - Lenkergetriebe).
Rz. 23
Im Streitfall ergibt sich aus der Beschreibung, dass der Fortsatz die beiden oben genannten Funktionen haben kann - die Lagerung des Rotors und die Vermittlung einer drehfesten Verbindung zwischen Federherz und Gurtspule. Die zuletzt genannte Funktion hat in Patentanspruch 1 keinen Niederschlag gefunden. Dieser sieht weder einen Torsionsstab noch eine drehfeste Verbindung zwischen diesem und der Gurtspule oder zwischen dem Fortsatz und dem Federherz zwingend vor. Zwingend erforderlich ist nach Merkmal 6a jedoch die in der Beschreibung geschilderte Anordnung des Rotors um den Fortsatz. Als Funktion, die dieser Anordnung im Zusammenhang mit der Erfindung zukommt, ist der Beschreibung lediglich die Lagerung des Rotors durch den Fortsatz zu entnehmen. Mangels abweichender Anhaltspunkte ist Merkmal 6a deshalb dahin auszulegen, dass der Fortsatz diese Funktion erfüllen kann.
Rz. 24
cc) Entgegen der Auffassung der Beklagten erschöpft sich die Funktion des in Merkmal 6a vorgesehenen Fortsatzes nicht darin, eine kompakte Gestaltung des Gurtaufrollers zu ermöglichen.
Rz. 25
Form und Anordnung des Rotors tragen zwar wesentlich zur Erreichung dieses Ziels bei. Ein Fortsatz, um den herum der Rotor angeordnet ist, vermag hierzu aber nur dann einen Beitrag zu leisten, wenn ihm über sein bloßes Vorhandensein eine eigene Funktion zukommt.
Rz. 26
Welche Funktionen hierfür in Betracht kommen, ergibt sich aus den oben aufgezeigten Passagen der Beschreibung.
Rz. 27
d) Wie bereits im ersten Nichtigkeitsverfahren kann die Frage, ob die in Merkmal 6b vorgesehene Verbindung zwischen dem Rotor und mindestens einem Ende der Triebfeder permanent sein muss, auch im Lichte der neuen Angriffe gegen das Streitpatent offenbleiben.
Rz. 28
Ebenfalls keiner abschließenden Beurteilung bedarf die ergänzend aufgetretene und damit in Zusammenhang stehende Frage, ob eine Verstellung der Kraft der Triebfeder, die gemäß Merkmal 6b durch eine Drehverbindung des Rotors mit wenigstens einem Ende der Triebfeder ermöglicht werden soll, auf andere Weise erfolgen muss als die in Merkmal 8 vorgesehene Übertragung eines Drehmoments auf die Gurtspule zur Vorstraffung des Sicherheitsgurts.
Rz. 29
e) Wie der Senat bereits im ersten Nichtigkeitsverfahren ausgeführt hat, ergibt sich aus Merkmal 7a, dass die in Merkmal 7 vorgesehene Kupplung nicht nur den Kraftfluss zwischen diesen beiden Bauteilen herstellen, sondern auch in räumlicher Hinsicht zwischen Rotor und Gurtspule angeordnet sein muss, weil die vorgegebene Anordnung auch dem Zweck dient, eine kompakte Bauweise zu ermöglichen.
Rz. 30
In diesem Zusammenhang ist unerheblich, ob andere Arten der Anordnung ebenfalls eine kompakte Bauweise ermöglichen. Ausschlaggebend ist, dass das Streitpatent die in Merkmal 7a definierte Anordnung als räumlich-körperliches Mittel vorsieht, um dieses Ziel zu erreichen.
Rz. 31
f) Wie der Senat ebenfalls bereits im ersten Nichtigkeitsverfahren ausgeführt hat, enthält Merkmal 7b keine näheren Festlegungen dazu, wie der Schaltvorgang über die Kupplung bewirkt wird.
Rz. 32
Aus der Beschreibung der beiden in den Figuren 2 und 4 dargestellten Ausführungsbeispiele ergibt sich, dass die Schaltung aufgrund der vom Fahrzeuginsassen auf den Gurt ausgeübten Kraft oder durch das vom Elektromotor ausgehende Drehmoment ausgelöst werden kann. Diese Beispiele sind jedoch nicht abschließend.
Rz. 33
g) Aus Merkmal 8 ergibt sich darüber hinaus, dass ein Schaltvorgang möglich sein muss, wenn ein Signal für eine Unfallvorstufe vorliegt. Ein solches Signal kann etwa eine erhöhte Krafteinwirkung auf den Gurt sein, die unterhalb einer Leistungsstraffung liegt. Wie die Beklagte zutreffend ausführt, ist damit nicht zwingend vorgeschrieben, aber auch nicht ausgeschlossen, dass ein Schaltvorgang auch in anderen Situationen erfolgen kann.
Rz. 34
II. Das Patentgericht hat seine Entscheidung, soweit für das Berufungsverfahren noch von Bedeutung, im Wesentlichen wie folgt begründet:
Rz. 35
Der ursprüngliche Hauptantrag der Klägerin sei zulässig und begründet, weil der angegriffene Gegenstand mit Merkmal 6a über den Inhalt der ursprünglichen Anmeldung hinausgehe. In den Anmeldeunterlagen sei ein Fortsatz, um den der Rotor angeordnet sei, ausschließlich als Fortsatz eines Torsionsstabs als zur Erfindung gehörend offenbart. Merkmal 6a beziehe sich hingegen auf den Fortsatz eines beliebigen Bauteils.
Rz. 36
III. Dies hält der Überprüfung im Berufungsverfahren nicht stand.
Rz. 37
1. Nach der Rechtsprechung des Senats ist für die ursprüngliche Offenbarung eines beanspruchten Gegenstands erforderlich, dass die im Anspruch bezeichnete technische Lehre den Ursprungsunterlagen in ihrer Gesamtheit unmittelbar und eindeutig als mögliche Ausführungsform der Erfindung zu entnehmen ist.
Rz. 38
Bei der Ausschöpfung des Offenbarungsgehalts der ursprünglichen Unterlagen sind grundsätzlich auch Verallgemeinerungen von ursprünglich offenbarten Ausführungsbeispielen zulässig. Danach ist ein "breit" formulierter Anspruch unter dem Gesichtspunkt der unzulässigen Erweiterung jedenfalls dann unbedenklich, wenn sich ein in der Anmeldung beschriebenes Ausführungsbeispiel der Erfindung aus fachlicher Sicht als Ausgestaltung der im Anspruch umschriebenen allgemeineren technischen Lehre darstellt und diese Lehre in der beanspruchten Allgemeinheit bereits der Anmeldung als zu der angemeldeten Erfindung gehörend entnehmbar ist - sei es in Gestalt eines in der Anmeldung formulierten Anspruchs, sei es nach dem Gesamtzusammenhang der Unterlagen. Das gilt insbesondere dann, wenn von mehreren Merkmalen eines Ausführungsbeispiels, die zusammengenommen, aber auch für sich betrachtet dem erfindungsgemäßen Erfolg förderlich sind, nur eines oder nur einzelne in den Anspruch aufgenommen worden sind.
Rz. 39
Unzulässig ist eine Verallgemeinerung hingegen, wenn den ursprünglich eingereichten Unterlagen zu entnehmen ist, dass bestimmte Merkmale in untrennbarem Zusammenhang miteinander stehen, der Patentanspruch aber nur einzelne davon vorsieht. Der Beanspruchung von Schutz ohne ein bestimmtes Merkmal kann insbesondere entgegenstehen, dass alle in einer Anmeldung geschilderten Ausführungsbeispiele ein bestimmtes Merkmal oder eine bestimmte Kombination von Merkmalen aufweisen und dem Inhalt der Anmeldung zu entnehmen ist, dass die im Anspruch vorgesehenen Mittel der Lösung eines Problems dienen, das das Vorhandensein des betreffenden Merkmals oder der betreffenden Merkmalskombination voraussetzt (vgl. nur BGH, Urteil vom 28. Juni 2022 - X ZR 67/20, GRUR 2022, 1575 Rn. 68 ff. - Übertragungsparameter).
Rz. 40
2. Nach diesen Grundsätzen geht der Gegenstand des Streitpatents entgegen der Auffassung des Patentgerichts nicht deshalb über den Gegenstand der ursprünglich eingereichten Unterlagen hinaus, weil Merkmal 6a nicht zwingend vorsieht, dass der Fortsatz an einem Torsionsstab ausgebildet ist.
Rz. 41
a) Die ursprünglich eingereichten Unterlagen, deren Inhalt mit der Offenlegungsschrift (MV5) übereinstimmt, offenbaren - ebenso wie die Patentschrift - allerdings nur Ausführungsbeispiele mit einem im Inneren der Gurtspule angeordneten Torsionsstab. Dieser Torsionsstab weist einen axialen Fortsatz auf, der als Lager für den Rotor dient.
Rz. 42
In Einklang damit sieht der in der Anmeldung formulierte Anspruch 1 vor, dass in der Achse der Gurtspule (4) ein Torsionsstab (6) als Lastbegrenzer angeordnet ist, der einen in axialer Richtung sich erstreckenden Fortsatz (7) aufweist, an welchem der Rotor (2, 32) gelagert ist.
Rz. 43
b) Aus den allgemeinen Erläuterungen in der Anmeldung ergibt sich jedoch hinreichend deutlich, dass das Bauteil, an dem der als Lager dienende Fortsatz angeordnet ist, nicht zwingend als Torsionsstab oder Lastbegrenzer ausgebildet sein muss.
Rz. 44
In der Anmeldung wird ausgeführt, in vorteilhafter Weise könnten Funktionsteile wie beispielsweise der Lastbegrenzer, welcher als Torsionsstab ausgebildet sei, zur Lagerung von Bestandteilen des Elektromotors, insbesondere des Rotors, dienen. Hierzu könne der Torsionsstab mit einem in axialer Richtung sich erstreckenden Fortsatz ausgestattet sein, an welcher der Rotor gelagert sei (MV5 Sp. 2 Z. 38-43; ebenso Patentschrift Abs. 13 Z. 37-43).
Rz. 45
Hieraus ergibt sich, dass dem Fortsatz eine eigenständige Funktion zukommt, die nicht nur in Verbindung mit einem Torsionsstab oder einem sonstigen Lastbegrenzer verwirklicht werden kann, sondern auch mit anderen Bauteilen.
Rz. 46
c) Dieses Verständnis steht in Einklang mit der Funktion, die den beiden Elementen bei den Ausführungsbeispielen zukommt.
Rz. 47
Wie die Beklagte zutreffend darlegt, ist der axiale Fortsatz bei diesen Beispielen zwar an einem Torsionsstab angebracht. Er hat aber keinen Einfluss auf dessen lastbegrenzende Wirkung. Umgekehrt hat die lastbegrenzende Funktion des Torsionsstabs keinen erkennbaren Einfluss auf die Lagerfunktion des Fortsatzes.
Rz. 48
IV. Das angefochtene Urteil erweist sich nicht aus anderen Gründen als im Ergebnis zutreffend (§ 119 Abs. 1 PatG).
Rz. 49
1. Der Gegenstand von Patentanspruch 1 geht nicht aus anderen Gründen über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Unterlagen hinaus.
Rz. 50
a) Ob der Gegenstand von Patentanspruch 1 dann über den Inhalt der Anmeldung hinausginge, wenn dem in Merkmal 6a vorgesehenen Fortsatz keine Funktion zukäme, kann dahingestellt bleiben.
Rz. 51
Wie oben dargelegt wurde, hat der Fortsatz zwingend die Funktion als Lager des Rotors.
Rz. 52
b) Entgegen der Auffassung der Klägerin ist der Anmeldung nicht zu entnehmen, dass der Gurtaufroller zwingend einen Torsionsstab oder Lastbegrenzer aufweisen muss, an dem der Fortsatz ausgebildet ist.
Rz. 53
Ein Torsionsstab wird in der Anmeldung als vorteilhafte Ausführungsform eines Lastbegrenzers dargestellt (Sp. 2 Z. 14-18). Daraus ist zu entnehmen, dass jedenfalls auch andere Elemente zur Lastbegrenzung eingesetzt werden können.
Rz. 54
Unabhängig davon lässt die Anmeldung hinreichend deutlich erkennen, dass sie das Vorhandensein eines Lastbegrenzers zwar voraussetzt, die als vorteilhaft geschilderte und in Merkmal 6a zwingend vorgesehene Möglichkeit, einen Fortsatz eines ohnehin vorhandenen Bauteils als Lager für den Rotor einzusetzen, damit aber nicht zwingend in funktionellem Zusammenhang stehen.
Rz. 55
c) Entgegen der Auffassung der Klägerin ist Merkmal 7a in der Anmeldung als zur Erfindung gehörend offenbart.
Rz. 56
aa) In den Erläuterungen zu dem in Figur 2 dargestellten Ausführungsbeispiel wird ausgeführt, die Kupplung (14) sei zwischen der Gurtspule (4) und dem Planetenträger (11) vorgesehen (MV5 Sp. 5 Z. 7-9).
Rz. 57
Hieraus ergibt sich hinreichend deutlich, dass die Kupplung zwischen Gurtspule (4) und Rotor (2) angeordnet ist, weil die der Kupplung zugewandte Seite des Planetenträgers (11) im Wesentlichen in derselben Ebene liegt wie die der Kupplung zugewandte Seite des Rotors (2).
Rz. 58
Entgegen der Auffassung der Klägerin steht die Darstellung in Figur 2 nicht deshalb in Widerspruch zu den oben wiedergegebenen Erläuterungen, weil die Kupplung (14) am rechten Rand der Gurtspule (4) angeordnet ist und einen Rumpfflansch (28) umfasst, der einstückig mit der Gurtspule (4) ausgebildet ist. Dem Zusammenhang zwischen Beschreibung und zeichnerischer Darstellung ist vielmehr zu entnehmen, dass die Kupplung auch unter diesen Voraussetzungen noch zwischen Gurtspule (4) und Planetenträger (11) angeordnet ist.
Rz. 59
bb) Entgegen der Auffassung der Klägerin ist der Anmeldung nicht zu entnehmen, dass die in Figur 2 dargestellte Anordnung der Kupplung den Einsatz eines Planetengetriebes erfordert.
Rz. 60
Ein Planetengetriebe wird in der Anmeldung zwar als vorteilhaft dargestellt, nicht aber als zwingend erforderlich (Sp. 1 Z. 42-45).
Rz. 61
Vor diesem Hintergrund ist den Ausführungen zur Anordnung der Kupplung in Figur 2 nicht zu entnehmen, dass diese nur bei Einsatz eines Planetengetriebes in Betracht kommt oder sinnvoll ist.
Rz. 62
cc) Entgegen der Auffassung der Klägerin ist die in Merkmal 7a vorgesehene Anordnung der Kupplung in den ursprünglich eingereichten Unterlagen auch für den Fall als zur Erfindung gehörend offenbart, dass die Kupplung ein Drehmoment zum Zwecke der Vorstraffung in einer Unfallvorstufe überträgt.
Rz. 63
Bereits in der Anmeldung wird ausgeführt, dass zu den zusätzlich verwirklichbaren Funktionen eine Gurtvorstraffung gehört, die durch einen Pre-Crash-Sensor oder eine Notbremsung ausgelöst werden kann (Sp. 1 Z. 66 bis Sp. 2 Z. 3). Hierzu könne beispielsweise die Triebfeder auf Block gewickelt und das weitergehende Drehmoment über die Feder auf die Gurtspule zum Vorstraffen des Gurts übertragen werden. Es sei auch möglich, diese Drehbewegung über eine eingerückte Kupplung auf die Gurtspule zu übertragen (Sp. 2 Z. 8-13).
Rz. 64
Zwei mögliche Ausführungsformen für solche Kupplungen werden in Zusammenhang mit den in den Figuren 2 und 4 dargestellten Ausführungsbeispielen geschildert. Im Zusammenhang mit Figur 4 wird nochmals ausdrücklich ausgeführt, die Kupplung könne ein für die Vorstraffung erforderliches Drehmoment auf die Wickelwelle übertragen (Sp. 5 Z. 64 bis Sp. 6 Z. 6).
Rz. 65
Diese Ausführungen reichen jedenfalls in ihrer Gesamtheit für die ursprüngliche Offenbarung eines Einsatzes der Kupplung zum Zwecke der Vorstraffung aus.
Rz. 66
Vor diesem Hintergrund ist unerheblich, ob die beiden früheren Anmeldungen, die im Zusammenhang mit den Figuren 2 und 4 erwähnt werden, Kupplungen zeigen, die für diese Zwecke geeignet sind. Selbst wenn dies zu verneinen wäre, ergäbe sich daraus nicht, dass die in den Figuren 2 und 4 schematisch dargestellten Kupplungen abweichend von der Beschreibung nicht zur Vorstraffung eingesetzt werden können.
Rz. 67
d) Merkmal 7b ist in der Anmeldung ebenfalls als zur Erfindung gehörend offenbart.
Rz. 68
Wie der Senat bereits im ersten Nichtigkeitsverfahren ausgeführt hat, sind die in den beiden Ausführungsbeispielen gemäß den Figuren 2 und 4 eingesetzten Kupplungen schaltbar im Sinne von Merkmal 7b. Dies reicht zur ursprünglichen Offenbarung aus.
Rz. 69
Dass Merkmal 7b weitere Arten der Schaltung oder eine Schaltung in anderen Betriebszuständen nicht zwingend ausschließt, führt nicht zu einer abweichenden Beurteilung. Solche Ausgestaltungen werden auch in der Anmeldung nicht zwingend ausgeschlossen.
Rz. 70
2. Der Gegenstand von Patentanspruch 1 ist patentfähig.
Rz. 71
a) Wie der Senat bereits im ersten Nichtigkeitsverfahren ausgeführt hat, nimmt D3 den Gegenstand von Patentanspruch 1 nicht vorweg.
Rz. 72
Die hiergegen gerichteten Einwände der Klägerin führen nicht zu einer abweichenden Beurteilung.
Rz. 73
Die Klägerin macht unter Bezugnahme auf die nachfolgend wiedergegebene Figur 2 geltend, entgegen der Auffassung des Senats könnten nicht nur die Zahnräder (12) und (13) als Rotor im Sinne von Merkmal 6 angesehen werden, sondern auch das Stellglied (10).
Rz. 74
Nach der Beschreibung von D3 ist das Stellglied (10) mit einer Wellenverlängerung (15) der Motorwelle (11) verbunden und so ausgelegt, dass ein äußerer Einhängepunkt (16) der Triebfeder (9) durch Drehung um die Achse der Wickelwelle (19) bzw. des Federherzens (17) in seiner Lage verstellt werden kann (Sp. 4 Z. 38-43). Hierdurch kann die Aufroll- bzw. Rückzugskraft eingestellt werden (Sp. 5 Z. 63 bis Sp. 6 Z. 27).
Rz. 75
Danach spricht viel dafür, dass das Stellglied (10) die Merkmale 6, 6a und 6b aufweist. Eine schaltbare Kupplung im Sinne der Merkmalsgruppe 7 ist aber nicht zwischen dem Stellglied und der Gurtspule angeordnet, sondern, wie der Senat im ersten Nichtigkeitsverfahren näher dargelegt hat, auf der anderen Seite der Gurtspule.
Rz. 76
b) D13 nimmt den Gegenstand von Patentanspruch 1 ebenfalls nicht vorweg.
Rz. 77
Die Klägerin macht geltend, entgegen der Beurteilung des Senats im ersten Nichtigkeitsverfahren werde der Motor (58) nicht nur nach dem Lösen des Gurts aktiv. Vielmehr offenbare D13 auch eine Ausführungsform, bei der der Motor im Vorfeld eines Unfalls starte und das äußere Ende der Feder (26) sogleich nachspanne.
Rz. 78
Dies vermag schon deshalb nicht zu einer abweichenden Beurteilung zu führen, weil nur die Feder (20) als Triebfeder im Sinne von Merkmal 3 anzusehen ist, eine Einwirkung auf die Feder (26) zur Offenbarung der Merkmale 5 und 6b mithin nicht ausreicht. Auch dies hat der Senat bereits im ersten Nichtigkeitsurteil dargelegt.
Rz. 79
In diesem Zusammenhang ist unerheblich, ob Merkmal 6b eine ständige Verbindung zwischen Rotor und Triebfeder erfordert. Der Senat hat die Feder (26) deshalb nicht als Triebfeder im Sinne des Streitpatents angesehen, weil sie nicht das Merkmal 3 erfüllt. Diese Beurteilung erweist sich auch im Lichte des Vorbringens der Klägerin weiterhin als zutreffend.
Rz. 80
c) Der Gegenstand von Patentanspruch 1 ist ausgehend von D3 nicht nahegelegt.
Rz. 81
Der Senat hat bereits im ersten Nichtigkeitsverfahren ausgeführt, weshalb kein Anlass bestand, den in D3 offenbarten Gurtaufroller in Richtung auf das Streitpatent umzugestalten.
Rz. 82
Mit ihren hiergegen vorgetragenen Argumenten zeigt die Klägerin keinen Gesichtspunkt auf, der eine abweichende Beurteilung nahelegen könnte.
Rz. 83
In diesem Zusammenhang kann offenbleiben, ob Anlass bestand, die auf möglichst hohen Komfort ausgerichtete Konstruktion aus D3 in einzelnen Punkten zu vereinfachen. Der von der Klägerin als naheliegend erachtete Ersatz der Lamellenkupplung durch einen Torsionsstab hätte auch nach dem Vorbringen der Klägerin eine grundlegende Änderung der Konstruktion erfordert. Jedenfalls dafür bestand keine Veranlassung.
Rz. 84
d) Aus einer Kombination von D4 mit D3 ergaben sich keine weitergehenden Anregungen.
Rz. 85
D4 offenbart einen Gurtaufroller mit einer Leistungsstraffung im Falle eines Unfalls, welche gemäß dem Hinweis auf die deutsche Patentschrift 196 21 772 (D17) mittels eines pyrotechnischen Antriebs angetrieben wird (Sp. 2 Z. 57-59).
Rz. 86
Für den Fachmann bestand keine Anregung, diesen Antrieb durch einen Elektromotor zu ersetzen, mit dem nicht nur eine Leistungsstraffung, sondern auch eine Vorstraffung realisiert werden kann.
Rz. 87
Eine solche Anregung ergab sich entgegen dem Vorbringen der Klägerin auch nicht aus D3. Dort ist der Elektromotor zwar sowohl für eine Vorstraffung als auch für eine Leistungsstraffung vorgesehen (Sp. 3 Z. 12-53). Wie die Beklagte zu Recht geltend macht, ist dieser Motor aber in eine aufwendige und komplexe Anordnung eingebunden. Eine Anregung, von diesem Konzept abzurücken und ausschließlich den in D3 offenbarten Elektromotor auf die in D4 offenbarte Vorrichtung zu übertragen, ergab sich daraus nicht.
Rz. 88
V. Die Sache ist zur Endentscheidung reif (§ 119 Abs. 5 Satz 2 PatG).
Rz. 89
Der angegriffene Gegenstand erweist sich aus den oben dargelegten Gründen als rechtsbeständig. Die Klage ist deshalb vollen Umfangs abzuweisen.
Rz. 90
VI. Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 PatG sowie § 91 Abs. 1 und § 516 Abs. 3 Satz 1 ZPO.
Bacher |
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Hoffmann |
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Deichfuß |
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Kober-Dehm |
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Crummenerl |
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Fundstellen
Dokument-Index HI15521896 |